Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 107†? St. Katharinen, Dominikanerkloster 2.H.15.Jh.

Beschreibung

Gewölbemalerei im sog. Remter (heute Stralsund Museum). Die nicht mehr vollständigen und nicht im Originalzustand erhaltenen Malereien1) wurden erstmals 1887 bei Renovierungsarbeiten teilweise freigelegt, abgezeichnet und durch den Maler Stiegler vergrößert.2) Spätestens während der Renovierung des Saales 1919–1924 wurden sie wieder zugedeckt.3) Die zweite Freilegung und damit die erste Möglichkeit zu einer umfassenden Untersuchung und – angeblich sehr zurückhaltenden – Restaurierung bzw. Erneuerung ergab sich 1955.4) Die letzte Restaurierung wurde 1983 begonnen.5)

Die Mehrzahl der Joche in diesem dreischiffigen, insgesamt acht Joche langen Raum zeigt filigrane Ranken(-reste) sowie aus den unteren Zwickeln emporwachsende stärkere Ranken mit dicken Knospen oder Blüten, auf denen teilweise karikaturhaft anmutende Tier- und Menschenköpfe bzw. -halbfiguren sowie Architekturteile sitzen.6) Im fünften Joch des mittleren Schiffs, von Westen gezählt, acht Tier- und Menschenköpfe und Halbfiguren, denen Spruchbänder beigegeben sind. Beginnend mit dem Spruchband in der südlichen Ecke des östlichen Gewölbefeldes ergibt sich ein aus vier Versen bestehender, gereimter Spruch (A). In der Nordwestecke des dritten Jochs von Westen durchdringt ein längeres, kaum noch lesbares Spruchband (B) einen hundeähnlichen Kopf. Die Inschriften sind gemalt.

An erster Stelle der Edition des Sprichworts A steht der Inschriftenwortlaut, wie er sich aktuell präsentiert, also ohne editorische Ergänzungen oder Emendationen. Die älteste und vom Jetztzustand teilweise abweichende Überlieferung stellen die im Jahr 1887 angefertigten Pausen dar, die aus diesem Grund an zweiter Stelle wiedergegeben wird. Auch Haselberg orientierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts an dieser Fassung. Berckenhagen sah die Spruchbänder in den frühen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Inschriftenlesungen der jüngeren Literatur (Kimminus-Schneider, Lucke) folgen derjenigen von Kurtz, die die Malereien nach deren zweiter Freilegung 1955 untersuchte. Die 1887 gefundenen Malereien sind wohl noch heute unter den späteren Putz- und Farbschichten verborgen.

Inschrift Aa nach Befund, Inschrift Ab nach Universität Greifswald, Caspar-David-Friedrich-Institut, Bildarchiv.

Maße: Bu. 4,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Jürgen Herold [1/9]

  1. Aa

    un lache(n)a) uilb) : ‎// to desserc) tid ˑ ‎// ˑ des is vns ˑ ‎// [....]elt so wid ‎// [– – –] [...]hen wil ˑ ‎// to allen stu(n)den ‎// de wi vor [..]nen ‎// ock ghevundend)

  2. Ab

    wi lache(n) vro ˑ ‎// to (de)ssen tid ˑ ‎// ˑ des is uns ˑ ‎// werlt so wid ‎// to lachen wil ‎// to allen stu(n)den ‎// is tyt vor weenen ‎// ock ghevunden

  3. B

    [...]rte) dat [– – –]

Übersetzung:

(Aa) Und lachen viel zu dieser Zeit. Davon ist unsere Welt so weit, um viel zu lachen zu allen Stunden, die wir zum Weinen auch gefunden.

(Ab) Wir lachen froh zu dieser Zeit. Davon ist unsere Welt so weit, um viel (oder: eine Weile) zu lachen. Zu allen Stunden ist Zeit zum Weinen auch gefunden.

Versmaß: Deutsche Reimverse (A).

