Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 63 St. Nikolai M.15.Jh.

Beschreibung

Altarretabel1) mit Marienskulptur. Holz, geschnitzt und farbig gefasst, mit Tafelgemälden. Das sog. Junge-Retabel wurde mehrfach, zuletzt 1993 restauriert. Sein ursprünglicher Standort ist unbekannt. Um 1840 war es beschädigt und im Chorumgang über der Sakristeitür angebracht, im frühen 20. Jahrhundert in einer Kapelle des nördlichen Seitenschiffs abgestellt.2) Zwischen 1925 und 1959 befand sich das Retabel im Museum, seit der letzten Restaurierung steht es im nördlichen Bereich des Chorumgangs auf einer modernen Altarmensa.3) Im Mittelschrein unter einem aufwändigen Schnitzbaldachin die stehende, gekrönte Schöne Madonna mit dem Jesuskind, die ursprünglich als freistehende Einzelfigur geschaffen wurde und deutlich älter als der Schrein ist.4) Rechts und links daneben ehemals je zwei Engel, von denen nur die beschädigte Figur rechts erhalten ist. In den Flügeln ehemals je vier schon 1902 fehlende Heiligenfiguren. Auf dem Kasten ein durchbrochener Kamm mit großen Kreuzblumen und Maßwerk; darin drei Wappenschilde, deren äußere Inschrift A flankieren. Nach dem zweiten Wappen ein Blattornament.

Da die Schnitzfiguren der Flügel-Innenseiten nicht erhalten sind, wurden die Flügel 1993 so montiert, dass deren eigentliche Außenseiten mit der gemalten Verkündigung zu sehen sind. Links der Engel mit dem Spruchband B. Rechts die stehende Maria, die ein Buch in der Hand hält, auf dessen linker Seite Inschrift C. Die Inschriften B und C schwarz, Versalien und Worttrenner rot. Die Worttrenner quadrangelförmig, vor allem in Inschrift B auch mit ausgezogenen Zierstrichen. Inschrift A ist durchbrochen geschnitzt, B und C sind gemalt.

Maße: Br. 220 cm (mit Flügeln), H. 295 cm (mit Kamm). Bu. ca. 18 cm (A), 4,2 cm (B), ca. 1,4 cm (C).

Schriftart(en): Gotische Minuskel (A) mit Versal in gotischer Majuskel (B, C).

Jürgen Herold [1/4]

  1. A

    : maria : ‎/ ihesus :

  2. B

    Aue ˑ mariaa) ˑ gracia ˑ plena ˑ dominus ˑ tecum ˑ benedicta5) ˑ

  3. C

    Ecce ˑ ‎/ ancilla ˑ ‎/ ˑ domini ˑ ‎/ ˑ fiat ˑ mi‎/chi ˑ secun‎/[d]um ˑ ver‎/bum ˑ tuum6)

Übersetzung:

(B) Sei gegrüßt, Maria, voller Gnade, der Herr ist mit dir, gesegnet.

(C) Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort.

Wappen:
Junge?7)Junge

Kommentar

Die schlanke gotische Minuskel in B und C zeigt keine gegabelten Hastenenden und auch nicht das sonst verbreitete Kasten-a. u mit beidseitig (auch Inschrift A) oder nur links gebrochenen Schäften, e-Balken als kurzer Schrägstrich, s in Form zweier deutlich gegeneinander verschobener, gebrochener Bögen, die durch einen dünnen Schrägstrich verbunden sind.

Die beiden äußeren Wappenschilde tragen das Wappen der Familie Junge, die sich im frühen 15. Jahrhundert aus Lübeck kommend in Stralsund niederließ. Auch die beiden Männerköpfe auf dem mittleren Wappenschild werden als Wappenbild gedeutet,8) das sich jedoch nicht identifizieren lässt. Als Stifter des Retabels kommt Albert Junge infrage, denn er ist der einzige Amtsträger dieses Namens und damit der prominenteste zeitgenössische Vertreter dieser Familie. Albert Junge war seit 1424 Altermann der Gewandschneider und seit 1432 Ratsherr. Er starb im Jahr 1446.9) Der Zeitraum 1432–1446 wird daher für die Stiftung und Aufstellung des Retabels genannt.10) Als weiterer Entstehungszusammenhang wird die Verfestung seines Bruders Jürgen Junge im Jahr 1456 wegen des Mordes an seiner Ehefrau Wobbeke und eine nachfolgende Sühneleistung in Betracht gezogen.11) Eine Unsicherheit bleibt, da der Kamm wohl erst nachträglich auf das Retabel montiert wurde.12) Die Umstände, dass zum einen Albert Junge Altermann der Gewandschneider war und dass zum anderen das Retabel zeitweilig auf dem Untersatz des Gewandschneideraltars stand, haben zu der Vermutung geführt, das Retabel sei für den Altar der Gewandschneider in St. Nikolai gestiftet worden.13)

Textkritischer Apparat

  1. Wort fehlt bei Stange.

Anmerkungen

  1. Weniger von einem Altarretabel, sondern vielmehr von einem verschließbaren Andachtsschrein spricht Kunkel, Werk, S. 116–123, bes. S. 118f., auch S. 212.
  2. Vgl. StA Stralsund, Hs. 303, Bl. 33v; in der Sander-Florenzschen Kapelle laut Hagemeister, Nikolaikirche, S. 10 (auf einem Untersatz des Gewandschneideraltars abgestellt); Uhsemann, Nikolaikirche, S. 46.
  3. Vgl. Voss, Nebenaltäre, S. 139–141; Weitzel, St. Nikolai, S. 177.
  4. Zur kunsthistorischen Einordnung dieser Schönen Madonna vgl. zusammenfassend Weitzel, St. Nikolai, S. 206–209.
  5. Mariengebet nach Lc. 1,28.
  6. Lc. 1,38.
  7. Wappen ? (im oberen Bereich zwei männliche Köpfe mit Bart und Hut, untere Schildhälfte zerstört).
  8. Dazu Weitzel, St. Nikolai, S. 175f.
  9. Angaben nach Brandenburg, Magistrat, S. 87, und StA Stralsund, Hs. 359 (Dinnies, Verzeichnis 1), S. 353–355; Jahresangaben dort teilweise von anderer Hand korrigiert. Zaske, Kirchen Stralsunds, S. 134, und Fründt, in: Kat. Parler 2, S. 539, nennen 1431 als Eintrittsjahr Albert Junges in den Rat.
  10. Fründt, in: Kat. Parler 2, S. 539; ähnlich auch Stange, Verzeichnis 1, S. 190, Nr. 621.
  11. Vgl. Paul, Kunst, S. 47f. Zur Genealogie der Familie Junge vgl. StA Stralsund, Hs. 364 (Dinnies, Stammtafeln 1), S. 157a–158.
  12. Die Zusammensetzung des Retabels wird ausführlich bei Kunkel, Werk, S. 120–123, diskutiert.
  13. Vgl. etwa Zaske, Kirchen Stralsunds, S. 134; Voss, Nebenaltäre, S. 139. Dazu zuletzt Kunkel, Werk, S. 121; Weitzel, St. Nikolai, S. 175f.

Nachweise

  1. Haselberg, Stadtkreis Stralsund, S. 480 (A).
  2. Uhsemann, Nikolaikirche, S. 47 (A).
  3. Zaske, Kirchen Stralsunds, Abb. 43.
  4. Stange, Verzeichnis 1, S. 190, Nr. 621 (B, C).
  5. Voss, Junge-Madonna, S. 68 (Abb.).

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 63 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0006307.