Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 64 Stralsund Museum um 1440–1450, 1622?

Beschreibung

Altarretabel der Barbiere,1) vierflügelig, ehemals mit Standflügeln. Eichenholz, geschnitzt und farbig gefasst. Das Retabel ist beschädigt, die Predella nicht erhalten, die Standflügel fehlen. Der Altar der Barbiere befand sich bis zu seinem Abbruch 1834 in St. Nikolai in der Kapelle dieses Amtes im nördlichen Bereich des Chorumgangs.2) Das Retabel mit einem nachträglich aufgesetzten, nicht dazugehörenden Kamm wird seit 1925 im Museum aufbewahrt.3) Im geschlossenen Zustand sind oben links Maria mit dem Jesuskind, rechts Johannes Ev., unten links der heilige Olav, rechts Katharina dargestellt. Auf dem Rest des linken Standflügels zwei Heilige mit Keule bzw. einem Salbgefäß.4)

In der ersten Wandlung sind in zwei Reihen acht gemalte Szenen aus dem Leben des Johannes Ev. zu sehen: oben von links nach rechts Johannes auf der Insel Patmos, das Buch der Offenbarung empfangend, und bei der Ölmarter in Rom. An dritter Stelle besteht Johannes die Giftprobe, in seinem Nimbus Inschrift A, auf dem Boden zwei sterbende Verbrecher; rechts der Priester Aristodemos mit Johannes, der zwei Tote wiedererweckt. Im unteren Register verkündet Johannes das Evangelium und erweckt einen Jüngling von den Toten. Hier in seinem Nimbus Inschrift B1, über der Szene ein Spruchband mit B2. An dritter Stelle die letzte Messe des Johannes gefolgt von der Selbstbestattung mit dem Mannawunder. Die Szenen aus der Johannesvita werden horizontal durch acht Prophetenbüsten mit leeren Spruchbändern geteilt.

Die zweite Wandlung zeigte ursprünglich acht geschnitzte Reliefs, wobei vier neutestamentlichen Szenen aus dem Leben Christi bzw. Mariens im oberen Register alttestamentliche Szenen im unteren zugeordnet waren. Die vier erhaltenen Szenen des oberen Registers sind in der falschen Reihenfolge angeordnet, weshalb die Konturen des rotbraunen Hintergrundes nicht mit den Umrissen der in den Schrein eingesetzten Szenen übereinstimmen: von links nach rechts die Anbetung Christi durch die Heiligen Drei Könige und die Geburtsszene. Hier halten zwei Engel ein Spruchband. Von der dort ursprünglich aufgemalten Inschrift ist nur noch ein roter Versal zu sehen (C). Im 17. Jahrhundert wurde in dunkler Farbe ein zweizeiliger Vermerk angebracht (D). Es folgt an dritter (statt an erster) Stelle die Verkündigung; der Erzengel Gabriel und Maria halten um den Kopf verlaufende Spruchbänder (E1, E2) mit stark beschädigten Inschriften; der Anfang des Spruchbandes mit dem Englischen Gruß (E1) ist zudem abgebrochen. Rechts oben die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten. Von den vier Bildreliefs der unteren Reihe sind drei verloren; ganz rechts Michal, die ihrem Mann König David zur Flucht vor Salomon verhilft. Die Inschriften A und B sind gepunzt, C, D und E gemalt.

Maße: H. 170 cm, Br. 170 cm (geöffnet), 84 cm (Schrein). Bu. 1,7 cm (A, B), 0,5 cm (C), 0,3 cm (D), 2,5 cm (E).

Schriftart(en): Gotische Minuskel (B2, E) mit Versalien (A, B1), Majuskel (C), Kursive (D).

Jürgen Herold [1/4]

  1. A

    Sa(n)ct(us) ioh(ann)es

  2. B1

    S(anctus) ioha(n)nes ˑ

  3. B2

    ˑ surge ˑ in ˑ ih(es)u ˑ (christ)[i]a) ˑ no(m)i(n)e5)

  4. C

    G[– – –]b)

  5. D

    ⟨gebort Jesu ... ‎/ E..tsia 162.⟩c)

  6. E1

    [– – –] ˑ p[lena] ˑ d(omi)n(u)s ˑ [– – –]6)

  7. E2

    [– – – anci]lla [ˑ] d(omi)ni [– – –]7)

Übersetzung:

(A) Der heilige Johannes.

(B1) Der heilige Johannes.

(B2) Erhebe dich im Namen Jesu Christi.

(E1) (...) voller (...), der Herr (...).

(E2) (...) Magd des Herrn (...).

Kommentar

Die stilistische Datierung des Retabels um 1440–1450 wird hier übernommen.8) u-Schäfte in Inschrift B2 links gebrochen, rechts abgeschrägt. Auf den ursprünglichen Standort des Retabels weist auch die noch heute im nordöstlichen Bereich des Chorumgangs liegende Altarmensa hin, die im 17. Jahrhundert als Grabplatte der Barbiere und Chirurgen genutzt wurde; vgl. Kat.-Nr. 330. Die nicht vollständig lesbare Jahreszahl in Inschrift D könnte auf eine nachreformatorische Nutzung des Retabels hinweisen. Johannes Ev. wurde bei zahlreichen Krankheiten, etwa bei Epilepsie, Fußleiden und Vergiftungen angerufen. Er förderte Genesung und Schönheit, wurde immer als junger bartloser Mann dargestellt und daher von den Barbieren besonders verehrt.

Textkritischer Apparat

  1. (christ)[i]] Befund xp, danach Fehlstelle.
  2. Vielleicht ehemals Gloria in excelsis deo.
  3. 162[.]] Lesung der vier letzten Zeichen nicht ganz sicher; falls als Jahreszahl zu lesen, dann letzte Ziffer möglicherweise 2, also 1622.

Anmerkungen

  1. Stralsund Museum, Inv.-Nr. 1925:0121.
  2. Dazu Weitzel, St. Nikolai, S. 180; Kunkel, Werk, S. 229f., 350; auch Buchholz, Barbiere, S. 175f.
  3. Im Jahr 1924 befand sich das Retabel noch in der Nähe seines ursprünglichen Standorts gegenüber dem Junge-Retabel (Uhsemann, Nikolaikirche, S. 47).
  4. Die Keule als Attribut weist auf Judas Thaddäus (so Kunkel, Werk, S. 228, 349) oder den Bischof Apollinaris von Ravenna hin (so Weitzel, St. Nikolai, S. 211f.), der gegen zahlreiche Krankheiten schützt. Apollinaris wird jedoch im Allgemeinen in liturgischer Kleidung dargestellt, die auf dem Retabel nicht zu sehen ist. Das Salbgefäß als Attribut der unteren Figur könnte Cosmas oder Damian zuzuordnen sein, die sich als Patrone der medizinisch tätigen Barbiere in besonderer Weise anbieten, da sie als Ärzte tätig waren.
  5. Act. 3,6 (in nomine Jesu Christi Nazareni surge).
  6. Mariengebet nach Lc. 1,28.
  7. Lc. 1,38 (ecce ancilla Domini fiat mihi secundum verbum tuum).
  8. Vgl. Kunkel, Werk, S. 349.

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 64 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0006404.