Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 17 Bad Hersfeld, Stiftsbereich, Katharinenturm 1040–1059

Beschreibung

Herstellungsinschrift auf der sogenannten Lullusglocke. Die Glocke hängt im Katharinenturm, der freistehend auf der Ostseite der Abteikirche errichtet wurde. Obwohl einem Campanile gleichend und später auch so genutzt, steht nicht fest, ob dieser eigentlich zu niedrige Turm ursprünglich als Glockenturm diente: Deshalb hing die älteste Glocke zunächst auf dem Vierungsturm der Klosterkirche, von dem sie am Ende des 16. Jahrhunderts auf den Katharinenturm übertragen wurde, weil der Hauptturm der Klosterkirche baufällig war.1) Die eingetiefte Inschrift läuft auf der Schulter der bienenkorbförmigen Glocke zwischen Stegen um. Das Schriftband weist zahlreiche Gußfehler auf, die zu erheblichen Problemen bei der Lesung des Textes führen.2)

Maße: H. 108, Dm. 112, Bu. 2,5–3 cm, Gewicht 1060 kg3).

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Brunhild Escherich) [1/18]

  1. MEGINHARI(VS)a) FVDIT TI[TVLVM]b) INDIDIT [AE]RIc)NEAT MERCE SYGWENON HOC VAS ABBATINO(MI)NE N(OSTRO) SELLA M(ARTY)RIS BAB(TISTAE)P(ER)PES (COMM)ANEd) DEO M[E]RENDAe) D(ICATA)f)

Übersetzung:

Meginhar (Meginher) dichtete die Inschrift und übergab sie dem Erz. Sygwenon soll für Lohn dieses Gefäß für den Abt machen. Bleibe mit unserem Namen, verdienenswerter Sitz des Märtyrers und Täufers, Gott beständig verbunden und geweiht.

Versmaß: Vier Hexameter.

Kommentar

Die Inschrift, eine der ältesten erhaltenen auf Glocken überhaupt, ist in einer reinen Kapitalis in Scriptura continua ausgeführt. Das A ist spitz, die Bögen des B sind flach, der Mittelteil des M reicht bis zur Zeilenmitte oder etwas darunter, das O ist stets kleiner als die übrigen Buchstaben, die Cauda des R ist gerade und das Y ist retrograd. Die Buchstaben sind gleichstrichig und ohne Sporen gebildet. Unzialbuchstaben fehlen. Damit passen die Buchstaben ohne weiteres in die Mitte des 11. Jahrhunderts und gehören einem konservativen Entwicklungsstrang der romanischen Majuskel an, der sich noch stark an der karolingischen Kapitalis orientierte und weitgehend auf Unzialbuchstaben verzichtete. Unter dem in der Inschrift genannten Meginher, der 1036 zum Abt gewählt wurde, brannte 1038 die Klosterkirche ab.4) Im Jahr 1040 wurde die Krypta der Kirche wieder eingeweiht, und in demselben Jahr sollen die Bischöfe von Magdeburg, Naumburg und Merseburg die wiederhergestellte Kirche geweiht haben.5) Der Guß der Glocke dürfte somit zwischen 1040 und dem Tod Meginhers 1059 erfolgt sein. Die Lesung bei Schlippe/Schlippe führte zu einer nicht haltbaren Datierung des Gusses auf den Johannistag 1038 (24. Juni 1038) und zu ebenfalls nicht haltbaren Umdatierungen des Abbatiats Meginhers sowie zu Annahmen von Bauplanungen oder gar von vor dem Brand begonnenen Umbauten.6)

Die Inschrift ist bisher ohne befriedigendes Ergebnis gedeutet worden. Ein grundsätzliches Problem bei dem Guß der Glocke bestand darin, daß der relativ lange Text in ein einzeiliges Schriftband gezwängt wurde, was an einigen Stellen erhebliche Wortkürzungen erforderte, ohne daß dabei schulmäßige Kürzungen benutzt wurden. Dies beeinträchtigte die Eindeutigkeit des Textes. Die älteren Lesungen sind deshalb wahllos von Kürzungen ausgegangen, ohne sich auf den vorhandenen und eindeutig lesbaren Buchstabenbestand zu konzentrieren.7) Eine ausführliche Kommentierung der älteren Lesungen ist bereits von Fritz Hugo Schlippe und Wolfgang Schlippe vorgelegt worden und soll hier nicht noch einmal wiederholt werden. Sie machten deutlich, daß der Buchstabenbestand in den älteren Lesungen zum Teil willkürlich vermehrt und Kürzungen konstruiert wurden, für die es keinerlei Parallele gibt.8) Ihre eigene Lesung bietet sich dafür an, die Probleme im Umgang mit dem Text deutlich zu machen. Von MEGINHARI(VS) bis SYGWENON sind die Buchstaben mit Ausnahme der beim Guß zerstörten Stelle hinter TI und dem unklaren Befund [AE]RI eindeutig zu lesen: FVDIT TI[TVLVM] INDIDIT [AE]RI NEAT MERCE SYGWENON. Bei Schlippe wird daraus: FVDIT (ME) (C)ONDIDIT TRINITATI VERAE I(VS)SV GWENON. Selbst wenn man die Buchstaben anders kombiniert als in meiner Lesung und von weiteren Kürzungen ausgeht, kann man nicht zu der Lesung der beiden Schlippe gelangen. Zudem ergibt die hier vorgelegte Lesung immerhin vier Hexameter und somit ein Versmaß, das im 11. Jahrhundert bei einer solchen Inschrift unbedingt zu erwarten ist. Dabei stellt sich allerdings das Problem, daß bei den Wörtern NEAT, MARTYRIS, DEO und MERENDA jeweils von prosodischen Fehlern ausgegangen werden muß, da sie sonst nicht ins Versmaß passen.9) Der Sinn der beiden letzten Hexameter bleibt zudem dunkel. Am ehesten lassen sie sich so verstehen, daß die Glocke Johannes dem Täufer geweiht war, der in der Kirche auch einen Altar erhalten hatte.

