Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 58: Stadt Hildesheim (2003)
Nr. 9 Dom 1015
Beschreibung
Zwei hochrechteckige Türflügel. Bronze. Sie sind nach innen gewandt auf eine Kupfertür im Portal des westlichen Paradieses im Dom montiert.1) Jeder Türflügel ist in acht Bildfelder eingeteilt: auf dem linken Flügel Szenen aus dem Alten Testament, auf dem rechten Darstellungen aus dem Neuen Testament. Die Bilderfolge auf der linken, alttestamentlichen Seite folgt dem Bibelbericht von oben nach unten, auf der neutestamentlichen Seite von unten nach oben.
Links: | Rechts: |
1. Erschaffung des Menschen | 8. Maria Magdalena und der Auferstandene |
2. Zuführung Evas | 7. Die drei Frauen am Grabe |
3. Sündenfall | 6. Kreuzestod |
4. Gericht Gottes | 5. Christus vor Pilatus |
5. Vertreibung aus dem Paradies | 4. Darbringung im Tempel |
6. Erdenleben Adams und Evas | 3. Die Heiligen Drei Könige |
7. Opfer Kains und Abels | 2. Geburt Christi |
8. Kains Brudermord | 1. Verkündigung |
Die Inschrift ist in der Mitte der Tür einzeilig auf einer breiten horizontalen Leiste angebracht, der erste Teil (bis FVSILES) auf dem linken, der zweite Teil auf dem rechten Flügel. Sie ist nach dem Guß eingehauen und in neuerer Zeit mit weißer Masse gefüllt worden.2) Dort, wo keine Worttrenner gesetzt worden sind, ist sie weitgehend in scriptura continua ausgeführt.
Maße: H.: 471 cm;3) B.: 112 cm (linker Flügel), 114 cm (rechter Flügel); Bu.: 3,5 cm.
Schriftart(en): Romanische Majuskel.
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AN(NO) DOM(INICE) INC(ARNATIONIS) Ma) · XV · B(ERNVVARDVS) · EP(ISCOPVS) · DIVEb) MEM(ORIE)c) · HAS VALVAS FVSILES // IN FACIE(M) ANGELICId) TE(M)PLI · OB MONIM(EN)T(VM)e) SVI FEC(IT) SVSPENDIf) ·
Übersetzung:
Im Jahr der Menschwerdung des Herrn 1015 ließ Bischof Bernward heiligen Angedenkens diese gegossenen Türflügel an der Vorderseite der Engelskirche zu seinem Gedächtnis aufhängen.
Textkritischer Apparat
- M mit übergeschriebenem Querstrich zur Kennzeichnung der Ordinalzahl.
- DIVE] E in V gestellt.
- MEM(ORIE)] Über beiden M ein Kürzungsstrich.
- ANGELICI] Erstes I in L gestellt, zweites I in C.
- MONIM(EN)T(VM)] N und I verschränkt.
- SVSPENDI] Vor DI eine leichte Vertiefung im Guß, daher ein größerer Abstand zwischen den Buchstaben N und D.
Anmerkungen
- Vgl. Ursula Mende: Die Bronzetüren des Mittelalters 800–1200. München 1983, S. 135f. mit Kurzbeschreibungen der einzelnen Darstellungen.
- Hans Drescher: Einige technische Beobachtungen zur Inschrift auf der Hildesheimer Bernwardstür. In: Bernwardinische Kunst, S. 71–75, hier S. 71.
- Maßangabe nach Mende (wie Anm. 1).
- So u. a. Kratz, Dom 2, S. 46f., der die Anbringung der Inschrift durch Bischof Hezilo erwägt; Berges datiert die Inschrift aufgrund einer sehr differenzierten Argumentation über den ursprünglichen Anbringungsort der Türen auf die Zeit um 1030, „in jedem Falle: 1022–1033“ (B/R, S. 116); Ernst Schubert (Stätten sächsischer Kaiser. Leipzig, Jena, Berlin 1990, S. 139f.) vermutet Bischof Godehard als Verfasser und Auftraggeber der Inschrift. – Die Formel divae memoriae begegnet zeitgenössisch mehrfach bei Gerbert von Reims. Sie bezieht sich dort immer auf bereits Tote, z. B. auf den gerade verstorbenen Erzbischof Adalbero von Reims sowie auf Kaiser Otto III., vgl. Die Briefsammlung Gerberts von Reims, bearbeitet von Fritz Weigle. Weimar 1966 (MGH Die Briefe der deutschen Kaiserzeit 2), Nr. 155 und Nr. 159.
