Inschriftenkatalog: Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 91: Hersfeld-Rotenburg (2015)

Nr. 6(†) Bad Hersfeld, Museum, aus Stiftskirche/Stiftsruine 10. Jh.

Beschreibung

Buchstaben auf Putzfragmenten (Inventar-Nr. 69/63). Bei den 1955 und vornehmlich 1963 im Klosterareal erfolgten Grabungen wurden Fundamente freigelegt, welche die Ausgräber einer Kirche zuordneten.1) Deren südliche Pastophorie war nachträglich verkürzt worden, indem westlich ihrer ursprünglichen Apsis eine neue errichtet worden war. Innerhalb des verkleinerten Raumes entdeckte man einen jüngeren Estrich „über dem von durchgetretener Erde und Brand dunkel gefärbten älteren. Letzterer lag zwischen beiden Apsiden frei. In ihm fanden sich im Brandschutt Mörtelbrocken mit mehrfarbigen Malereiresten, karolingischen Schriftzeichen und vielen ausgeglühten rotgefärbten Nägeln“.2) Gefunden wurden neben Architekturmalerei mehrere kleine weiße Putzfragmente, auf die in roter Farbe Buchstaben von ca. 4,5 cm Größe zwischen dünnen Linien aufgemalt sind. Kein Buchstabe ist vollständig erhalten, doch können etliche Buchstaben sicher rekonstruiert werden (A–D).3) Zwei Jahre nach den wichtigsten Funden veröffentlichte May eine Rekonstruktionszeichnung, der eine Zusammenfügung von vielen Fragmenten zugrundelag; diese ergeben nicht zwingend verläßliche Silben oder gar Wörter, doch zeigen verschiedene Buchstaben genügend Details, um eine grobe Datierung vornehmen zu können. Die Inschriftenteile (A) und (B) würden demnach auf einer Zeile stehen und ebenso die Teile (C) und (D), was aber nicht zwingend ist.

Maße: Bu. ca. 4,5 cm.

Schriftart(en): Kapitalis, nachkarolingische.

© Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz; Museum der Stadt Hersfeld (Thomas Wiegand, Kassel) [1/4]

  1. A

    [P]Aa)

  2. B

    SELIb)

  3. C

    [I]Vc)

  4. D

    OSc)

Kommentar

Die Putzfragmente spielen für die Datierung des ergrabenen Gebäudes eine wesentliche Rolle. Nach Günther Binding ist die spätere Apsis als Notapsis zu deuten, die nach einer Brandzerstörung mit dem neuen Estrich angelegt wurde, um einen provisorischen Kirchenraum herzustellen.4) Feldtkeller und Binding rekonstruierten aus den dürftigen Grabungsbefunden eine dreischiffige Kirche ohne Querhaus mit den Chor begleitenden Seitenkapellen und einer westlichen Vorhalle.5) Diesen als Kirche X beziehungsweise Kirche III bezeichneten Bau setzten sie mit der 850 von Hrabanus Maurus geweihten Kirche gleich.6) Ein Argument für die Datierung des Baus in karolingische Zeit bildeten die im Brandschutt unter dem jüngeren Estrich aufgefundenen Putzfragmente mit Buchstaben, die Feldtkeller als karolingisch klassifizierte.7) Binding beschrieb die Buchstaben als unziale Majuskelschrift, „deren Schrifttyp den Grabinschriften gleicht, die in Kirche IV als Spolien vermauert sind“, und sah diese Inschriften als karolingisch an.8)

Die Kapitalis zeigt A mit deutlicher Linksschrägenverstärkung, aber ohne ausgeprägte Spitze, ein unziales E mit kräftiger Bogenverstärkung und weit ausgezogenen Sporen an den Balkenenden, ein L, über dessen Balken ein I gestellt ist, und ein V, das wie das A mit deutlicher Linksschrägenverstärkung gebildet ist. Das O verfügt sogar über eine linksschräge Schattenachse. Zudem weist ein Putzstück einen Schaft mit einem rechts ansetzenden Bogen auf, wobei es sich um ein P handeln dürfte. Bei der derzeitigen Zusammenfügung der Putzfragmente wäre der Schaft dieses P jedoch rechtsschräg gestellt, was nicht sehr wahrscheinlich ist. Die Buchstabenformen sind eindeutig von der karolingischen Schriftreform beeinflußt, was sich vor allem an der Verwendung von Linksschrägen- und Bogenverstärkungen sowie der Schattenachse ablesen läßt. Die Schrift weist eine gute Ausführungsqualität auf, die deutlich über der Qualität der in den nachfolgenden Nummern behandelten Steininschriften liegt und mit der Auszeichnungskapitalis von Handschriften ersten Ranges vergleichbar ist.

