Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 138 Waase (Ldkr. Vorpommern-Rügen), St. Marien um 1515–1520

Beschreibung

Altarretabel. Eichenholz, Schrein geschnitzt und farbig gefasst bzw. vergoldet, die Flügel Tafelmalerei. Mit zwei geteilten, größeren seitlichen Flügeln und zwei kleinen Flügeln am erhöhten Mittelteil des Schreins. Bis 1708 befand sich das Retabel in St. Nikolai in Stralsund. Ursprünglich war es dort wohl für die Kapelle der Familie Rode am östlichen Ende des nördlichen Seitenschiffs bestimmt.1) Erst 1548 wurde es auf dem ehem. Kreuzaltar im Mittelschiff vor den Chorschranken aufgestellt, der nach der Reformation als Hauptaltar diente. Das Retabel wurde 1901, 1934 und 1992/93 restauriert.2)

Im geschlossenen Zustand des Retabels3) zeigen die Flügel-Außenseiten in der Mitte eine zweiteilige Gregorsmesse. Links ist die Begegnung Abrahams mit Melchisedek, rechts der Mannaregen in der Wüste Sinai dargestellt. Auf den kleinen Flügeln, die den oberen Teil des Schreins schließen, eine zweiteilige Komposition mit den Arma Christi und den Köpfen des Pontius Pilatus und des Apostels Petrus mit der Magd des Hohepriesters links sowie des Hohepriesters Kaiphas und des rothaarigen Judas Ischariot rechts.

Im geöffneten Zustand zeigt der obere Bereich des Schreins drei vielfigurige und bewegte Szenen aus der Passion Christi: Links die Kreuztragung, auf dem Gewandsaum Christi Inschrift A; in zwei kleinen Nischen des spätgotischen Maßwerkbaldachins dieser Szene die Geißelung und Dornenkrönung Christi. Im hochrechteckigen und die Schreinseiten überragenden mittleren Gehäuse die Kreuzigung mit dem Titulus B, darunter die trauernde Maria mit der Gewandsauminschrift C1, gestützt von Johannes Ev., und weitere klagende Frauen, auf ihren Gewandsäumen die Inschriften C2 und C3. In sechs Nischen des Maßwerkbaldachins die Sakramente: von unten nach oben links Taufe, Firmung und Beichte, rechts Kommunion, Trauung und Priesterweihe. Im rechten Gehäuse die Kreuzabnahme mit Inschriften auf dem Gewandsaum der Figur vorne links (D1), Mariens (D2) und der Maria Magdalena mit Salbgefäß (D3). In kleinen Maßwerknischen links die letzte Ölung, rechts der auferstandene Christus vor dem Apostel Thomas. Die Innenseiten der Flügel zeigen gemalte Szenen der Passion, die im Zusammenhang mit den Darstellungen im Schrein von links nach rechts zu lesen sind: auf den geteilten Flügeln links das Letzte Abendmahl und die Gefangennahme Christi, rechts die Auferstehung und die Ausgießung des Heiligen Geistes. Auf dem oberen kleinen Flügel links erscheint der auferstandene Christus vor Maria, rechts oben sind die Jünger auf dem Weg nach Emmaus dargestellt.

Die drei Gehäuse im Schrein unterhalb der Passionsszenen zeigen links die Weihe des Thomas Becket zum Erzbischof von Canterbury durch zwei Bischöfe, am Kragensaum des Bischofs rechts die Buchstaben E. In der Mitte und damit unter der großen Kreuzigungsszene die Ermordung Beckets im Auftrag des Königs Heinrich II. Auf dem Gürtel des Soldaten links im Hintergrund die Inschrift F1, auf dem Gewandsaum einer davor stehenden Figur mit erhobener Hand F2. Im Gehäuse rechts eine Szene, die unter anderem Heinrich II. zeigt, deren Inhalt aber unklar ist.4) Auf dem Gürtel eines Soldaten hinten rechts die Buchstaben G.

Auf der Predella zwei mehrfach verschlungene Schriftbänder (H), am Ende der Inschrift eine Ranke. Alle Inschriften sind gemalt, die meisten Gewandsauminschriften in Gold; B, C1 und H schwarz, C3 hellbraun, F2 aus der Bemalung des Gewandsaums ausgespart. Worttrenner blütenförmig, in F1 als Hochpunkte. Die Farbschicht auf den Gewandsäumen ist teilweise abgeblättert. Eingebrannte Beschauzeichen der Antwerpener Bildschnitzer an mehreren Figuren der Schnitzseite (M6) und der Antwerpener Fassmaler auf dem äußeren Rahmen des linken Retabelflügels (M7).

Maße: Br. 432 cm (mit Flügeln), H. 267 cm (mit Predella). Bu. 1,3–1,5 cm (A), 1,9 cm (B), 0,6–1,7 cm (C), 1–1,3 cm (D), 1,2 cm (E), 0,3–0,8 cm (F), 0,4 cm (G), 2,8 cm (H).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A–E, F2, G), gotische Minuskel mit Versalien (F1, H).

  1. A

    I I B [.] D M B I E I G N B M E I S I E [.] O O [..] A M A [...]

