Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 108 St. Nikolai 2.H.15.Jh., 1600, A.17.Jh., 1612

Beschreibung

Chorschranken. Mauerwerk, Metall und Holz, teilweise geschnitzt und farbig gefasst bzw. bemalt. An der Nord- und Südseite des Chores von außen an die Chorpfeiler gesetzt.1) Der untere Teil des hölzernen Rahmens der Chorschranken ist in Fachwerktechnik ausgemauert und verputzt, der obere Teil durch ein eisernes Rautengitter ausgefüllt. Als oberer Abschluss dient ein hölzerner, gefasster Relieffries mit Blattwerk und figürlichen Darstellungen in Medaillons, auf dem Fries Kreuzblumen. Die Farbfassung wurde im 17. Jahrhundert erneuert bzw. später grau überdeckt, dann Ende des 19. Jahrhunderts freigelegt und erneuert.2)

Türen: Die Chorschranken werden von zwei Türöffnungen an der Süd- und drei an der Nordseite durchbrochen. An der Südostseite eine Doppelflügeltür, die zuletzt 2010–2013 restauriert wurde.3) Außen ganzfigurige Darstellungen der Kirchenväter Gregor d. Gr. und Ambrosius (A) links sowie des Hieronymus und des Augustinus (B); zu dessen Füßen der an einem Pult sitzende Jesusknabe. Innen links die Kirchenpatrone Katharina und Michael (C) sowie Nikolaus und Andreas (D). Inschrift A mit hakenförmigen Diakritika auf u.4) Beide Seiten weisen mutwillige Beschädigungen wie Kratz- und Schlagspuren auf.5) Die Malereien außen sind aufgrund einer unsachgemäßen Freilegung schlechter erhalten als innen, wo noch weitgehend der Originalzustand zu sehen ist.

Die zweite Tür der Südseite ohne Darstellungen. An der Nordseite der Chorschranken zeigt die östliche Tür neben dem Schneideraltar (Kat.-Nr. 123) außen auf rotem Grund die Verkündigung durch den Erzengel Gabriel, der eine weiße Lilie hält, an Maria; die Darstellung der Innenseite ist nicht erhalten. An der Tür weiter westlich außen Anna und Joachim, die Eltern Marias, an der Goldenen Pforte; auch hier ist die Darstellung der Innenseite verloren. An der dritten, westlichsten Tür war die Auffindung Christi im Tempel durch seine Eltern dargestellt mit dem Christus zugeordneten Spruchband E, das deutliche Spuren einer Erneuerung zeigte. Diese Tür fehlt seit dem Zweiten Weltkrieg.

Relieffries, Südseite außen: Im schrägstehenden südöstlichen Abschnitt neun Szenen aus dem Marienleben, von Westen nach Osten von der Verkündigung ihrer Geburt an Anna bis zur Darstellung Christi im Tempel. Das Spruchband des Erzengels Gabriel in der Verkündigung an Maria weist eine neuzeitliche Inschrift auf (H). Im nach Westen folgenden Abschnitt zehn Medaillons – ebenfalls von West nach Ost – zur Passion, Kreuzigung und Auferstehung Christi. Im dritten folgenden Chorschrankenabschnitt Figurenszenen, die die sieben Hauptsünden illustrieren,6) sowie sechs unten gerundete Wappenschilde, darin die fünf Hausmarken H20, H21, H22, H23, H24 und ein Bild, alle im Relief ausgeführt.

Relieffries, Nordseite außen: Im schrägstehenden nordöstlichen Abschnitt sieben unten gerundete Wappenschilde mit drei identischen Wappenbildern der Schneider (Schere) und vier Hausmarken (H25, H26, H27, H28), alle im Relief, im folgenden Abschnitt nach Westen voranschreitend ein Devotionswappen mit den Arma Christi, danach neun Prophetenbüsten mit leeren Spruchbändern, am Ende ein Wappenschild mit dem Wappen der Gewandschneider (Elle und zwei Tuchmesser), beide Wappenschilde unten spitz. Im folgenden Schrankenabschnitt weitere acht Prophetenbüsten mit leeren Spruchbändern. Im westlichsten Abschnitt fünfzehn unten gerundete Wappenschilde mit möglicherweise erst später aufgemalten Hausmarken (H29, H30, H31, H32, H33, H34, H35, H36, H37, H38, H39, H40, H41, H42, H43), auf dem zweiten Wappenschild von Osten auch die Initialen I.

Relieffries, innen: Der Relieffries der Chorschranken-Innenseite zeigt ein relativ einheitliches Bildprogramm. Im Süden von Westen nach Osten musizierende Engel,7) im zweiten Abschnitt von Westen Moses mit drei Gesetzestafeln und ein Prophet. An der Nordseite im schrägstehenden östlichen Abschnitt am Schneideraltar zunächst acht Propheten-Brustbilder mit sieben leeren Spruchbändern, auf einem Spruchband die neuzeitliche Inschrift J. Nach Westen voranschreitend zwei Abschnitte mit jeweils neun musizierenden Engeln, auf einem Spruchband die Jahreszahl G. Der westlichste Abschnitt zeigt Medaillons mit acht Engeln, in deren Mitte wiederum ein Prophet und Moses mit Gesetzestafeln, auf einem Spruchband die Jahreszahl F. Alle Inschriften sind gemalt.

