Inschriftenkatalog: Dom zu Halberstadt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 75: Halberstadt Dom (2009)

Nr. 176 Dom, Langhaus, Mittelschiff 1513

Beschreibung

Standbild des hl. Mauritius; im Langhaus am ersten nördlichen Pfeiler nach Süden; Sandstein, Reste einer Farbfassung. Auf einer auf der Pfeilerkonsole mit dem Stifterwappen ruhenden sechseckigen Konsole stehend der Heilige mit leicht negroiden Zügen, in vollem Harnisch, mit der Linken den auf dem Boden aufstehenden Schild haltend, die ehemals in der Rechten befindliche Lanze fehlt heute. Im Schild ober- und unterhalb der Wappenfigur als Devise der Antiphonanfang (A) eingehauen. An der Konsole der liturgische Text – bestehend aus Responsorium und Versikel – mit der anschließenden zweimaligen Jahreszahl und dem Stifternamen (B) des Domdekans Sebastian von Plotho (1511–1513), vierzeilig auf Plinthe und Kehle eingehauen; die Buchstaben größtenteils mit schwarzer Farbe nachgezogen.

Maße: H. ca. 200 cm (Konsole 55 cm), B. ca. 60 cm, Bu. 4 cm (A), 3–6 cm (B).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Hans Fuhrmann/Marion Gronemann) [1/5]

  1. A

    GLO(R)IOSA // THEBEORV(M)a) // MARTIRV(M)b) · CERTAMI(N)A1)

  2. B

    BEAT(VS)c) · MAVRICI(VS)d) / HAC · OR(ATI)O(N)Ee) · LEGIO(N)EMf) · / S(AN)CTAMg) · ALLOQVITVRh) / · GRATVLORi) · VIRTVTIj) · V(EST)RE / Q(VOD)k) · N(V)LLAMl) · VOBISm) · I(N)TVLITn) / CESARIS · PRE/CEPTV(M) · FORMIDINE(M) / · V(ERSICVLVS)o) · BENEDICT(VS)p) · DE(VS) (ET) P(ATE)R / · D(OMI)NI · N(OST)RI · IH(ES)Vq) · CHR(IST)Ir) / · QVI · TANTA(M)s) · VOB(IS) / ANIMI · CO(N)TV/LIT · CO(N)STA(N)CIA(M)t)2) / · 1 · 5 · 13u) / · M° · Vc XIII / SEBASTIANVSv) / · NOBILISw) / · DE · PLOTE

Übersetzung:

A: Die ruhmreichen Kämpfe der thebäischen Märtyrer. B: Der heilige Mauritius redet durch diese Ansprache die heilige Legion an: Ich beglückwünsche euch zu eurer Tapferkeit, weil euch der Befehl des Kaisers keine Furcht eingejagt hat. Versiculus: Gepriesen [sei] der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der euch so große Seelenkraft verliehen hat. Sebastian Edler von Plotho.

Versmaß: Hymnenvers (A).

Wappen:
Plotho3), Hl. Römisches Reich4).

Kommentar

Es handelt sich bei der Schrift um eine Frühhumanistische Kapitalis von außerordentlichem Formenreichtum. Neben für diese Schriftform typischen Buchstaben wie dem zweibogigen E, dem H mit nach unten ausgebuchtetem Balken und weiter auch in unzialer Form, I mit Halbnodus oder dem retrograden N, eingerolltem Q – teilweise mit geschwungener Cauda – finden sich eine Reihe außergewöhnlicher Buchstabenformen. So z. B. ein A mit vertikalem, nach links überstehendem und durchgebogenen Deckbalken, L mit stark nach rechts durchgebogenem Schaft, ein symmetrisches spitzes M und ein asymmetrisches rundes M. Erstaunlich groß ist auch die Anzahl über- und hochgestellter bzw. auch untergestellter Buchstaben. Die Kürzungszeichen werden neben der Grundform mit nach oben ausgebuchtetem Bügel variiert, so daß sie eine Spitze aufweisen oder gezackt sind. Als Worttrenner wurden Quadrangel und beidseitig ausgezogene und gegenläufig umgebogene Quadrangel, die auf Zeilenmitte gesetzt sind, verwendet.

