Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 280 St. Nikolai 1611, 1678

Beschreibung

Kanzel. Sandstein, farbig gefasst, Marmor, Holz und Alabaster. Am fünften nördlichen Langhauspfeiler. 1678 renoviert und ergänzt. Im Zweiten Weltkrieg ausgelagert und beschädigt, bis 1954 erneut renoviert.1) Portal, Aufgang und Kanzelkorb sind dekoriert mit Beschlag- und Rollwerk sowie mit Blüten- und Fruchtgirlanden.2) Am Portal des Kanzelaufgangs Halbreliefs der Heiligen Petrus und Paulus, auf dem Portalaufsatz ein Relief des Sündenfalls. Auf dem Architrav über dem Türbogen Inschrift A. Ehemals an der Tür oder auf dem nicht mehr vorhandenen Portalaufsatz außen die Inschriften B, C und D,3) innen Inschrift E; die betreffenden Kanzelteile gingen während des Zweiten Weltkriegs verloren.4) Auf dem Architrav der Portal-Innenseite in zwei Zeilen die teilweise entstellend erneuerte Inschrift F. Das zugehörige Bildfeld darüber, auf dem der Barmherzige Samariter dargestellt war, ist heute leer.

Am Kanzelaufgang und am Kanzelkorb zehn Rundbogennischen mit Figurenreliefs aus Alabaster. Am Aufgang zunächst die Evangelisten mit den Beischriften G–J, über diesen Darstellungen K. Am Kanzelkorb sechs Szenen der Heilsgeschichte, die durch die Beischriften L und M sowie O–R erläutert werden: Verkündigung an Maria, Geburt Christi, die Kreuzigung mit dem Titulus N, Auferstehung, Himmelfahrt sowie das Jüngste Gericht. Die Kanzel wird getragen von einer Mosesfigur, die zwei Zehn-Gebote-Tafeln mit einer hebräischen Inschrift in Händen hält (S). Die Inschriften A, G–M und O–S erhaben ausgehauen und goldfarben gefasst, F und T gemalt, der Titulus N eingehauen und goldfarben gefasst. Im Jahr 1678 wurde der hölzerne Schalldeckel mit einer hohen, üppig dekorierten Bekrönung angefertigt, die nicht erhalten ist.5) Auf dem Schalldeckel selbst die gemalte Inschrift T. Die dort vorkommenden Virgeln werden als Kommata wiedergegeben.

Inschriften B, C, E nach Hs. 245, Inschrift D nach LAKD/AD, Fotosammlung. Inschrift F ergänzt nach Hs. 245.

Maße: H. 330 cm (bis Brüstung Kanzelkorb). Bu. 2,4 cm (A), 2 cm (F), 2,7 cm (G), 2,8–3,6 cm (H, I, J), 3,5–4,5 cm (K), 2,2 cm (L, M, O, P, Q, R), 1,7 cm (N), 1,8 cm (S), ca. 8 cm (T).

Schriftart(en): Kapitalis (A, G–S), Fraktur (F, T) und humanistische Minuskel mit Versalien (D), hebräische Buchstaben (S).

  1. A

    EX LAPSU INFAUSTO ‎// NIMIS. EHEU. PROTOPA.‎//RENTUM ‎/ TURBA PUSILLA ‎// SUMUS. PERDITA TURBA SUMUS. ‎// M ˑ H ˑ Ba) ˑ ANNO CHR(IST)I M. DCXI

  2. B†

    Verbum domini manet in aeternum6)

  3. C†

    Joh: X. Jch bin die Thür, so jemand durch mich eingehet, der wird seelig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden7)

  4. D†

    GOTT ‎/ zu Ehren und dieser ‎/ Kirchen zum Zierraht, hatt ‎/ Sehl(iger) H(err) Baltzer Bagevitz ‎/ und Fr(au) Dorothea Pansowe(n) ‎/ diesen Deckel gantz neuw ‎/ setzen und das unterste Corpus ‎/ renoviren laßen. ‎/ Anno 1678

  5. E†

    Jes: 62. v 6. 7 O Jerusalem ich will wächter auf deine Mauren bestellen, die den gantzen Tag und die gantze Nacht nimmer stille schweigen sollen und die des H(errn) gedencken sollen auf daß bey eüch kein Schweigen sey, und ihr vor ihm nicht schweiget, biß daß Jerusalem gefertigt und gesetzt werde Zum Lobe auf Erden8)

  6. F

    Dub) Samarit Herr Chri[st sc]hauw anc)Wie mich verwundet hat Satan ˑ ‎/ Grüeßd) em verbint ˑ mach mich gesund ˑ das bitt ich dich aus Hertzense) grund ˑ

  7. G

    OS HOMINIS FORMAMQUE ‎/ GERIT MATTHAEUS IESU. ‎/NATURAE HUMANAE REFERENS ‎/ AB ORIGINE CAUSSAM.