Inschrift E nach Foto LAKD/AD.

Maße: Br. 82 cm (Türfüllung), H. ca. 460 cm (Chorschranken), 128 cm (Türfüllung). Bu. 3,1–3,3 cm (A, B), 3,8 cm (C, D), ca. 2 cm (F, G, H, I, J).

Schriftart(en): Gotische Minuskel (E) mit Versalien (A, B, C, D); Kapitalis (H, I, J).

  1. A

    Sanctus gregorius ‎// Sanctus anbrosius

  2. B

    Sanctus [H]eron[y]musa) ‎// Sanctvs augvstynvs

  3. C

    S(an)c(t)a katherina ‎// S(an)c(tu)s michael

  4. D

    S(an)c(tu)[s] nycolaws ‎// Sanctus andreas

  5. E†

    quid est ˑ quod ˑ quaerebatis8)

  6. F

    ⟨1.6.00⟩

  7. G

    ⟨1612⟩

  8. H

    ⟨CH[RI]STVS⟩

  9. I

    ⟨M. ‎// H.⟩

  10. J

    ⟨H(ER) BALTA[S]ERE⟩

Übersetzung:

(E) Was ist es, das ihr gesucht habt?

Wappen:
?9)
Schneiderzunft
DevotionswappenGewandschneiderzunft

Kommentar

Die hohen und schlanken Formen der gotischen Minuskel in den Inschriften der südöstlichen Doppelflügeltür, besonders deutlich in A und B, weisen in die Spätzeit dieser Schriftart. Der rechte Schaft des u endet rechtsschräg. Das untere Ende des gebrochenen h-Bogens (C) ist unter die Grundlinie verlängert; in a läuft der linke Teil des gebrochenen oberen Bogens in einen gebogenen Zierstrich aus. Beide Türseiten, besonders die außen aufgemalten Beischriften A und B, zeigen gegabelte Hastenenden sowie S-Versalien am Wortanfang ebenso wie am Wortende mit vorgeschobenem unterem Bogen. Diese Buchstaben lösen sich in gebrochene, neu zusammengesetzte, gerundete und schaftähnliche Elemente auf (Cadellen), an denen Zierstriche und -haken ansetzen. In Inschrift D (Sanctus) ist der Schaft-S-Versal mit zwei ornamentalen Zacken versehen. Auch diese Zierformen sprechen dafür, dass die Inschriften nicht bereits zur ermittelten Entstehungszeit der Chorschranken am Anfang des 15. Jahrhunderts angebracht wurden. Vergleichsbeispiele legen nahe,10) dass die Beischriften A–D in der zweiten Hälfte (oder sogar im letzten Viertel) des 15. Jahrhunderts entstanden, C und D innen möglicherweise früher als A und B außen.

Die älteren Figurenreliefs der Chorschranken sind handwerklich relativ schlicht ausgeführt, ihre Datierung nach stilistischen Kriterien ist daher schwierig. Einen Terminus post quem stellt das Dendrodatum 1388 dar.11) Weitere Anhaltspunkte lassen sich aus der Quellenüberlieferung und den baulichen Gegebenheiten des Chorraums gewinnen: 1. Da das Mauerwerk der Chorschranke den Schneideraltar nördlich des Hochaltars ausspart, muss seine Mensa vor der Errichtung der Chorschranken ausgeführt gewesen sein. Das Schneideramt erwarb diese Altarstelle wohl 1406.12) Den baugeschichtlichen Zusammenhang von Chorschranken und Schneideraltar belegt das Wappen des Schneideramtes außen auf dem Fries unmittelbar vor dem Altar. 2. Im Jahr 1411 wurde der Altar der Gewandschneider an der Nordseite der Chorschranken neu aufgestellt und ausgestattet. Für die Chorschranken stifteten die Gewandschneider in diesem Zusammenhang 61 ½ Mark sundisch.13) Dafür wurde ihr Wappen an der Nordseite außen am dritten Friesabschnitt von Westen angebracht.

Im Chorumgang der Doppelflügeltür gegenüber befand sich die Gerwekammer und die Kapelle der Kalandsbruderschaft. Somit betraten die Geistlichen den Chorraum durch diese Tür. Die auf den Türflügeln außen zu sehenden vier Kirchenväter blickten ihnen dabei entgegen, die innen dargestellten Kirchenpatrone Nikolaus, Katharina, Erzengel Michael und Apostel Andreas standen ihnen während ihres Aufenthalts im Chor vor Augen.14) Auch auf den Chorschrankentüren im Halberstädter Dom sind dessen Kirchenpatrone dargestellt.15)