Der Text, der auf die jüngere Passio des heiligen Mauritius zurückgeht5) und in der dort vorkommenden Form in die Liturgie des Stundengebets einging,6) entspricht einer in Halberstadt nachweisbaren Variante. Sie ist im Halberstädter Breviar, das 1515 von Jörg Stüchs in Nürnberg gedruckt wurde, wiedergegeben.7) Der Text bei der Skulptur wurde vermutlich aus der Vorgängerhandschrift aus dem 15. Jahrhundert so unreflektiert abgeschrieben, daß sogar das Kürzel, das im Brevier den Beginn des Versiculus kennzeichnet, eine Art V, das in der Literatur bisher immer mit VESTER aufgelöst worden war, in die Inschrift übernommen wurde.8) Das Responsorium wurde als sechstes während der zweiten Nocturn der Festliturgie gesungen. Sebastian Edler von Plotho, seit 1507 Domthesaurar von Magdeburg,9) hatte 1511 VII 1 den Eid als Halberstädter Dekan geleistet und ist als solcher bis in das Stiftungsjahr 1513 belegt.10) Der Zeitpunkt seiner Resignation muß zwischen 1513 X 9, als er zuletzt als Halberstädter Dekan urkundete, und 1514 I 21 gelegen haben, als er diesen Titel bei seinem eigenhändigen Eintrag in das Bruderschaftsbuch von S. Maria dell’Anima in Rom nicht mehr aufführte.11) Die Gründe für seinen Rücktritt sind nicht bekannt. Möglicherweise steht seine Stiftung der Skulptur des Magdeburger Patronatsheiligen damit im Zusammenhang.12) Vielleicht trat er zurück, weil er nun auch zur Würde eines Propstes von Merseburg gewählt worden war – in Merseburg leistete er seinen Eid allerdings erst am 16. September 1514 – und die beiden Ämter nicht miteinander vereinbar waren. Sebastian von Plotho starb 1558.13)

Textkritischer Apparat

  1. THEBEORVM] Das erste E verkleinert und über die Oberlinie gestellt.
  2. MARTIRVM] Das I unter den Balken des T gestellt.
  3. BEATVS] Das A verkleinert, die geschwungene VS-Kürzung über der Oberlinie.
  4. MAVRICIVS] Das V verkleinert und zwischen den Buchstaben A und R über die Oberlinie gestellt. Mauriicius Müller.
  5. ORATIONE] Der mit einem nach oben weisenden Bügel versehene Kürzungsstrich über die Oberlinie gesetzt.
  6. LEGIONEM] Das I verkleinert. Der mit einem nach oben weisenden Bügel versehene Kürzungsstrich über die Oberlinie gesetzt. Das M, dessen rechte Haste fehlt, ist vertikal gestellt.
  7. SANCTAM] Der vorangehende Worttrenner ist nach unten ausgezogen. Der mit einem nach oben weisenden Bügel versehene Kürzungsstrich für das N über die Oberlinie gesetzt. Der über das Wort gesetzte Winkel läßt sich höchstens als liturgische Anweisung verstehen.
  8. ALLOQVITVR] Das zweite L ist über den Balken des ersten gestellt, I und das zweite V sind verkleinert.
  9. GRATVLOR] A, V und O verkleinert, das anschließende Bogen-R ist über die Oberlinie gestellt; Grotulor Haber.
  10. VIRTVTI] I und V verkleinert, das erste T über das V gestellt.
  11. QVOD] Das Kürzungszeichen ist eine hochgestellte Wiederholung des vorangestellten eingerollten Q. Es folgt ein beidseitig ausgezogenes gegenläufig umgebogenes Quadrangel als Worttrenner.
  12. NVLLAM] Ein gezacktes Kürzungszeichen für V über der Oberlinie, das zweite L ist über den Balken des vorangehenden gestellt, das abschließende, asymmetrische gerundete M vertikal gestellt, den oberen Teil gegen das vorangehende A gekehrt. Es folgt ein beidseitig ausgezogenes und gegenläufig umgebogenes Quadrangel als Worttrenner.
  13. VOBIS] Das O ist verkleinert. Es folgt ein beidseitig ausgezogenes und gegenläufig umgebogenes Quadrangel als Worttrenner.
  14. INTVLIT] Der gezackte Kürzungsstrich für das N ist über die Oberlinie gestellt, V und I verkleinert und jeweils unter den Balken eines T gestellt. Dem ersten T fehlt der linke Balkenteil. Der rechte Balkenabschnitt des zweiten T ohne Farbauftrag.
  15. VERSICVLVS] Die Auflösung nach dem Responsorium der zweiten Nocturn des Mauritiusfestes im Breviarium Halberstadense 1515; vester Haber, Müller, Elis, Hermes, BKD. Vor dem Wort ein heute nicht eingefärbtes Quadrangel als Worttrenner.
  16. BENEDICTVS] I über die Oberlinie gesetzt, das T verkleinert.
  17. IHESV] Befund: IHV mit Kürzungszeichen.
  18. CHRISTI] Befund: XPI mit Kürzungszeichen.
  19. TANTAM] Der angesetzte linke Teil des Balkens des ersten T ohne Farbauftrag.
  20. CONSTANCIAM] Der letzte Kürzungsstrich ohne Farbauftrag.
  21. 1513] Nach der Wiederholung der Jahreszahl in römischen Zahlzeichen bleibt das folgende Schriftfeld leer. Der Stiftername ist in der folgenden Zeile zentriert gesetzt.
  22. SEBASTIANVS] Das zweite S unter die Grundlinie verlängert, I unter den Balken des T gestellt.
  23. NOBILIS] Folgt ein geschwungener Worttrenner.