  8. H

    [I]LLEf) LEONINO MARCVS ‎/ SPECTABILIS ORE, ‎/ SURGENTIS TYPUS EST ‎/ CHRISTI, REGNA(N)TIS IN ASTRIS

  9. I

    CORNIGERI LVCAS SPECIE ‎/ BOVIS INDICE CERTO ‎/ PRAEDIXIT PASSI FATALIA ‎/ FUNERA CHRISTI

  10. J

    ASSIMILANT AQUILAE ‎/ COELI PER INANE VOLA(N)TISg) ‎/ MYSTICA TRACTANTEM ‎/ DEITATIS SACRA JOHANNEM

  11. K

    PSAL ˑ 119 HERR DEIN ‎/ WORT IST MEINER FUS‎/SE LEUCHTE UND EIN LICHT ‎/ AUFF MEINEN WEGEN9)

  12. L

    SIHE EINE JUNGFRAW IST SCHWA(N)GER VND WIRD ‎/ EINE(N) SOHN GEBERE(N), DE(N) WIRD SIE HEISSE(N) IMMANUEL10)

  13. M

    EHRE SEY GOTT IN DER HOHE UND FRIEDE AVF ‎/ ERDE(N) UND DE(N) MENSCHEN EIN WOLGEFALLEN11)

  14. N

    ˑ I(ESUS) ˑ N(AZARENUS) ˑ R(EX) ˑ I(UDAEORUM)12) ˑ

  15. O

    IA MIR HASTU ERBEIT GEMACHT IN DEINEN SUNDEN. V(ND) ‎/ HAST MIR MUHE GEMACHT IN DEINEN MISSETHATEN13)

  16. P

    ER IST ABER AVS DER ANGST UND GERICHT GENOM‎/MEN. WER WIL SEINES LEBENS LENGE AVSREDEN14)

  17. Q

    DER HERR SPRACH ZV MEINE(M) HERRN SETZE DICH ZU ‎/ MEINER RECHTE(N) BIS ICH DEINE FEINDE ZU(M) SCHEMEL D(EINER) F(USSE) ˑ L(EGE)15) ˑ

  18. R

    UND VIEL SO UNTER DER ERDEN SCHLAFFEN LIGEN WER‎/DE(N) AVFWACHE(N) ETLICHE ZUM EWIGE(N) LEBE(N) ETLICHE ZU ˑ E(WIGER) ˑ S(CHMACH) ˑ U(ND) ˑ S(CHANDE).16)

  19. S

    II TAB(ULA)
    כַבֵּר אֶב
    וְאֶת אֵבידָ
    17)אֶבידָ 
    I TAB(ULA)
    לֹא יִהְיֶה
    לְדָ אֱלֹהִים
    18)אֲחֵרְים  

  20. T

    Jhr seid es nicht, ‎/ die da reden, sonder(n) ‎/ ewers Vaters Geist ‎/ ist es, der durch euch ‎/ redet.19) Matth. X. v. 20 So ‎/ sehet nun drauf, wie ‎/ ihr zuhöret!20) Luc: VIII. v. 18

Übersetzung:

(A) Aufgrund des überaus unseligen Falls unserer Ur-Eltern – weh! – sind wir ein armseliger Haufen, ein verlorener Haufen sind wir. M. H. B. im Jahr Christi 1611.

(B) Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit.

(G) Matthäus hat das Gesicht und die Gestalt eines Menschen, denn er leitet die Ursache der menschlichen Natur Jesu von dessen Abstammung her.

(H) Jener Markus, der durch das Löwengesicht auffällt, ist das Symbol des auferstehenden Christus, der im Himmel herrscht.

(I) Lukas hat durch das Bild des hörnertragenden Stiers mit klarem Hinweis den schlimmen Tod des leidenden Christus vorhergesagt.

(J) Die durch die Leere des Himmels fliegenden Adler stellen Johannes dar, der die verborgenen heiligen Geheimnisse der Gottheit behandelt.

(S) Erste Tafel: Du sollst keine anderen Götter (neben mir haben). Zweite Tafel: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

Versmaß: Elegisches Distichon (A). Deutsche Reimverse (F). Hexameter (G, H, I, J).