Besonders auffällig sind das unziale E sowie das über den Balken des L gestellte I. Die wenigen gut datierbaren gemalten Inschriften des 8. und 9. Jahrhunderts nördlich der Alpen zeigen keine Mischung von unzialen und kapitalen Buchstaben und auch keine Buchstabeneinstellungen.9) Bei den in Stein gehauenen Inschriften lassen sich zwar bei einzelnen Inschriften bereits gegen Ende des 9. Jahrhunderts Unzialbuchstaben und Buchstabeneinstellungen nachweisen,10) doch kann insgesamt eine Zunahme der Verwendung von Unzialformen und Buchstabeneinstellungen erst ab der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts beobachtet werden.11) Dabei muß aber die geringe Materialdichte für das 9. und 10. Jahrhundert berücksichtigt werden, durch die möglicherweise ein falsches Bild der Entwicklung entsteht. Auch die dünnen, verhältnismäßig langen und beinahe rechtwinklig angesetzten Endstriche an den Schäften sind ein Phänomen eher des jüngeren 10. Jahrhunderts12), wo man sie auch mit dem oben beschriebenen A findet13).

Bei den am Vorbild der römischen Capitalis quadrata orientierten Auszeichnungsschriften in Handschriften erster Ordnung lassen sich nur in einzelnen frühen, um 800 entstandenen Handschriften Beispiele für die Verwendung unzialer Formen innerhalb der kapitalen Auszeichnungsschriften finden.14) Ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts häufen sich dagegen die Belege für die Verwendung von Buchstabeneinstellungen.15)

Insgesamt spricht der Befund also gegen eine Entstehung der Inschrift in hochkarolingischer Zeit, doch muß dies nicht zwangsläufig bedeuten, daß die von Feldtkeller und Binding ergrabenen Fundamente nicht zu einem Bauwerk aus dem 9. Jahrhundert gehören können. Möglicherweise wurde im 10. Jahrhundert auf älteres Mauerwerk eine neue Putzschicht oder zumindest ein neuer Malgrund aufgetragen, worauf dann eine neue Ausmalung erfolgte, wie es sich in der Sola-Basilika in Solnhofen nachweisen läßt.16) Davon unabhängig bleibt aber die Frage bestehen, ob es sich bei dem Bauwerk überhaupt um eine Kirche oder um ein anderes zur Abtei gehörendes Gebäude handelt.17) Bei der noch ausstehenden Diskussion dieser Frage wird man auch zu überlegen haben, welche anderen Gebäude des Klosters mit entsprechend aufwendigen Malereien ausgestattet gewesen sein könnten.

Textkritischer Apparat

  1. Das P ganz dicht am A. Raum für die Cauda eines R ist nicht vorhanden. Der Befund ist heute zwiespältig, da der Schaft des P rechtsschräg zu stehen scheint.
  2. So zusammengesetzt nur bei May, in Katalog Hessen und Thüringen gar nicht erwähnt, obwohl ELI abgebildet.
  3. In der Rekonstruktion bei May links davon plazierte Reste lassen sich nicht zuverlässig identifizieren, man weiß nicht einmal, ob ihre Position zu den Hilfslinien korrekt ist; sie gehören wohl nicht zu den benachbarten Buchstabengruppen.