  2. B

    I(ESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDAEORVM)5)

  3. C1

    A N O I F G M O H E I H ˑ A I G M E F I O I I I O H I ˑ A N O H I A R I A O M O ˑ I I

  4. C2

    MATER DEI MEM[.....]a) H [.] M [.....] M

  5. C3

    N ˑ B I [.] E A ˑ G M H ˑ R I

  6. D1

    [- - -] X V ˑ

  7. D2

    M [– – –] O I M A O I B M E N I E [– – –] ‎// O [..] ˑ A H I O [....] M

  8. D3

    I A B E G B I E I G

  9. E

    [– – –] A T M [.]

  10. F1

    [– – –] M[....]at ˑ dominvs ˑ vo[....]vet

  11. F2

    V E [...] N O [.] A N A T E ˑ SPIRITVS ˑ E P [.] T V O

  12. G

    AGIOS ˑ ‎/ OTEOS

  13. H

    Nos autem oportet gloriari Jn cruise ˑ ‎/ d(omi)ni nostrij Jhesu ˑ ‎/ ˑ Cristij ˑ ‎// Jn quo est salus Vita et resurexcio nostra per quem ˑ ‎/ ˑ saluati et firmati sumus6)

Übersetzung:

(C2) Mutter Gottes, gedenke (...).

(F1) (...) der Herr (...).

(F2) (...) Geist (...).

(G) Heilig (ist) Gott.

(H) Es gebührt uns, dass wir uns im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus rühmen, in dem das Heil, das Leben und die Auferstehung sind und durch den wir erlöst und bestärkt wurden.

Kommentar

Das Retabel wird aus stilistischen Gründen in die Jahre um 1515–1520 datiert, die Malereien werden dem sog. Meister von 1518 zugewiesen.7) Größtenteils entstellte, im Einzelfall aber auch nicht völlig sinnlose Gewandsauminschriften kommen an Antwerpener Schnitzaltären der Zeit gelegentlich,8) in der Regel jedoch nicht in der hier anzutreffenden Menge vor. Neben den Antwerpener Marken, die sich mehrfach im Schrein finden, deutet auch die Schreibung cruise für cruce auf die niederländische Herkunft der Predellen-Schriftbänder (H) hin.9) Eine zweite, ähnlich beschriftete Predella Antwerpener Herkunft lässt sich nicht nachweisen. Die auf dem Waaser Retabel zu sehende Form der späten gotischen Minuskel ist durch breite Buchstabenproportionen bei dünner Strichstärke charakterisiert. Schon auf die Fraktur weisen die nach links gebogene Unterlänge von Schaft-s und p hin. Das Retabel stellt ein herausragendes Beispiel für die Produktion von teils seriell (Passionsszenen), teils auf speziellen Wunsch des Auftraggebers (Thomas-Becket-Szenen, vielleicht auch Predelleninschrift) entstandenen Retabeln dar.10) Zentrales Thema des Retabels ist die Eucharistie, die zunächst auf den Flügel-Außenseiten in Gestalt von typologisch mit dem Letzten Abendmahl verbundenen alttestamentlichen Szenen angekündigt wird. Der geschnitzte Schrein zeigt die Passion und das Kreuzesopfer Christi; ein Bezug zur Liturgie wird durch den Gründonnerstags-Introitus (H) hergestellt.

Textkritischer Apparat

  1. MATER DEI MEM[.....]] Vielleicht gemeint ‚Mater Dei memento mei‘.

Anmerkungen

  1. Nach Weitzel, St. Nikolai, S. 120f.
  2. Nach Kunkel, Werk, S. 320; Nieuwdorp (Hg.), Altarpieces, S. 64; Schlosser, Waase, S. 9.
  3. Eine genaue Beschreibung auch bei Mock, Brabanter Schnitzretabel, S. 206f.
  4. Nach Nieuwdorp (Hg.), Altarpieces, S. 68, ist die Deutung, es handele sich um den Schwur des Königs, er sei am Tod Beckets unschuldig, nicht überzeugend.
  5. Io. 19,19.
  6. Liturgischer Text: Introitus an Gründonnerstag.
  7. Dazu zuletzt Mock, Brabanter Schnitzretabel, S. 206f.
  8. Vgl. etwa Nieuwdorp (Hg.), Altarpieces, Nr. 3 S. 36–38 (um 1510–1520): O BEN - ISSIME JHESU auf dem Gewand Christi.
  9. Zum Handel mit Antwerpener Schnitzaltären und zur Bedeutung der Marken als Qualitätsgarantie der an der Herstellung beteiligten Zünfte vgl. Nieuwdorp (Hg.), Altarpieces, S. 18–21.
  10. Dazu genauer Nieuwdorp (Hg.), Altarpieces, S. 68f. – Am Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) untersucht Sandra Braun im Rahmen ihrer kunsthistorischen Dissertation ‚Südniederländische Importkunst des 15. und 16. Jahrhunderts im Ostseeraum‘ Antwerpener und Brüsseler Retabel.

Nachweise

  1. Ohle, Rügen, S. 620 (H).
  2. Nieuwdorp (Hg.), Altarpieces, Nr. 9 S. 64 (C2, G, H).
  3. Kunkel, Werk, S. 319 (H).
  4. Mock, Brabanter Schnitzretabel, S. 206 (C2, G, H).

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 138 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0013809.