- Vita Godehardi prior, hg. von Georg Heinrich Pertz. Hannover 1854 (MGH SS XI), S. 167–196, hier S. 195. Übersetzung: ‚Schließlich hat [Godehard] unser Hauptmünster [Dom], das im Westteil durch eine Krypta verdunkelt war, durchbrochen und die Türflügel, die Herr Bernward hatte gießen lassen, dort aufs schönste anbringen lassen, und vor diesen Türen begann er, ein entzückendes Paradies mit schönen Säulenhallen (?) und weiteren Türmen zu bauen.‘
- Drescher (wie Anm. 2), S. 71–75. Das zu diesem Artikel verfaßte Vorwort der Herausgeber interpretiert die Ergebnisse Dreschers etwas zugespitzt: „Für einen merklichen Abstand der Zeit zwischen Guß und Punzierung spricht nichts. Im Gegenteil. Drescher legt die Einheitlichkeit des Verfahrens dar. (...) Also ist die Inschrift 1015 entstanden, wie es auf ihr abzulesen ist.“ (S. 71).
- Text und Nachzeichnung siehe DI 2 (Mainz), Nr. 5.
- Dieter von der Nahmer: Die Inschrift auf der Bernwardstür in Hildesheim im Rahmen Bernwardinischer Texte. In: Bernwardinische Kunst, S. 51–70, hier S. 54.
- Text nach von den Steinen, Bernward von Hildesheim, S. 340 und 354.
- Hans Jakob Schuffels: Bischof Bernward von Hildesheim. In: Kat. Das Kostbare Evangeliar, S. 17, Anm. 45; s. a. Kat. Abglanz des Himmels, S. 72 (Jacobsen, Kosch).
- UB Stadt 1, Nr. 300 (8. Juli 1266). Die Empore im Westturm hieß „der Engelschor“, vgl. Bertram, Bistum 1, S. 356.
- So Schuffels (wie Anm. 10), S. 11; Michael Brandt: Der Einband. In: Kat. Das Kostbare Evangeliar, S. 57; zusammenfassend und mit einer sämtliche Quellen zusammenbringenden Rekonstruktion der baulichen Veränderungen im Westbereich des Doms: Kruse, Hildesheimer Dom, S. 109–112, S. 134f. Ein „Beweis am Bau selbst“ läßt sich für diese Rekonstruktion aufgrund der vielfältigen Störungen allerdings nicht mehr erbringen (ebd., S. 112).
- Bernhard Gallistl: Bernward of Hildesheim. A case of self-planned sainthood? In: The Invention of Saintliness, hg. von Anneke B. Mulder-Bakker. London, New York 2002 (Routledge Studies in Medieval Religion and Culture 2), S. 145–162, hier S. 152. Die von Gallistl als ancient liturgical formular angeführte Belegstelle aus dem Encomium Sancti Marciani Episcopi (AASS Juni Tomus 3 continentur dies XII–XV) lautet (S. 282, 12): spelunculam non jam illam sathanicam, sed templum sanctum et angelicum; non jam daemonum catervis plenam, sed Angelorum choris celebratam. Sie bezieht sich auf die Weihe einer Kirche, bei der ein ehemals von Teufeln und Dämonen besessener Ort in einen Heiligen- oder Engelstempel umgewandelt wird. Eine außerhalb dieses adversativen Kontexts gebräuchliche Bedeutung der Junktur templum angelicum im allgemeinen Sinne von „Kirche“ kann daraus nicht abgeleitet werden. Im übrigen handelt es sich bei dem genannten Encomium um einen erzählenden, nicht um einen liturgischen Text. Einen einzelnen weiteren Beleg für diese Junktur bietet der Kommentar des Petrus Lombardus zu Psalm 137. Dort ist zu der Bibelstelle I Cor. 3,17 Templum Dei sanctum est, quod estis vos von zwei Wohnsitzen Gottes (templum) die Rede: zum einen wohnt Gott in der Seele der Gerechten, zum anderen wohnt er in den Engeln. Darüber hinaus ist diese Junktur im Mittellateinischen kaum belegt: Die Sammlung des Mittellateinischen Wörterbuchs enthält nicht einen Nachweis zu templum angelicum. Für freundliche Auskunft danke ich Frau Dr. Adelheid Wellhausen, Mittellateinisches Wörterbuch, Bayerische Akademie der Wissenschaften, München.