Die Zählung von Einzelbuchstaben und „Buchstabenbündeln“ soll die Zahl 84 ergeben und somit eine Beziehung zum Himmelsgewölbe, zu Tierkreiszeichen, Planeten und Mondjahr.10) Anscheinend suchte man Beziehungen des (mathematischen) Produkts 12x7, ohne zu erkennen, daß mindestens 90 Zeichen bzw. Buchstaben vorhanden sind.

Textkritischer Apparat

  1. VS-Kürzung in Form eines kleinen o.
  2. Die Stelle ist durch einen Gußfehler verdorben.
  3. Zu sehen ist ein A ohne Mittelbalken, an dessen Spitze eine kleine nach rechts geschwungene Cauda ansetzt.
  4. Die Kürzung sieht aus wie ein kleines hochgestelltes D.
  5. Der zweite Buchstabe ist aufgrund eines Gußfehlers nicht klar zu erkennen.
  6. Das hier vorgesehene letzte Wort wurde offenbar aus Raummangel auf einen Buchstaben reduziert, dessen Bedeutung durch äußere Faktoren nicht vorgegeben ist.

Anmerkungen

  1. Vgl. Dehio, Hessen I (2008) 59, ausführlich, Kempe, Glocken 17.
  2. Ich danke Dr. Rüdiger Fuchs, PD Dr. Michael Oberweis und Brunhild Escherich (alle Mainz) herzlich für die Hilfe bei der Aufnahme der Glocke sowie für intensive Diskussionen über die Textherstellung.
  3. So nach Schaake, Lullusglocke 95.
  4. Wehlt, Reichsabtei 180–182.
  5. Lampert, Annales a. 1040 (Holder-Egger 56); Lampert, Libellum de institutione Herveldensis ecclesiae (Holder-Egger 351 f.).
  6. So aufgrund phantasievoller Lesung bei Schlippe/Schlippe, Zeugnis 80 f.
  7. Vgl. die älteren Lesungen: oNHo LVL(LV)S ABBAT(IAE) + MOENENS(IS) EL(EC)T(VS) A(RCHI)M(AND)RI(TA) FILIAM ISTAM CONDIDIT D(OMINVS) MEGINHARI(VS) FVDIT o S(ANCTA) BARB(A)RE o DA NE DEO MERENDA XR(IST)E NE AET(ERNA) MERCES YS (DESIT) (A)MEN Schmidt bei Schönermark; NHoLVNABBATIN oNENSELLANNKIs / BABP(E?) PEs DANEDE OMEREN DAD / MEGINHARIO / FVDIT TI5I IN DIDIT / AzRI NE AT MERCES VG WENo Demme; Hoffmann/Zölffel, Beiträge gibt an, nur die Worte MEGINHARI FUDIT seien klar lesbar; JNDIDIT ARI NEATME RSESYGWEN o NH o CVASABBATIN o AENSELLAMRI BAB o FPE 50 ANEDEOMERENDAD MEGINHARI o FVDIT 351 Ditzel; + BABTISTES ANEDI COMMENDAT EVANGELVS INRI MAYNHARIVS FVNDAT ME CONDIDIT AST LINEAT (RENOVAT?) ME FRATER SYGWINVS IN HOC VAS ARTE LATINVS Burckhardt; RE(VERE)ND(VS) A(BBAS) D(OMINVS) + MEGINHARI(VS) FVDIT TI(TVLVM) SA(LVA)TOR(IS) INDIDIT IT(ER)ARI ME AC ME(LIO)R(EM) F(ECIT) SYGWEN(VS) (I)N HO(NOREM) C(ONVEN)TVS ABBATI(AE) NO(STRAE) NE(C)N(ON) S(ANCTAE) ECC(LESIA)E M(A)R(IAE) I(OHANNI)S BAB(TISTA)E PETR(I) AND(REA)E OM(NIVM) A(LIORVM) Hörle; FVDIT (ME) (C)ONDIDIT TRINITATI VERAE I(VS)SV / GWENON HOC VAS ABBATI NONENSE II (= SECVNDI) ANNI / IS BAPT(IS)T(A)E MANE DEO MARENDA D. MEGINHARIO Schlippe/Schlippe; die Zitate von Schönermark, Ditzel und Burckhardt sind nach Schlippe/Schlippe wiedergegeben.
  8. Schlippe/Schlippe 39–49.
  9. Immerhin gilt Abt Meginher als Mann von großer Gelehrsamkeit und jener Leiter der Klosterschule, deren Ruf nach dem Zeugnis Lamperts weit reichte, vgl. auch Ziegler, Mitra und Krummstab 10 f.
  10. So Burckhardt und nach ihm Schlippe/Schlippe sowie May, Hersfelder Inschriften 27.

Nachweise

  1. Schmidt bei Schönermark, Lullusglocke 395.
  2. Demme, Nachrichten I 5, Anm. 4.
  3. Ditzel, Älteste Glocke 160.
  4. Burckhardt, Inschrift 369 und 372.
  5. Hörle, Hersfelder Inschriften (vor 1513) 134.
  6. Schlippe/Schlippe, Zwei Glockeninschriften 50 und Umzeichnung.
  7. Schlippe/Schlippe, Zeugnis 83 u. 80 (Umzeichnung).

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 17 (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0001703.