Kommentar

Paläografische Beobachtungen als Datierungshilfe sind aufgrund des überarbeiteten Zustands der Malereien nicht mehr möglich. In Gewölbezwickeln dargestellte sprechende Köpfe, die oft um Zwickellöcher herum aufgemalt wurden, sodass diese wiederum als Münder dienten, finden sich an Kirchengewölben in Stralsund (Kat.-Nr. 43) und andernorts in der Region7) und werden ins 15. Jahrhundert datiert. Nur im Stralsunder Dominikanerkloster wachsen diese Köpfe aus Knospen und Blüten hervor. Der Bau des zunächst zweischiffigen, dann dreischiffigen Saales selbst soll im Wesentlichen im 15. Jahrhundert erfolgt sein.8) Seine Bezeichnung als Remter bzw. seine Deutung als Sommerrefektorium sind neuzeitlich und somit spekulativ, zu seiner Bau- und Funktionsgeschichte liegen keine Informationen aus der Zeit vor der Reformation vor. Sicher ist, dass darin mehrere Bestattungen vorgenommen wurden. Vielleicht diente er als Refektorium, vielleicht aber auch als Versammlungsraum etwa für Provinzialkapitel der Ordensprovinz Saxonia, die nachweislich fünfmal zwischen 1315 und 1519 in Stralsund stattfanden.9)

In sprachgeschichtlicher Hinsicht sind die Inschriften nicht spezifisch genug, um sie zeitlich genauer als ins 15. oder auch 16. Jahrhundert einordnen zu können.10) Der Spruch lässt sich in Sammlungen und Nachschlagewerken zur Sprichwortüberlieferung nicht nachweisen. Seine genaue Bedeutung ist, auch aufgrund der uneinheitlichen Überlieferung vor allem der Verse 1 und 4, schwer auszumachen. Möglicherweise liegt ein Sinn zugrunde wie ‚Lachen und Weinen hängen eng zusammen‘, oder es war eine inhaltliche Anlehnung an Ecl. 3,1–8 beabsichtigt.11)

In der Literatur wurde wiederholt gefragt, ob die Ausmalung von dem Dominikanerkonvent, der bis 1525 das Kloster bewohnte, oder erst von den Nonnen des Birgittenordens veranlasst wurde. Die Nonnen zogen 1525 nach der weitgehenden Zerstörung ihres ursprünglichen, vor den Stadtmauern gelegenen Klosters in das geräumte Predigerkloster ein und bewohnten es bis zum Jahr 1559;12) danach wurden die Räume für das städtische Gymnasium und das Waisenhaus hergerichtet. Es wird auch für möglich gehalten, dass die Ausmalung zu Zeiten des Dominikanerklosters begonnen und von den Birgittinerinnen bald nach ihrem Einzug beendet wurde.13) Die Verse glaubte man dahingehend deuten zu können, dass man darin eine Referenz auf das zwischenzeitlich beklagenswerte, in neuen Räumen aber nun wieder fröhlich stimmende Schicksal der Schwestern sah.14) Dass die Aussagen solcher Inschriftenprogramme indes nicht unmittelbar auf ihren Anbringungsort bzw. ein aktuelles Anliegen ihrer Auftraggeber bezogen sein müssen, zeigt die Ausmalung in der Kirche des ehem. Benediktinerinnenklosters Verchen am Kummerower See (Ldkr. Mecklenburgische Seenplatte): Vier Köpfe in Gewölbezwickeln über dem Altar als liturgischem Zentrum der Kirche führen ein regelrechtes Gespräch über einen gerade ausgebrochenen Brand und rufen um Hilfe.15)

Fraglich ist, ob die Birgittinerinnen nach der Reformation in Stralsund und dem damit verbundenen Vermögensverlust ihres Konvents noch über ausreichende finanzielle Mittel verfügt hätten, um den Saal für sich neu ausmalen zu lassen. Vor diesem Hintergrund werden die Inschriften in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert und ihre Entstehung den Dominikanern zugewiesen. Die sich daran anschließende Frage, wie die Malereien mit ihren weltlichen, teilweise drolerie- oder sogar karikaturähnlichen Motiven und volksprachigen Inschriften in einem dominikanischen Kontext zu deuten sind, muss angesichts fehlender Parallelbeispiele sowohl im Hinblick auf die Bildmotive als auch auf die Sprachwahl unbeantwortet bleiben.16)