- Bernhard Schütz: Zum ursprünglichen Anbringungsort der Bronzetür Bischof Bernwards von Hildesheim. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994), S. 569–599, hier S. 594.
Nachweise
- Letzner, Hildesheimische Chronik, 1. Buch, 1. Teil, Kap. 5, S. 41.
- Conrad Zacharias von Uffenbach: Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und Engelland. 1. Theil. Ulm und Memmingen 1753, S. 407.
- Kratz, Dom 2, S. 48.
- Mithoff, Kunstdenkmale, S. 101.
- Berges in B/R, Nr. 19, S. 111, Abb. Tafel 20, Nr. 1f.
- Kat. Bernward 2, S. 503, Abb. S. 505 u. S. 508f.
Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 9 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0000907.
Kommentar
Die Inschrift ist in einer Kapitalis mit sorgfältig konstruierten Dreieck- und Strichsporen ausgeführt. A mit gebrochenem Querbalken und nur nach links überstehendem Deckbalken. Die mittleren Hasten des M sind bis unter die Mitte herabgezogen, in MEMORIE sogar bis auf die Zeile. Als Sonderform ein eingerolltes G. Einzelne Enklaven und verschränkte Buchstaben.
Die Inschrift wird vielfach aufgrund der Formulierung DIVE MEMORIE ‚heiligen Angedenkens‘ nicht auf das in ihr genannte Datum 1015 datiert, sondern in die Zeit nach Bernwards Tod gesetzt.4) Ihre Entstehung wird mit der Umgestaltung der Dom-Westfassade und der Neuanordnung der Türflügel durch Godehard in den Jahren 1022 bis 1038 in Verbindung gebracht. Diese Veränderung am westlichen Paradies des Doms ist belegt in der zeitgenössischen Äußerung in Kapitel 37 der Vita Godehardi prior des Wolfhere: Postremo principale nostrum monasterium cripta quadam in occidentali parte obscuratum aperuit [scil. Godehardus]; et valvas, quas domnus Bernwardus conflare fecerat, ibidem pulcherrime composuit, et ante ipsas paradisum delectabile pulchris porticibus aliisque turribus inchoavit.5) Da hier nur vom Aufhängen der Türen gesprochen wird, nicht aber vom Anbringen einer Inschrift, kann die Quelle zur Datierung der Inschrift nur indirekt beitragen. Folglich bleibt als Anhaltspunkt für die Datierung in die Zeit nach Bernwards Tod allein die Formulierung DIVE MEMORIE. Eine gußtechnische Analyse der Tür, die auch die Ausführung der Inschrift mitberücksichtigt hat, konnte lediglich zeigen, daß die Inschrift in das fertige Stück an dem dafür vorgesehenen Platz eingemeißelt worden ist. Ob dies aber unmittelbar nach dem Guß, also noch zu Lebzeiten Bernwards, oder erst viel später geschehen ist, läßt sich nach wie vor nicht entscheiden.6) Auch die schriftgeschichtliche Untersuchung kann hier nicht weiterhelfen, da mit Hilfe der Buchstabenformen eine auf 15 Jahre genaue Datierung nicht zu leisten ist. Für sämtliche auf der Tür verwendeten Buchstaben lassen sich in den übrigen bernwardinischen Inschriften Parallelen finden. Auffällig sind die relativ häufig benutzten Enklaven. Sie könnten – wie im übrigen auch der Anbringungsort der Inschrift auf der Mittelleiste – mit dem Bernward sicher bekannten Vorbild der Mainzer Willigis-Tür von 1009 zu erklären sein, deren Stiftungsinschrift ebenfalls reich an eingestellten und ligierten Buchstaben ist.7)
