Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 189 St. Nikolai 1574, 1872

Beschreibung

Gestühl der Kramer. Eichenholz, geschnitzt. Im westlichen Bereich des Mittelschiffs zwischen dem zweiten und dritten Pfeiler der Südseite, eine Altarstelle umgebend. Im Jahr 1872 instandgesetzt.1) Stark hervortretende Teile des Schnitzwerks wie das Rollwerk der Figurenpodeste, Gesichter und Hände sowie Attribute sind teilweise abgebrochen. Oberhalb der Sockelzone des Gestühls Rundbogenfelder, dazwischen jeweils schmalere Nischen mit geschnitzten Figuren flankiert von zwei Halbsäulen. An der Südseite vier Türen. Unterhalb der Figurenpodeste Kartuschen mit Beischriften, die beginnend am östlichen Ende der Südseite wiedergegeben werden (A–R). An der Süd- und Nordseite sind Personifikationen der Tugenden dargestellt (A–C, E und F Südseite; L–R Nordseite), an der Südseite ferner ein Wilder Mann mit einer Keule, dazu der Spruch D. An der Westseite Christus und die Evangelisten (G–K) sowie Inschrift T.

Als oberer Abschluss des Gestühls ein schmaler umlaufender Fries mit Masken, Löwenköpfen, Beschlagwerk und Putten. In diesem Fries am östlichen Ende der Südseite ein von zwei Putten gehaltener Wappenschild, an der Westseite umgeben von Rollwerk die Inschriften S und T, T ebenfalls gehalten von zwei Putten. Die Inschriften A–C, F–K, M–O, Q und R erhaben in vertiefter Zeile, D, E, S und T erhaben, L und P vertieft geschnitzt. Inschrift M und die zugehörige Figur wurden 1872 erneuert.

Maße: L. 693 cm, Br. 456 cm, H. 145 cm. Bu. 2,3 cm (A, O, R), 1,7 cm (B), 2,7 cm (C), 1,9 cm (D, M), 3 cm (E), 2,2 cm (F, G), 2,8 cm (H, I), 2,1 cm (J, K, N), 1,4 cm (L), 1,6 cm (P), 2,6 cm (Q), 1,5 cm (S, T).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (S, T); Kapitalis (A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K, L, M, N, O, P, Q, R).

  1. A

    IVSˑTICIA

  2. B

    TEMPERANCIA

  3. C

    SPES

  4. D

    DATa) KEN KRAMER IST ‎/ DE BLIEF DA BUTEN ‎/ ODER ICK SCHLA EM UP ‎/ DE SCHNUTEN

  5. E

    GLAUBE

  6. F

    IVSTICIA

  7. G

    IOHANNES

  8. H

    LVCAS

  9. I

    SALVATER

  10. J

    MARCVS

  11. K

    MATHEVS

  12. L

    IVSTI‎/CIA

  13. M

    ⟨HOFFNUNG⟩

  14. N

    PRVDENCIA

  15. O

    FORTITVDO

  16. P

    IVSTI‎/CIA

  17. Q

    FIDES

  18. R

    DEb) GEDVLT

  19. S

    ANNO ˑ ‎// ˑ 1574

  20. T

    DIT ˑ IS ˑ DER ˑ KRAME[R] ˑ ER STO[E]LTE ˑ

Übersetzung:

(A) Gerechtigkeit.

(B) Mäßigung.

(C) Hoffnung.

(D) Wer kein Krämer ist, bleibe draußen, oder ich haue ihm auf’s Maul.

(F) Gerechtigkeit.

(L) Gerechtigkeit.

(N) Klugheit.

(O) Tapferkeit.

(P) Gerechtigkeit.

(Q) Glaube.

(T) Dies ist das Gestühl der Kramer.

Versmaß: Deutsche Reimverse (D).