Textkritischer Apparat

  1. lache(n)] Der Nasalstrich wurde bei der jüngsten Restaurierung nicht aufgefrischt, ist aber noch zu erkennen.
  2. uil] l-Haste ohne Oberlänge.
  3. to desser] to und das abschließende -r in desser wurden bei der jüngsten Restaurierung nicht aufgefrischt, sind aber noch zu erkennen.
  4. ghevunden] o- in ock und -en in ghevunden wurden bei der jüngsten Restaurierung nicht aufgefrischt, sind aber noch zu erkennen.
  5. Lesung unsicher.

Anmerkungen

  1. Einzelne Joche stürzten ein oder wurden zerstört, um Treppenaufgänge ins erste Obergeschoss zu schaffen; vgl. Kurtz, Katharinenkloster, S. 162f. Diese Gewölbedurchbrüche sind nicht mehr vorhanden. Mehrere Gewölbejoche des Refektoriums zeigen gar keine oder nur noch spurenhafte Ausmalungsreste. Zum Erhaltungszustand der Malereien vgl. Anm. 4–6.
  2. Die ursprünglich im Stadtarchiv Stralsund aufbewahrten Originalpausen konnten nicht gefunden werden. Mehrere Fotoabzüge werden im Bildarchiv des Caspar-David-Friedrich-Instituts der Universität Greifswald aufbewahrt. Sie sind nummeriert als Blätter II bis XX, es fehlen die Blattnummern I, V, VII, XIII–XV und XVIIII; zwei weitere Abzüge sind nicht nummeriert. Inschrift A ist abgebildet auf den Abzügen IX–XII (Z. 1–2) und XVI (Z. 4, ock ghevunden). Haselberg, Stadtkreis Stralsund, S. 427, spricht von neun Blättern, die „nach Skizzen des Waisenvaters Schulze von dem Maler Stiegler vergrössert“ wurden.
  3. Kurtz, Katharinenkloster, S. 163; Kimminus-Schneider, Katharinenkloster, S. 14.
  4. Kurtz, Katharinenkloster, S. 163f., dazu Zitat S. 164: „Wo Unsicherheit herrschte, sei es in Form oder Farbe, wurde es offen bekannt und nicht der Phantasie Spielraum gelassen“. Bezogen auf die Inschriften vermerkt die Autorin ebd., S. 172, man habe „nur die als ganz sicher geltenden Buchstaben wieder hervorgeholt“. Vgl. dagegen die Behauptung bei Lucke, Gewölbemalerei, S. 132, die „in den zwanziger und fünfziger Jahren erfolgten Restaurierungen wurden nur fragmentarisch und zum Teil frei ergänzend durchgeführt, so daß partiell mit einer Entstellung der ursprünglichen Fassung gerechnet werden muß“.
  5. Vgl. Lucke, Gewölbemalerei, S. 131. Auf die Problematik, dass die älteste (die Original-?) Fassung ohnehin bereits 1887 übertüncht wurde und daher alle späteren Restaurierungen bzw. Rekonstruktionen nicht weiter zurück als zu den auf der Grundlage der damals angefertigten Pausen neu aufgetragenen Malereien kommen, gehen weder Lucke noch Kurtz (vgl. Anm. 4) ein.
  6. Auch diese Darstellungen sind nicht mehr im Originalzustand erhalten. Die teilweise belebt und handelnd gestalteten Figuren, u. a. ein Wolf(?) mit einer Kröte auf der Zunge, ein Mann mit drei Mäusen oder Ratten vor dem Mund sowie ein weiterer, der auf einer Fiedel spielt, im vierten Joch der Nordseite und eine Frau mit einem Butterfass im siebten Joch der Nordseite haben zu der Vermutung veranlasst, es seien Sprichwörter in Szene gesetzt worden.
  7. Vgl. etwa die schlecht erhaltenen Malereien im südlichen Seitenschiff von St. Marien in Greifswald, DI 77 (Greifswald), Nr. 87.