Anmerkungen

  1. Feldtkeller, Karolingische Großkirche 7 ff.; Binding, Klosterkirche Hersfeld 192 und 199 f.
  2. Feldtkeller, Karolingische Großkirche 12.
  3. Im Ausstellungskatalog Hessen und Thüringen 115, Nr. 104 werden die Fragmente irrtümlich der Grabung von Rolf Gensen aus dem Jahr 1987 zugeordnet.
  4. Binding, Klosterkirche Hersfeld 194.
  5. Feldtkeller, Karolingische Großkirche 3 und 12; Binding, Klosterkirche Hersfeld 192.
  6. Feldtkeller, Karolingische Großkirche 17; Binding, Klosterkirche Hersfeld 199 f.
  7. Feldtkeller, Karolingische Großkirche 12 und 14.
  8. Binding, Klosterkirche Hersfeld 192 (Zitat) und 194; vgl. dazu jedoch Nr. 4.
  9. Siehe die Wandmalereiinschriften in der Ringkrypta von St. Emmeram bei Scholz, Gemalte monumentale Inschriften 36–38; die Wandmalereiinschriftenfragmente aus der Königspfalz Karls des Großen in Paderborn aus der Zeit um 800 bei Winkelmann, Capitalis Quadrata 171 f. und 176 sowie 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit 133–135, Nrr. III.17–III.19; zur paläographischen Datierung Scholz, Karolingische Buchstaben 105, Anm. 11.; die Wandmalereiinschrift in Goldbach am Bodensee (825–850) mit dem Text von Walafrid Strabo, vgl. Berschin, Voll Neid erhob Satan die Waffen 31; die Künstlerinschrift in der Stephanskrypta von Saint-Germain in Auxerre (um 860) und die gemalte Weiheinschrift in der St. Laurentius-Krypta in Saint-Germain in Auxerre (923) sowie ebendort die gemalten Inschriften der Epitaphien der Bischöfe Censurius und Alodius (Ende 9. – Anfang. 10. Jh.), vgl. CIFM 21, 42 f. Nr. 45 mit Abb. 6 sowie 45–50, Nrr. 48, 49, 50 mit Abb. 7–9; vgl. dazu auch Marilier/Roumailhac, Mille ans d'épigraphie 6, Nr. 4; 21 f., Nr. 23/1 mit Abb. 14; 8, Nr. 7/1 mit Abb. 4 sowie 19, Nr. 20/1 mit Abb. 13 sowie die Wandmalereiinschriften der Krypta von St. Maximin in Trier (zwischen 883 und 915) bei Exner, Fresken der Krypta von St. Maximin 43 f., 79 mit Abb. 9 u. DI 70 (Trier I) Nr. 35 mit Abb. 27.
  10. Scholz, Karolingische Inschrift 148 f.; zur Verwendung von Buchstabeneinstellungen vgl. auch CIFM 20, 15 f., Nr. 10 mit Abb. 7.
  11. Vgl. Koch, Inschriftenpaläographie 230 f.
  12. DI 70 (Trier I) Nrr. 52 und 53.
  13. DI 70 (Trier I) Nrr. 63 und 71. Hier ist zu beachten, daß die Nachzeichnung bei May an diesen Stellen serifenartige Ansätze aufweist und so einen Eindruck hochkarolingischer Buchstaben hervorruft.
  14. Bei diesen Handschriften, die eine noch unsichere Handhabung der an römischen Vorbildern orientierten Kapitalis zeigen, läßt sich vereinzelt die Verwendung von unzialem E feststellen, vgl. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 28561 bei Weiner, Initialornamentik 153 und Taf. 160 f. sowie Köln, Dombibliothek, Cod. 83 II, bei Stevens, Karolingische Renovatio 672, Abb. 5.
  15. Vgl. etwa Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 270, fol. 4b und München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14000, fol. 16b, in: Die karolingischen Miniaturen Bd. 5, 157 f. mit Taf. V,39 und 175 mit Taf. V,57.
  16. Vgl. Exner, Gemalte monumentale Inschriften 29 f.
  17. Diese Frage stellte zu Recht Lobbedey, Ausgrabungen 155, Anm. 178.

Nachweise

  1. Feldtkeller, Karolingische Großkirche 13, Abb. 16.
  2. May, Hersfelder Inschriften 24 (Abb. A–D).
  3. Hessen und Thüringen 115, Nr. 104 (Abb. von A–C).

Zitierhinweis:
DI 91, Hersfeld-Rotenburg, Nr. 6(†) (Sebastian Scholz und Rüdiger Fuchs), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di091mz14k0000606.