Wappen:
?2)

Kommentar

Inschrift T, weniger deutlich auch S, ist in frühhumanistischer Kapitalis ausgeführt: A mit beidseitig überstehendem Deckbalken (und gebrochenem Mittelbalken in Inschrift S), D in offener unzialer Form, konisches M mit bis zur Zeilenmitte reichendem Mittelteil. Beide wurden im Jahr 1574 an der Westseite des Gestühls angebracht. In den Inschriften D und E an der Südseite fällt U mit rechtem Schaft anstelle der im späten 16. Jahrhundert noch gebräuchlichen Graphie V auf,3) die die übrigen Inschriften zeigen. In D ist außerdem der Buchstabe D mit geschwungenem Schaft und über das obere Schaftende nach links fortgesetztem Bogen bemerkenswert; diese Merkmale finden sich in den übrigen Inschriften nicht. Dort wiederum fällt auf, dass S sowohl im Fall der erhabenen (A, C, G–K, Q) als auch der vertieften Inschriften (L, P) häufig mit einer kleinen, spitz ausgezogenen Schwellung ausgeführt ist. Diese Gemeinsamkeit bleibt trotz unterschiedlicher Ausführungsdetails hinsichtlich der Gestaltung von Schaft-, Balken- und Bogenenden mit oder ohne Serifen. Inschrift D weist eine deutliche Rechtsneigung, eine sehr geringe Tendenz zu Serifen und keine S-Schwellungen auf. All diese paläografischen Indizien könnten darauf hindeuten, dass die Figurenbeischriften im Rahmen eines komplexen, vielleicht auch länger andauernden Herstellungsprozesses entstanden, an dem verschiedene Hände mitwirkten.

Der Katalog der Kardinaltugenden an der Süd- und Nordseite des Gestühls kombiniert klassisch-antike mit christlichen Tugenden, die durch den Hinweis auf Christus als Erlöser und die Evangelisten an der Westseite ergänzt werden. Die frühneuzeitlichen Beischriften (ohne M) sind lateinisch und niederdeutsch, wobei die Gerechtigkeit viermal (A, F, K, P) und der Glaube (E, Q) je zweimal vorkommen. Das Gestühl wurde um den seit langer Zeit bestehenden Altar der Kramer herum errichtet (Kat.-Nr. 103) und im Jahr 1624 auch mit einem Leuchter (Kat.-Nr. 310) ausgestattet.

Textkritischer Apparat

  1. DAT] Der Hs. 245, sunst Hagemeister.
  2. DE] Fehlt Haselberg.

Anmerkungen

  1. Auf einer Holztafel, die an der westlichen Säule innerhalb des Gestühls befestigt ist, ist zu lesen: Erbauet 1574. / Erneuert 1872. / Altermaenner der Kraemer-Comp(anie) / A. F. W. Zöllner, C. I. Rasmus, / Gustav Siewert. – Weitzel, St. Nikolai, S. 192, zufolge, fanden auch um 1674 Reparaturen am Kramergestühl statt. Diese Angabe scheint auf der falsch gelesenen Jahreszahl am Kramerleuchter zu beruhen, bei der es sich um 1624, nicht 1674 handelt; vgl. Kat.-Nr. 310. Von den bei Weitzel, St. Nikolai, Anm. 1068, genannten drei Archivalien zur Reparatur 1674 konnte nur StA Stralsund, Hs. 88, Mappe B, S. 16, eingesehen werden. Dort wird zwar der Leuchter, nicht aber das Gestühl erwähnt.
  2. Wappen ? (Petruskreuz, dahinter Löwe).
  3. Vgl. dazu die Einleitung, Kap. 7.3.

Nachweise

  1. StA Stralsund, Hs. 245, S. 45 Nr. 52 (D).
  2. Haselberg, Stadtkreis Stralsund, S. 507f. (ohne F, L, M, P).
  3. Hagemeister, Nikolaikirche, S. 35 (D).
  4. Uhsemann, Nikolaikirche, S. 53 (D).
  5. Zaske, Kirchen Stralsunds, S. 154 (D).

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 189 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0018903.