Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 102(†) St. Nikolai um 1480–1490

Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen.

Beschreibung

Retabel des Hochaltars. Eichenholz, geschnitzt und farbig gefasst, mit Tafelgemälden. Das ursprünglich aus dem Schrein, vier Flügeln, der Predella und einem Aufsatz bestehende Retabel wurde unter anderem 1855/56, nach dem Zweiten Weltkrieg sowie 1995 restauriert. Dabei wurde es großflächig auch im Bereich der Inschriften übermalt, fehlende Teile wurden ergänzt.1) Im Zuge der Auslagerung des Retabels während des Zweiten Weltkriegs2) gingen ein großer Teil des Aufsatzes, nämlich viele seiner Schnitzfiguren, das Zierwerk und die Figurenschreine mit Tafelgemälden verloren. Die drei geschnitzten Sitzfiguren der Heiligen Katharina, Nikolaus und Philippus wurden 2008 wieder oben auf dem Schrein angebracht.3) Die beidseitig bemalten Außenflügel sind heute getrennt von den übrigen Retabelteilen an zwei Chorpfeilern in St. Nikolai befestigt. Die inneren Flügel wurden bereits im 19. Jahrhundert in geöffnetem Zustand fixiert.

Das Retabel ist daher heute in der zweiten Wandlung zu sehen: Im geschnitzten Schrein ehemals ein volkreicher Kalvarienberg. Im Vordergrund rechts eine sitzende Figur, die auf verschränkten Beinen eine Schriftrolle hält und im Begriff ist, den Titulus für das Kreuz Christi (A) herzustellen. Auf dem Schreinhintergrund oberhalb der Figuren sind heute zahlreiche Versatzmarken zu erkennen, die teilweise ziffernähnlichen Charakter haben; die ursprünglich hier platzierten Figuren sind verloren. Auf den Innenseiten der inneren Flügel Passionsszenen: links Christus am Ölberg sowie Dornenkrönung und Kreuztragung. Auf dem rechten Flügel die Gefangennahme Christi und sein Verhör durch Pilatus sowie die Geißelung.

Außenflügel: Auf den stark beschädigten Außenseiten ehemals acht Heilige, zu identifizieren noch auf dem linken Flügel der Erzengel Michael, unter ihm zwei weibliche Heilige; auf dem rechten Flügel Johannes Bapt. und Johannes Ev.4) Auf den Innenseiten Szenen aus dem Leben der Heiligen Anna und Maria. Linker Flügel, oben: Auf dem Altar des Tempels, in dem Annas Ehemann Joachim sein Opfer darbringt, stehen die Gesetzestafeln mit einer pseudo-hebräischen Inschrift. Darunter sind die Geburt Mariens und die Heilige Sippe dargestellt. Auf dem rechten Flügel die Begegnung von Maria und Elisabeth, die Eheschließung von Maria und Joseph sowie die Himmelfahrt Mariens.5)

In der Predella drei geschnitzte Szenen aus dem Marienleben, links eine Verkündigung mit dem erneuerten Spruchband B. Auf den Seiten des Buches, in dem Maria liest, ein Renovierungsvermerk des Jahres 1856.6) Weiterhin sind die Geburt und die Beschneidung Christi dargestellt.

Aufsatz: Vom Aufsatz des Schreins sind, wie bereits erwähnt, nur die Skulpturen dreier sitzender Kirchenpatrone erhalten. Sie sind älter als der Schrein7) und befanden sich in Nischen, die durch Holzflügel verschlossen werden konnten. In geöffnetem Zustand waren auf den Flügel-Innenseiten insgesamt zehn stehende Figuren zu sehen, die mehrfach gewundene Schriftbänder in Händen hielten. Oberhalb der Nischen der Kirchenpatrone waren drei hohe, durch einen schmalen, krabbenbesetzten Bogen verbundene Fialtürme angebracht. Nicht nur die ursprüngliche Komposition des Aufsatzes, sondern auch die Lesungen der auf die Flügeltafeln gemalten Inschriften (C–M) sind aufgrund jüngster Recherchen möglich. Diese wurden durchgeführt von Gerd Meyerhoff, Baureferent der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, der im Jahr 2018 detailgenaue historische Abbildungen heranziehen und auswerten konnte.8) Von links nach rechts waren die folgenden Figuren zu sehen: auf den Flügeln der Skulptur der hl. Katharina Abraham (C), Samuel (D1) mit einer nur noch teilweise lesbaren Gewandsauminschrift (D2) und David (E); der Nimbus des mittig platzierten Hauptpatrons der Kirche, Nikolaus, zeigte Inschrift F, auf den Schreinflügeln Judas Makkabäus (G), Jesus Sirach (Ecclesiasticus, H), Zacharias (I) und Jesaias (J); schließlich rechts auf den Flügeln der Philippus-Figur Ezechias (K) sowie zwei Autoren, der antik-römische Lukan (L) und der spätantik-christliche Salvianus von Marseille (M). Vor allem die Stellennachweise, aber auch die Inschriftenlesungen beruhen auf den Recherchen von Gerd Meyerhoff, deren unpublizierte Ergebnisse er mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. An denjenigen Stellen, an denen sich seine Lesungen anhand der zugrundeliegenden Fotografien nicht nachvollziehen ließen, werden diese in Anmerkungen wiedergegeben. Abgesehen von häufig gesetzten Hochpunkten ist die Form der Worttrennzeichen in aller Regel nicht sicher zu erkennen. Die Inschriften sind bzw. waren gemalt.

