Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 140 Stralsund Museum um 1520–1525

Beschreibung

Altarretabel, vierflügelig.1) Eichenholz, geschnitzt und farbig gefasst, mit Tafelgemälden. Der beschädigte Altaraufsatz weist einige Fehlstellen auf; er befand sich im 19. Jahrhundert in der Kirche von Sanzkow (Ldkr. Mecklenburgische Seenplatte), von wo er 1864 ins Museum gelangte.2) Ursprünglicher Bestimmungsort war möglicherweise das Franziskanerkloster St. Johannis in Stralsund (vgl. dazu den Kommentar). Das Retabel wurde 1988, 19993) und 2014 restauriert.

In der geschlossenen Ansicht sind links oben eine Mondsichelmadonna mit einer Blume und dem Jesuskind auf dem Arm, unten Johannes Ev. mit Kelch, rechts oben Klara von Assisi im Habit mit Monstranz, unten die Stigmatisierung des Franziskus zu sehen. In dieser Szene links oben ein Kruzifixus mit Flügeln und dem Titulus A.

Die erste Wandlung zeigt acht Szenen der Franziskusvita, denen im Bildhintergrund teilweise weitere Episoden beigegeben sind. Jedes Bild wird durch eine darunter in heller Farbe auf dunklen Untergrund aufgemalte Beischrift erläutert: Franziskus verlässt Vater und Mutter (B), heilt einen Aussätzigen durch einen Kuss (C), predigt seinen Gefährten (D) und wird vom Teufel versucht (E); der stigmatisierte Franziskus predigt den Tieren (F), speist mit Kardinal Leo in Rom und wird vom Teufel heimgesucht (G), Franziskus heilt einen tödlich Verwundeten (H). Die letzte Szene zeigt den sterbenden Franziskus umringt von seinen Brüdern (I). Teile einiger Inschriften sind im oberen oder unteren Buchstabenbereich nicht vollständig erhalten, aber lesbar. In Einzelfällen v mit diakritischem Zeichen.

Im Schrein der geschnitzten zweiten Wandlung Maria als Mater dolorosa im Strahlenkranz,4) darunter in einem predellartigen Feld die Stigmatisierung des Franziskus; das Kreuz ist nicht mehr vorhanden. Zwei Assistenzfiguren halten Spruchbänder, die keinen Text erkennen lassen, in den Händen. Auf dem linken Flügel sind Maria und Elisabeth sowie unten die Grablegung Christi dargestellt, rechts der Tempelgang Mariens und ihr Tod im Kreis der Jünger. Auch die Bildbeischriften der Sonntagsansicht sind nicht mehr in Gänze erhalten bzw. wurden in dunkler Farbe übermalt. Sternförmige Worttrenner, am Ende der Inschriften C, D und F eine Ranke als Zeilenfüller. Alle Inschriften sind gemalt.

Maße: Br. 232 cm (geöffnet), H. 202 cm. Bu. 0,5 cm (A), 1,9 cm (B), 1,9 cm (C, D, E, F, G, H, I).

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Jürgen Herold [1/12]

  1. A

    i(esus) n(azarenus) r(ex) i(udaeorum)5)

  2. B

    [– – –]a) fransiscus ˑ vader ˑ vn(de) moder

  3. C

    hir ˑ v(m)meˑfenkt ˑ [...] ˑ

  4. D

    [– – –]b) vor ˑ sine(n) ˑ broderen

  5. E

    hir ˑ wer[– – –]

  6. F

    [hir pre]deket sv(n)[te ˑ fr]a(n)siscvs ˑ vorc) ˑ den ˑ wilden ˑ deriend)

  7. G

    hir ˑ et ˑ sv(n)te ˑ fra(n)siscvs ˑ mit ˑ dem ˑ kardinale ˑ dar ˑ ene ˑ noch ˑ de ˑ dvvel ˑ vm(m)e ˑ slogen ˑ

  8. H

    [– – –]eckkete) ˑ sv(n)te ˑ fra(n)siscvs ˑ enen ˑ dot gesteke(n) ˑ minschen ˑ va(m) ˑ [d]ode ˑ

  9. I

    hir ˑ stervet ˑ de ˑ hillige ˑ vader ˑ svnte ˑ fransiscvsf) ˑ [– – –]

Übersetzung:

(B) (...) Franziskus Vater und Mutter.

(C) Hier umarmt (...).

(D) (...) vor seinen Mitbrüdern.

(F) Hier predigt der heilige Franziskus vor den wilden Tieren.

(G) Hier speist der heilige Franziskus mit dem Kardinal, weshalb ihn danach die Teufel schlugen.

(H) Hier erweckt der heilige Franziskus einen erstochenen Menschen vom Tod.

(I) Hier stirbt der heilige Vater St. Franziskus (...).

Kommentar

Die nicht übermalten Beischriften zeigen die hohe, schlanke Spätform der gotischen Minuskel. Die jeweils auf gleicher Höhe stehenden Quadrangelecken sind so lang ausgezogen, dass sie miteinander verbunden sind und so am oberen und unteren Ende des Mittelbandes durchgehende waagerechte Linien entstehen lassen.6) d und h mit gespaltenen Hastenenden, a in Form des oben geschlossenen Kasten-a.

Wo das Retabel angefertigt wurde, ist nicht bekannt. Vor allem auf der Basis stilistischer Erwägungen wird es in die Jahre unmittelbar vor der Reformation datiert.7) Aufgrund der dargestellten Heiligen und Szenen aus dem Leben des Franz von Assisi kann als Bestimmungsort auf ein regionales Franziskanerkloster, wahrscheinlich einzugrenzen auf Stralsund, geschlossen werden.8) Diesen möglichen Bestimmungsort hat das Retabel jedoch nie erreicht. Als Vorlagen für die Szenen der Franziskusvita sind handschriftliche Zyklen denkbar, aber nicht nachgewiesen.9)

Textkritischer Apparat

  1. Beginn der Inschrift ehemals wohl ‚Hier verlässt St.‘.
  2. Beginn der Inschrift ehemals wohl ‚Hier predigt St. Franziskus‘.
  3. vor] Die unteren Bereiche der Buchstaben sind nicht erhalten, es ist also nicht sicher zu entscheiden, ob im vorhergehenden Text u oder v zu lesen ist. Die Wiedergabe erfolgt gemäß den besser erhaltenen Inschriften.
  4. derien] So statt deren.
  5. Zu ergänzen wohl [hir erw]eckket.
  6. Wie Anm. c.

Anmerkungen

  1. Stralsund Museum, Inv.-Nr. 1864:0104.
  2. Dazu Kunkel, Franziskus, S. 9.
  3. Nach Kunkel, Werk, S. 325.
  4. Die der Mater dolorosa ursprünglich beigegebenen Sieben Schwerter sind nicht erhalten; dazu Kunkel, Franziskus, S. 38, ebenso Abb. 18.1.
  5. Io. 19,19.
  6. Diese Schriftcharakteristika erinnern an die gotische Minuskel auf Goldschmiedearbeiten; vgl. etwa Kat.-Nr. 127.
  7. Vgl. zuletzt Kat. Franziskus - Licht aus Assisi, S. 330f. Nr. 109 (Burkhard Kunkel).
  8. Dazu genauer Kunkel, Franziskus, S. 64–67; auch Kunkel, Altarausstattungen, S. 103.
  9. Vgl. Kunkel, Franziskus, S. 26 Anm. 31.

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 140 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0014009.