Unter den in der Inschrift verwendeten Abkürzungen fällt besonders der als Initiale B mit darübergesetztem Querstrich suspensionsgekürzte Name B(ERNVVARDVS) ins Auge. Dazu hat von der Nahmer bemerkt, daß ein Nachfolger Bernwards, der dessen Gedenken mit der Anbringung der Inschrift bewahren wollte, den Namen wohl kaum mit einer solchen Abkürzung verborgen hätte.8) In den bernwardinischen Inschriften ist die Suspensionskürzung B mit darübergesetztem Querstrich für BERNVVARDVS noch einmal auf dem Grundstein von St. Michaelis von 1010 (Nr. 6) verwendet worden. Das B steht dort ebenfalls zusammen mit der hier verwendeten Abkürzung EP = EP(ISCOPVS). Die Überlegungen von der Nahmers wie auch die Übereinstimmungen mit der Grundsteininschrift von 1010 geben Anhaltspunkte dafür, daß Bernward selbst zu Lebzeiten die Inschrift zum Gebetsgedenken für die Zeit nach seinem Tode – DIVE MEMORIE ... OB MONIMENTVM SVI – anbringen ließ. Ein vergleichbares Bemühen um Gedächtnis findet sich in der Dotationsurkunde, in der Bernward seine Besitztümer an St. Michaelis überträgt: volebam videlicet beatae memoriae tradere tytulum nominis mei ecclesias struxisse9) ‚ich wollte dem seligen Gedächtnis als ehrenvolle „Verewigung“ meines Namens anvertrauen, daß ich Kirchen gebaut habe...‘. Damit erscheint nicht mehr ausgeschlossen, daß die Inschrift tatsächlich im Jahr 1015, zu Lebzeiten Bernwards, angebracht wurde.
Nicht nur die Datierung, auch der ursprüngliche Aufhängungsort der beiden Türflügel ist strittig. In der Inschrift heißt es, daß Bernward sie im Jahr 1015 IN FACIEM ANGELICI TEMPLI aufhängen ließ. IN FACIEM ist hier nach Berges’ eingehenden Studien (B/R, S. 115f.) wohl ‚an der Vorderseite‘ zu übersetzen. Für templum angelicum ‚Engelskirche‘ liegt die Beziehung auf die Michaeliskirche nahe, die unter dem speziellen Patrozinium des Erzengels Michael stand und allgemein der militia coelestis geweiht war (Berges in B/R, S. 113). Da aber der Bau der Michaeliskirche der bauhistorischen Forschung zufolge noch nicht so weit fortgeschritten war, daß man die Türen dort hätte aufhängen können,10) ist versucht worden, das templum angelicum mit einem im Westteil des Doms – allerdings erst seit dem 13. Jahrhundert – nachzuweisenden Engelchor11) gleichzusetzen und folglich den Westbau des Doms als ursprünglichen Anbringungs- und Bestimmungsort der Türen anzusehen.12) Gallistl13) hat darauf hingewiesen, daß die Angabe in faciem angelici templi nicht auf die konkret vorhandene Michaeliskirche zu beziehen sei, sondern auf ein älteres liturgisches Formular zurückgehe, das allgemein die Heiligkeit eines Gebäudes und seine Zugehörigkeit zur Welt der Engel ausdrücke. Folglich könne diese Angabe nicht dagegen sprechen, daß die Tür ursprünglich für den Dom bestimmt gewesen sei. Gegen eine solche metaphorische Interpretation allein der Ortsangabe ist allerdings einzuwenden, daß die gesamte Inschrift konkret als Stiftungsinschrift mit dem ausdrücklichen Bemühen um Gedächtnis (OB MONIMENTVM SVI) formuliert ist. Diese Wendung spricht sehr deutlich dafür, daß Bernward die Inschrift mit Blick auf eine Anbringung der Türflügel im unmittelbaren räumlichen Kontext seiner Grablege in St. Michaelis formuliert hat. Die Frage, ob sie dort tatsächlich gehangen haben, läßt sich mit Hilfe der Inschrift nicht lösen, sondern ist ein Problem der bauhistorischen Forschung. Schütz, der offenbar als einziger eine Anbringung in St. Michaelis in Erwägung zieht, vermutet als konkreten Ort das Westende des südlichen Seitenschiffs.14)