Inschriften C, D1, D2, E, F, G, H, I, J, K, L, M nach Fotosammlung Meyerhoff.

Maße: Br. 665 cm (mit Flügeln), H. 430 cm (mit Predella, ohne Aufsatz). Bu. 5 cm (A), 2 cm (B).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, D, F); gotische Minuskel mit Versalien in gotischer Majuskel (C, D, E, G, H, I, J, K, L, M); Majuskel (B).

Jürgen Herold [1/6]

  1. A

    I(ESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDEORVM)9)

  2. B

    ⟨AVE : MARIA : GRATIA⟩10)

  3. C†

    Abraham ˑ Postea transibitis11) ˑ ber12) ˑ 18

  4. D1†

    Samuel ˑ Deum adorandum ˑ predicabat13) ˑ ˑ I ˑ [..]a) 7

  5. D2†

    [..] A H B [....]

  6. E†

    Dauid ˑ Maledicti qui declinant a mandatis tuis14) ˑ psb)

  7. F†

    [S]ANCTV[S NICOLAVS]

  8. G†

    ˑ Macha[.]c) Eius memoria15) ˑ [– – –]d)

  9. H†

    ˑ Ecclesiastic(us) Miserere ˑ anime tue16) ˑ Ca ˑ iiie) ˑ

  10. I†

    Zacharias ˑ Percutiam pastorem17) ˑ Ca ˑ ixf)

  11. J†

    Ysaia ˑ Non aperuit os suum18) ˑ liii ˑ

  12. K†

    E[z]echia Viuificab[at] animas19) ˑ Ca ˑ 14 ˑ

  13. L†

    Lucanus ˑ Summu(m) brute nefasg) ciuilia bella20)

  14. M†

    Salui[– – –]h)

Übersetzung:

(B) Sei gegrüßt, Maria, (...) Gnade (...).

(C) Danach mögt ihr weiterziehen.

(D1) Er predigte, dass (nur) Gott anzubeten ist.

(E) Verflucht (sind diejenigen), die von deinen Geboten abweichen.

(F) Der heilige Nikolaus.

(G) Sein Andenken (...).

(H) Prediger: Erbarme dich deiner Seele.

(I) Ich werde den Hirten schlagen.

(J) Er öffnete seinen Mund nicht.

(K) Er belebte die Seelen.

(L) Das größte Unrecht, Brutus, ist der Bürgerkrieg.

Kommentar

Die Datierung des Retabels orientiert sich an den Ergebnissen dendrochronologischer Untersuchungen und an stilistischen Vergleichen.21)

Die Figuren auf den Flügeln des Retabelaufsatzes halten Spruchbänder, die – soweit nachweisbar – mit zwei Ausnahmen (Inschrift L Lukan, M wohl Salvianus von Marseille) – alttestamentarische Bibelstellen wiedergeben oder darauf verweisen. Die Texte sind jedoch so kurz, dass sie aus sich heraus nur schwer bis gar nicht verständlich sind, sondern kontextbezogenes Wissen voraussetzen; eine Gesamtaussage lässt sich nicht ohne Weiteres erkennen. Gerd Meyerhoff vermutet, übergreifendes Thema der Inschriften sei das den Geboten Gottes gemäße Leben. Erstaunlich ist, dass nicht die unteren, gut einsehbaren Retabelteile, sondern der Aufsatz, ein relativ schwer einsehbarer Bestandteil, als Ort für ein umfangreiches Inschriftenprogramm gewählt wurde. Der antik-römischen Autor Lukan († 65) und der spätantik-christliche Schriftsteller Salvianus von Marseille († um 465) lassen sich in Inschriftenprogrammen kaum nachweisen.