  8. Kurtz, Katharinenkloster, S. 181, zufolge, war der zweischiffige Remter „nicht vor 1440 fertig, vielleicht aber sogar noch später“. Die Joche der Südseite wurden vermutlich später angebaut (Kimminus-Schneider, Katharinenkloster, S. 12). Die Annahme, auch die drei westlichen Joche mit den Sterngewölben gingen auf eine spätere Baumaßnahme zurück, wurden durch eine 2002/03 durchgeführte Grabung widerlegt (Schneider, Grabungen, S. 6). Eine detaillierte bauarchäologische Untersuchung des Klosterkomplexes ist jedoch bislang nicht erfolgt. Lucke, Gewölbemalerei, S. 133, datiert die Malereien „nach 1465 und vor 1500“.
  9. Dies nach Schneider, Grabungen, S. 7; zu den 2002/2003 freigelegten Bestattungen vgl. ebd., S. 4f.
  10. Für ausführliche Hinweise im Juli 2013 zur sprachlichen Gestalt der Inschrift sowie zu ihrer Bedeutung danke ich Ingrid Schröder, Hamburg, vielmals.
  11. Wortlaut der Vulgata: Omnia tempus habet et suis spatiis transeunt universa sub caelo, tempus nascendi et tempus moriendi, (...), tempus flendi et tempus ridendi (...). – Wortlaut der niederdeutschen Bibel, Lübeck: Steffen Arndes 1494 (GW 4309): Alle dynghe hebben ere tyd. vnde alle dinghe ghaen eren ghank vnder deme hemmel. Dat is tyd to werden ghebaren. vnde tyd to steruende (...), Tyd to schryende yn deme vnghelucke tyd to lachgende in deme lucken (...).
  12. Vgl. Hoogeweg, Klöster 2, S. 727, 738.
  13. Hoffmann, Reformation, S. 110; Kimminus-Schneider, Katharinenkloster, S. 15.
  14. Diese Deutung zuerst bei Kurtz, Katharinenkloster, S. 188; ihr folgend auch bei Lucke, Gewölbemalerei, S. 131.
  15. Die Inschriften sind nicht publiziert. Der niederdeutsche Text in gotischer Minuskel auf den vier Spruchbändern lautet: bu ba ba(m) ba(m), wor brent yt, vor den pulre dore und schließlich tho iodute.
  16. Hinsichtlich der Darstellung weltlicher Motive in klösterlichen Räumen kann hier nur auf den sog. Fürstensaal im Zisterzienserkloster Chorin (Brandenburg) verwiesen werden, dessen – später überdeckte – Malereien des frühen 14. Jh. vielleicht das Thema Gute und schlechte Herrschaft behandeln (so Brandenburgisches Klosterbuch 1, S. 347), sowie auf einen Raum im Franziskanerkloster Zittau (Sachsen), dessen Wand einen Jungbrunnen des 15. Jh. zeigt. Ich danke Sebastian Mikisch, Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte, Projekt ‚Innen und Außen: Konstruktion und Symbolik von Grenz- und Schwellenräumen im mittelalterlichen Kloster‘, Technische Universität Dresden, herzlich für den Hinweis auf diese Beispiele (8.5.2013).

Nachweise

  1. Haselberg, Stadtkreis Stralsund, S. 427 (A).
  2. Berckenhagen, Wandmalereien, S. 70 (A).
  3. Kurtz, Katharinenkloster, S. 169–172.
  4. Lucke, Gewölbemalerei, S. 131 (A).
  5. Kimminus-Schneider, Katharinenkloster, S. 15 (A).
  6. Hoffmann, Stralsund, S. 110.
  7. Universität Greifswald, Caspar-David-Friedrich-Institut, Bildarchiv.

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 107†? (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0010704.