Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 109 St. Nikolai 2.H.15.Jh.

Beschreibung

Vier Relieftafeln vom Gestühl der Rigafahrer.1) Eichenholz, geschnitzt, nur teilweise erhaltene Farbfassung. Die Tafeln sind heute im südlichen Bereich des Chorumgangs an der Außenseite der Chorschranken befestigt. Sie bildeten ursprünglich wohl das Dorsale des Gestühls der St. Annenbruderschaft der Rigafahrer,2) das sich vor deren Altar vermutlich am vierten südlichen Langhauspfeiler befand. Ein dort befindliches Gestühl wurde im Jahr 1820 von den Älterleuten der Gewandschneider erworben. Um die innen in diesem Gestühl angebrachten Relieftafeln vor weiteren Beschädigungen zu schützen, wurden sie entfernt.3) Offenbar erst bei der Restaurierung 1978 wurde die zweite mittelalterliche Farbfassung mit geringen Schriftresten auf zwei Spruchbändern freigelegt. Diese wurden im Mai 2013 mit UV-Leuchten untersucht.

Auf den gleichgroßen Tafeln ist die Jagd russischer Pelztierjäger in kurzen Röcken mit spitzen oder oben gerundeten Hüten sowie gedrehten langen Haaren und Bärten mithilfe von Jagdhunden auf Eichhörnchen und Zobel (oder Hermeline) sowie das Honig- und Wachssammeln in einem Laubwald dargestellt, ganz rechts der anschließende Verkauf dieser Waren vor einer Stadtsilhouette. Am rechten Rand massive Gebäude mit rundbogigen Fensteröffnungen, davor eine Mauer mit Zinnen und ein Stadttor mit Fallgitter. Im Torbogen steht ein Mann mit kurzem Gewand, tiefsitzendem Gürtel und spitzen Schuhen; die Inschrift auf seinem Spruchband A ist nahezu vollständig zerstört. Vor dem Tor ein Kaufmann mit einer barettähnlichen Kopfbedeckung und unter seinem Mantel verschränkten Armen sowie dem Spruchband B. Ihm nähern sich zwei Männer mit großen Beuteln bzw. Fellen und einem großen Stück Wachs. Die Inschriften sind in schwarzer Farbe auf den weißen Untergrund gemalt. u in Inschrift B mit diakritischem Zeichen in Form eines Quadrangels.

Maße: L. 400 cm (gesamt), H. 85–86 cm. Bu. 1,7 cm (A, B).

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Jürgen Herold [1/5]

  1. A

    p[– – –]

  2. B

    h[– – –]orhut[...]a)

Kommentar

Das Inschriftenfragment B lässt die Vermutung zu, dass auf beiden Spruchbändern niederdeutsche Inschriften angebracht waren. Heute lässt sich jedoch weder eine Wortgrenze noch ein sinnvoller Text ausmachen. Die erkennbar schlanke Form der gotischen Minuskel mit spitz ausgezogenen Quadrangeln deutet darauf hin, dass die heute sichtbaren Fragmente nicht schon zur Entstehungszeit der Tafeln, sondern erst im späteren 15. Jahrhundert mit der zweiten Farbfassung aufgemalt wurden. Die Reliefs selbst entstanden im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts.4) Die ältere Bezeichnung der Tafeln als Teil des Nowgorodfahrer-Gestühls ist insofern nicht korrekt, als es in Stralsund keine selbstständige Korporation der Nowgorodfahrer gab.5) Die Reliefs mit ihren rein weltlichen Bildmotiven sind als singuläres Beispiel der Selbstdarstellung einer berufsständischen Bruderschaft, hier der mit der Stadt Riga (Livland, heute Lettland) Handel treibenden Stralsunder Fernkaufleute, in einer städtischen Pfarrkirche zu würdigen.

Textkritischer Apparat

  1. Das Ende der Inschrift könnte das niederdeutsche Wort hut für ‚Haut, Fell‘ enthalten haben.

Anmerkungen

  1. Zur älteren Deutung der Relieftafeln als ehemals zu einem Gestühl der Nowgorodfahrer gehörig vgl. den Kommentar.
  2. So erstmals Fründt, in: Kat. Parler 2, S. 541.
  3. Nach Weitzel, St. Nikolai, S. 187.
  4. Nach Weitzel, St. Nikolai, S. 228.; um 1360/70 nach Kat. Russen und Deutsche, S. 42 (I.33a–d). – Die erst 1978 freigelegte zweite mittelalterliche Farbfassung der Reliefs wird restauratorischen Befunden zufolge ins 15. Jahrhundert datiert.
  5. Dazu Weitzel, St. Nikolai, S. 184–187.

Nachweise

  1. Houwald/Weitzel, Reliefs, S. 18 u. Schutzumschlag.
  2. Kat. Russen und Deutsche, S. 48.

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 109 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0010905.