Textkritischer Apparat

  1. Ergänzung eines Majuskelbuchstabens am Wortanfang entsprechend den noch vorhandenen Resten.

Anmerkungen

  1. Lediglich im westlichen Joch des südlichen Chorumgangsbereichs ist die Chorschranke an der Pfeilermitte befestigt. Auch weist dieser Abschnitt keinerlei Darstellungen auf. Die astronomische Uhr zwischen den beiden Pfeilern im Chorscheitel verbindet die Nord- und Südseite der Chorschranken; vgl. Kat.-Nr. 35 (1394). Die ursprüngliche Abtrennung des Chores nach Westen zum Mittelschiff hin ist – abgesehen von der Mensa des ehem. Kreuzaltares – nicht erhalten.
  2. Vgl. die Inschriften H–F, ebenso Haselberg, Stadtkreis Stralsund, S. 511.
  3. Die folgenden Angaben zum Zustand der Türen basieren auf Informationen des Dipl.-Restaurators Tino Simon (Dresden) im September 2013. Vgl. Tino Simon, Konservierung und Restaurierung der Chorschrankentüren aus der Kirche St. Nikolai zu Stralsund; Bd. 1: Praktischer Teil und Fotodokumentation, unveröffentlichte Diplomarbeit an der Hochschule für bildende Künste Dresden, Dresden 2011; Bd. 2: Dokumentation und Dokumentation der durchgeführten Maßnahmen im Anschluss an die gleichnamige Diplomarbeit, unveröffentlichte Restaurierungsdokumentation, Dresden 2013.
  4. Wohl im 19. Jh. wurden mit Bleistift die Namen von Gregor, Hieronymus und Augustinus über oder neben den mittelalterlichen Inschriften vermerkt.
  5. Diese Beschädigungen gehen möglicherweise auf die reformatorischen Auseinandersetzungen 1525 zurück, in denen es auch zu bilderstürmerischen Ausschreitungen kam. Aus späterer Zeit stammen einzelne eingeritzte Graffiti: außen auf dem Gewand des Augustinus die Initialen M P umgeben von einer wappenschildähnlichen Umrahmung, auf dem Gewand des Ambrosius die Buchstaben ASCH. Innen zwischen den Figuren von Katharina und Michael ADEN.
  6. Jeweils zwei handelnde Personen werden von zwei Dämonen am Bildrand angestachelt. Nicht alle Szenen lassen sich eindeutig einer Hauptsünde zuordnen. Den üblichen Attributen oder darstellerischen Konventionen folgend könnte es sich von West nach Ost betrachtet handeln um Faulheit (acedia), Neid (invidia), Völlerei (gula), Zorn (ira), Wolllust (luxuria), Geiz (avaritia) und Stolz (superbia). Zur Ikonographie vgl. Blöcker, Sieben Todsünden, S. 57–126.
  7. Zu den in diesem Engelskonzert dargestellten Instrumenten vgl. Tammen, Musik und Bild, S. 289–295, 467f.
  8. Vgl. Lc. 2,49.
  9. Wappen ? (drei Tatzen 2:1).
  10. Vgl. etwa DI 77 (Greifswald), Nr. 143 (1463), abschließender s-Versal in Inschrift D, Stein; einige weitere Beispiele, das früheste von 1468, bei Drös, Sinsheimer Stiftskirche, S. 213f., ebenfalls in Stein; DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 142 (E. 15./A. 16. Jh.), mit abschließendem s-Versal, hier gemalt. Zwar sind solche sich auflösenden Versalien in gemalten Inschriften früher zu erwarten als in Stein, ein Beispiel für gemalte, sicher in die erste Hälfte des 15. Jh. zu datierende, nicht überformte Versalien konnte jedoch nicht gefunden werden. Die Malereien im Kloster Maulbronn DI 22 (Enzkreis), Nr. 58 (1424, stark überarbeitet), zeigen zwar Schaftverdoppelungen, aber keine Tendenz zur Auflösung; ein ähnliches Beispiel aus Lübeck bei Albrecht (Hg.), Corpus 2, Nr. 40 (1503) mit zahlreichen Abb. von unzialen H-Initialen. Auch gemalte Inschriften der Stadt Köln zeigen vor der Mitte des 15. Jh. keine den Stralsunder Chorschrankentüren vergleichbaren Formen. – Für Hinweise zu den Zierformen danke ich den Kollegen Harald Drös, Ilas Bartusch, Rüdiger Fuchs, Hans Fuhrmann und Helga Giersiepen von den Inschriften-Arbeitsstellen Heidelberg, Mainz, Halle und Bonn.
  11. Weitzel, St. Nikolai, S. 63.
  12. Weitzel, St. Nikolai, S. 178.
  13. Kruse, Sundische Studien 1, Teil II, S. 23–25; bes. S. 24.
  14. Zur Lage der Gerwekammer und Kalandskapelle vgl. Weitzel, St. Nikolai, S. 109f.; auch ebd., Plan 1 (Kapelle O 12/13), S. 366; zu den Kirchenpatrozinien siehe S. 66f.
  15. DI 75 (Halberstadt Dom), Nr. 51 (um 1400).

Nachweise

  1. Haselberg, Stadtkreis Stralsund, S. 511f. (A–E).
  2. Weitzel, St. Nikolai, S. 371 Tf. 4 (C), S. 65 Abb. 6 (E), S. 69 Abb. 10 (H).
  3. LAKD/AD, Fotosammlung (E).

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 108 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0010801.