Kommentar

Die Kapitalisinschriften der Kanzel (A, G–M, O–R) zeigen U mit rechter Haste.21) In Inschrift P ist ein epsilonförmiges E zu finden. Die gemalte Inschrift F zeigt, obgleich erneuert, filigranere Frakturformen als die Inschrift des 1678 ergänzten Schalldeckels (D) und könnte daher noch ins Jahr 1611 zu datieren sein. Der Meister der Kanzel ist unbekannt. Die Initialen in Inschrift A sind wahrscheinlich dem Pfarrer Heinrich Bolte zuzuweisen, in dessen Amtszeit (1607–1637) die Kanzel errichtet wurde;22) zu ihm vgl. Kat.-Nr. 367. Vielleicht ist Bolte auch als Autor des Distichons A sowie der übrigen Versinschriften zu verstehen. An den Herstellungskosten der Kanzel beteiligten sich zunächst die Vorsteher des Krameramtes durch die Stiftung von 100 Mark sundisch.23) Zu Baltzer Bagevitz (D, † 1676) vgl. Kat.-Nr. 298. Die Mehrzahl der Inschriften erläutert in lateinischen (A, G–J) und deutschen Versen (F) sowie in Form von Zitaten aus der Lutherbibel (L, M, O–R, T) die bildlichen Darstellungen. Das Text-Bild-Programm der Kanzel thematisiert den Weg des Menschen vom Sündenfall (A) bis zum Jüngsten Gericht (R).

Textkritischer Apparat

  1. Initialen wohl für ‚Magister Heinrich Bolte‘. Vgl. dazu den Kommentar.
  2. Du] Der Befund.
  3. Inschrift an dieser Stelle heute entstellend übermalt.
  4. Grüeß] Veres Befund.
  5. Hertzens] Hertzen aktueller Befund.
  6. [I]LLE] Kanzel an dieser Stelle ausgebessert, dadurch Buchstabenverlust.
  7. VOLA(N)TIS] So statt VOLA(N)TES.

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu Anm. 4. Schriftstücke der Jahre 1953 und 1954, die auch Beschädigungen vor allem an den hölzernen Teilen und der Farbfassung beschreiben, in LAKD/AD, Akten Stralsund, St. Nikolai, Mappe 3 (1953–1966): Bautechnische und kunstgeschichtliche Stellungnahme, Stralsund, 15.1.1953; Schreiben des Restaurators Hoffmann, Greifswald, an das Institut für Denkmalpflege, Berlin, 22.8.1954.
  2. Eine detaillierte Beschreibung der Kanzel bietet Römer, Renaissanceplastik, S. 20–24, 83f.
  3. Bei Zaske, Kirchen Stralsunds, S. 148, findet sich die falsche Angabe, die Inschrift habe sich auf dem Aufsatz des Schalldeckels befunden.
  4. Vgl. LAKD/AD, Akten Stralsund, St. Nikolai, Mappe 2 (1947–1951), Aktenvermerk vom 25. August 1950 betr. Rückführung der Ausstattungsstücke von St. Nikolai und St. Jakobi - Stralsund aus der Bartholomäus-Kirche in Demmin und aus der St. Petri-Kirche in Altentreptow.
  5. Eine historische Abbildung der Deckelbekrönung bei Weitzel, St. Nikolai, S. 126 Abb. 31.
  6. Lutherische Devise nach I Pt. 1,25.
  7. Jh. 10,9.
  8. Jes. 62,6f.
  9. Ps. 119,105 (... meines fusses ...).
  10. Jes. 7,14.
  11. Lk. 2,14.
  12. Io. 19,19.
  13. Jes. 43,24.
  14. Jes. 53,8.
  15. Ps. 110,1.
  16. Dan. 12,2.
  17. Ex. 20,12; Dt. 5,16.
  18. Ex. 20,3; Dt. 5,7.
  19. Mt. 10,20.
  20. Lk. 8,18.
  21. Zu den Graphien U und V vgl. die Einleitung, Kap. 7.3.
  22. Die Angabe, es handele sich bei den Initialen um eine Meistersignatur (Friedrich, St. Nikolai, S. 47), ist nicht nachzuvollziehen.
  23. Weitzel, St. Nikolai, S. 125.

Nachweise

  1. StA Stralsund, Hs. 245, S. 26–28 Nr. 34 (A–K, T).
  2. StA Stralsund, Hs. 303, Bl. 57v–59v (A, G–J).
  3. StA Stralsund, Hs. 628, Bl. 80v (A, F).
  4. Haselberg, Stadtkreis Stralsund, S. 510 (A).
  5. Zaske, Kirchen Stralsunds, Abb. 70f. (A, P).
  6. Lange (Hg.), Räume, S. 164 (A).
  7. Neumann, Gesamtkunstwerk, S. 24 (S, Abb.).
  8. LAKD/AD, Fotosammlung (A, E).

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 280 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0028008.