Inschriftenkatalog: Landkreis Bergstraße

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 38: Bergstraße (1994)

Nr. 3 Lorsch, Klosterkirche 2.H.9.Jh.

Beschreibung

Fragment eines Grabgedichts auf einer hochrechteckigen Platte aus rotem Sandstein, die heute an der Ostwand der ehemaligen Lorscher Klosterkirche aufgestellt ist. Der linke und der rechte Rand des Steins sind unbeschädigt geblieben, die erste Zeile der Inschrift ist fast ganz weggebrochen, die Zeilen 2-7 sind erhalten, und Zeile acht ist teilweise weggebrochen. Der Rest des Steins fehlt. Die vorhandene Platte war in zwei Teile zerbrochen und ist wieder zusammengefügt worden. Der Name des Verstorbenen ist nicht erhalten.

Maße: H. 49, B. 64, Bu. 4-4,5 cm.

Schriftart(en): Karolingische Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/1]

  1. HICa) [...]Ob) / NVLLO STOMACHAN/TE VENENO /BIS BINOS ANNOS / REXERAT HIC PVEROS /MORIBVS ET MONITIS / TRIBVENS PIAc) DOG/MA[TA C]VNCTIS /[...]d)

Übersetzung:

Hier [...], ohne sich über die Qual zu ärgern, hatte er zweimal zwei Jahre hier die Knaben geleitet und vermittelte allen durch seinen Lebenswandel und seine Ermahnungen die frommen Lehren ...

Versmaß: Leoninisches Distichon und leoninischer Hexameter.

Kommentar

Es handelt sich offenbar um die metrische Grabinschrift eines unbekannten Lorscher Klosterlehrers, von der das erste Distichon und ein Hexameter weitgehend erhalten sind.1) Die noch vorhandenen Verse sind leoninisch einsilbig rein gereimt, was seit der Mitte des 9. Jahrhunderts nicht völlig unüblich ist.2) Da am Schluß der ersten Zeile noch ein O zu erkennen ist, war auch der erste Hexameter leoninisch gereimt. Der sehr gesucht erscheinende Ausdruck NVLLO STOMACHANTE VENENO wurde vielleicht gewählt, damit die Schlußsilbe mit der gleichen Silbe in der Penthemimeres korrespondiert und so die Anforderungen des Leoniners erfüllt. Nach dem Beginn mit HIC ist nicht zu erwarten, daß in der fünften Silbe ein Dativ oder ein Ablativ auf O stand, dem dann sofort ein ablativus absolutus folgte. Vermutlich befand sich an dieser Stelle der Name des Verstorbenen, der im Nominativ auf O endete.

Die Inschrift ist in scriptura continua geschrieben. Bis auf F, Q und Z sind alle Buchstaben des lateinischen Alphabets in ihr enthalten. Ligaturen fehlen bis auf eine ungewöhnliche XE-Ligatur.3)

Auffällig ist das A, das oben nicht spitz, sondern trapezförmig ist. Die runden Formen von B, C, G, O und S zeigen eine sehr deutliche Anlehnung an die antike capitalis quadrata, wobei vor allem das G in C-Form mit einer senkrecht stehenden Cauda zu beachten ist. Die Verstärkungen der Bögen sind allerdings kaum ausgebildet. Dagegen ist die Linksschrägenverstärkung bei A, M, N und V sowie die Verdünnung in der Mitte der Balken des E deutlich ausgeprägt. Die Hastenenden der Buchstaben sind mit Dreieckssporen versehen. Das R mit der leicht gewellten Cauda und das P mit geschlossenem Bogen sind für die klassische Kapitalis untypisch.4) Insgesamt ist die Lorscher Inschrift nicht sehr sorgfältig gearbeitet, was sich an den ungleichmäßigen Buchstabenabständen und an der ungeraden Linienführung zeigt. Auffallend ähnliche Buchstabenformen zeigen das um 875 entstandene Epitaph des Diakons Gisoenus aus Lausanne sowie die Grabinschrift und das Epitaph des Bischofs Ansegisus von Genf, die um 880 gefertigt wurden.5)

Nach der Form der Buchstaben kann die Lorscher Inschrift der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts zugewiesen werden.6)

Textkritischer Apparat

  1. HIC ist eindeutig, obwohl nur noch der untere Teil der Buchstaben vorhanden ist, vgl. Behn 114.
  2. Nach HIC ist etwa in der Mitte des Steins der untere Balken mit dem Ansatz der Haste eines L oder E zu sehen sowie die untere Rundung eines O oder vielleicht eines S. Von dem O am Ende der Zeile ist die untere Rundung noch zu erkennen.
  3. Das I weist unten den Ansatz eines Balkens auf. Dabei scheint es sich jedoch um einen Steinmetzfehler zu handeln. Es ist auf jeden Fall PIA zu lesen.
  4. Zu erwarten ist mindestens noch ein Pentameter.

Anmerkungen

  1. Behn 115.
  2. K. Strecker, Studien zu karolingischen Dichtern, in: NA 44 (1922) 209-251, hier 230ff.
  3. Neumüllers-Klauser nimmt als Ursache für die Ligatur eine nachträgliche Korrektur durch den Steinmetzen an.
  4. Zum Verhältnis der karolingischen Kapitalis zur antiken capitalis quadrata vgl. Einleitung 5.1.
  5. CIMAH II Nr. 49 mit Taf. 23, Abb. 63-64; Nr. 50 u. Nr. 51 mit Taf. 24, Abb. 65-66.
  6. K. Bauer datiert die Inschrift ins „vorgerückte 9. Jh.“ (bei Behn 115). Gründe für diese Datierung werden dort nicht mitgeteilt.

Nachweise

  1. Behn, Karolingische Klosterkirche 114f.
  2. F. Knöpp, Die Bibliothek der Reichsabtei Lorsch, in: Beiträge zur Geschichte des Klosters Lorsch 227-246, hier 238.
  3. Neumüllers-Klauser, Corvey 131.

Zitierhinweis:
DI 38, Bergstraße, Nr. 3 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di038mz04k0000305.