Anmerkungen

  1. Vgl. Halle, Universitäts- und Landesbibliothek, 80 L 1050; Breviarium Halberstadense 1515, fol. CIIr.
  2. Vgl. ebd., fol. CIIIv.
  3. Quadriert, 1./4. in Silber eine rote Lilie, 2./3. in Rot ein silbern bekleideter, gold gekrönter Mohrenrumpf; vgl. Siebmacher Pr, S. 57 mit Taf. 73 f.; ebd., PrGfN, S. 17 mit Taf. 12; ebd., Anh, S. 44 mit Taf. 26; ebd., BraA, S. 68 f. mit Taf. 41.
  4. Ein golden bewehrter schwarzer Doppeladler (nach heutigen Tinkturen), vgl. Siebmacher Souv1, S. 5 mit Taf. 1; ebd., Souv2, S. 1–13 mit Taf. 1–18 mit teilweise abweichenden Tinkturen.
  5. Dupraz 1961, S. 10*.
  6. CAO Vol. III, Nr. 2979.
  7. Wie Anm. 1 und 2. Vgl. zu Jörg Stüchs und dem Druck des Breviars auch Fuhrmann 2002 a, S. 208 f.
  8. Halle, Universitäts- und Landesbibliothek, Za 42, Liber Horarum Canonicarum Ecclesie Halberstadensis (Pars aestivalis), fol. 218v. Vgl. zur Handschrift Herricht 1970, S. 27.
  9. GS Magdeburg Bd. 1, S. 381.
  10. LHASA Magdeburg, Rep. Cop. 104? (Kirsberger), fol. 597; ebd., Rep. Cop. Nr. 495 fol. 142v (1511 XI 3); ebd., Rep. U 5, XVII f, Nr. 138 f. (1512 VIII 15), IX, Nr. 228 (1512 X 15), XIII, Nr. 261 e (1513 X 9). Sebastian von Plotho wurde als Halberstädter Dekan von der Forschung noch nicht wahrgenommen.
  11. Schmidt 1892, S. 359; Liber confraternitatis, S. 43 Nr. 106; vgl. zu seiner Person GS Magdeburg Bd. 1, S. 381.
  12. Zum Mauritiuskult besonders zur Zeit Ernsts von Sachsen (1476–1513) und zur Funktion des Mauritius als Herrschaftszeichen vgl. Suckale-Redlefsen 1987, S. 82.
  13. Vgl. DI 11 (Stadt Merseburg), Nr. 50 mit Anm. 13 und 27.

Nachweise

  1. Haber 1739, S. 24.
  2. Müller 1795, S. 160.
  3. Elis 1857, S. 97.
  4. BKD, S. 264.
  5. Suckale-Redlefsen 1987 (nach BKD), S. 213 f. mit Abb. S. 135.

Zitierhinweis:
DI 75, Halberstadt Dom, Nr. 176 (Hans Fuhrmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di075l003k0017608.