Textkritischer Apparat

  1. Hier ca bei Meyerhoff.
  2. ps] psa Meyerhoff.
  3. Macha[.]] Machab Meyerhoff.
  4. Hier ca ˑ (iii) Meyerhoff.
  5. iii] xxx Meyerhoff.
  6. ix] xiii Meyerhoff.
  7. nefas] Verbessert aus nepi (Meyerhoff).
  8. Salui[---]] Saluianus Praes: iudici(o) Ca VII [?] Ad (e)cles(iam) Meyerhoff.

Anmerkungen

  1. Zusammenfassend Kunkel, Werk, S. 198, 372; Weitzel, St. Nikolai, S. 79f., beide auf der Grundlage von Witt, Hochaltarretabel, passim. Vgl. auch Ehlich, Restaurierungen, S. 131: „Die einzigen originalen Reste mittelalterlicher Malerei befinden sich auf den Malflügeln und auf der Rückseite der Altarflügel“.
  2. Dazu Weitzel, St. Nikolai, S. 79.
  3. Da der dritten Figur das ursprünglich in der Hand gehaltene Attribut fehlt, wurde sie bislang als der Kirchenpatron und Apostel Andreas identifiziert. Historische Fotografien belegen jedoch, dass der dargestellte Heilige in der Rechten einen Kreuzstab hielt. Es wird sich daher um den Apostel Philippus handeln.
  4. Nach Weitzel, St. Nikolai, S. 86.
  5. Zu den insgesamt zwölf Darstellungen der ersten Wandlung, also der gemalten, nur teilweise erhaltenen Szenen auf den Außenseiten der inneren Schnitzflügel und den Innenseiten der Außenflügel bereitet Gerd Meyerhoff, Stralsund, eine Publikation vor.
  6. In roter und schwarzer Farbe und einer gotisierenden Minuskelschrift mit Versalien ist zu lesen: Unter dem Ober-/bürger Meister Schwing und dem Pro/visorats Inspector / Reimarus / wurde dieser Altar / im Jahre 1856. etc. / restauriert. von dem Bildhauer Holbein in / Berlin. Es folgt eine Ranke.
  7. Dazu Witt, Hochaltarretabel, S. 296.
  8. Die im Jahr 2011 vorliegenden Informationen zum Retabelaufsatz werden zusammengestellt bei Weitzel, St. Nikolai, S. 83–85.
  9. Io. 19,19.
  10. Mariengebet nach Lc. 1,28.
  11. Gen. 18,5 (ponamque buccellam panis et confortate cor vestrum postea transibitis).
  12. Gen. 18,5; die Abkürzung des Bibelbuchs in der Inschrift nach dem hebräischen Textanfang des Buchs Genesis, ‚Bereschit‘.
  13. Nach Meyerhoff liegt wohl I Sm. 7,3 (ait autem Samuhel ad universam domum Israhel dicens si in toto corde vestro revertimini ad Dominum auferte deos alienos de medio vestrum et Astaroth et praeparate corda vestra Domino et servite ei soli) zugrunde.
  14. Ps. (G) 118,21.
  15. Vgl. I Mcc. 3,7 (et in saeculum memoria eius in benedictione).
  16. Sir. 30,24 (miserere animae tuae placens Deo).
  17. Sach. 13,7 (so Meyerhoff; percute pastorem et dispergantur oves).
  18. Is. 53,7 (oblatus est quia ipse voluit et non aperuit os suum).
  19. Meyerhoff zufolge möglicherweise nach Is. 38,16 (corripies me et vivificabis me). Ezechia ist eine Namensform von Hiskija. Dieser König von Juda erlebte eine gottgegebene und durch Jesaias erbetene Genesung.
  20. Lukan, De bello civili, Liber 2 (Summum, Brute, nefas civilia bella fatemur).
  21. Vgl. Kunkel, Werk, S. 371f.; Weitzel, St. Nikolai, S. 81, beide auf der Grundlage von Witt, Hochaltarretabel, S. 296.

Nachweise

  1. Münzenberger, Altäre, Tf. 8 (D1).
  2. Lange (Hg.), Räume, S. 174 (Abb., A).
  3. Fotosammlung Meyerhoff, Stralsund (C–M).

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 102(†) (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0010209.