Inschriftenkatalog: Stralsund

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 102: Inschriften Stadt Stralsund (2016)

Nr. 56 St. Nikolai um 1450, 17.Jh.

Beschreibung

Altarretabel der Riemer und Beutler. Holz, geschnitzt und farbig gefasst, mit Tafelgemälden. Teilweise beschädigt, dadurch Schriftverlust. Das Retabel, ursprünglich an der Nordwand der nördlichen Turmhalle,1) und ist heute unter der Orgel am nordöstlichen Turmpfeiler angebracht. Ehemals vierflügelig mit Standflügeln. Die äußeren, beweglichen Malflügel und einige Schnitzfiguren des Schreins sind verloren. Der Schrein und die Predella wurden nach der letzten Restaurierung in den 1990er Jahren, die teilweise wohl auch die Inschriften betraf, neu montiert.

Auf den Standflügeln auf rotem Untergrund links der heilige Andreas und ein Bischof (Nikolaus oder Eligius?),2) rechts Maria und Petrus, in dessen Händen ein geschlossenes Buch, aus dem ein kleiner Zettel mit Inschrift A herausragt.

Auf den Außenseiten der beweglichen Flügel auf Goldgrund vier gemalte Szenen aus dem Leben Jesu, darunter zweizeilige Beischriften auf rotem Grund: links oben die Bergpredigt (B), links unten die Heilung der blutflüssigen Frau (C), rechts oben die des Aussätzigen (D), rechts unten das Verschwinden Jesu aus dem Tempel (E). Inschriften B–E mit einfachem und doppeltem winkelförmigen Haken auf u und w, weiß auf rotem Grund. Die vier Szenen auf der Innenseite der verlorenen äußeren Malflügel fehlen. Zwischen der oberen und der unteren Reihe vier Medaillons mit Brustbildern von Propheten, die leere Spruchbänder halten.

Im geschnitzten Schrein (Festtagsansicht) ist unter Maßwerkbaldachinen die Kreuzigung Christi durch die Tugenden dargestellt. Über dem Gekreuzigten Gottvater und zwei Engel. Die Taube des Heiligen Geistes, die ursprünglich diese Trinitätsdarstellung vervollständigte, ist verloren. Eine auf einer Wolke schwebende weibliche Figur sticht in die rechte Seite Christi; ihre Lanze und vier weitere, ursprünglich vorhandene Tugendpersonifikationen fehlen.3) Unter dem Kreuz außen Maria und Johannes, innen zwei Tugendpersonifikationen, deren Hände heute fehlen, die aber wohl einen Nagel in die Füße Christi schlugen. Unmittelbar am Kreuzesstamm eine sitzende Figur, die ein aufgeschlagenes Buch, heute ohne Inschrift, im Schoß hält, vielleicht der Prophet Jesaja.4) In den quergeteilten Flügeln ebenfalls unter Baldachinen Reliefs von vier sitzenden, diskutierenden Personenpaaren, jeweils eine alttestamentliche Gestalt mit einem christlichen Theologen: links Moses und Benedikt von Nursia (F) sowie König David und Bernhard von Clairvaux (G), rechts Jesaja und ein nicht mehr identifizierbarer Theologe (H) sowie Jeremias und der Kirchenvater Hieronymus (I) mit nur noch fragmentarisch erhaltenen, geschnitzten und bemalten Spruchbändern. Die christlichen Gelehrten werden durch gepunzte Nimben hervorgehoben. Die Namen sind in roter, die Texte in schwarzer Farbe gemalt. Im Fall von F2 und I1 wurde der Wortlaut der Spruchbänder (nach deren Verlust?) auf die Flügelrückwand übertragen.

Das übermalte Predellenbrett zeigt einen wohl auf das 17. Jahrhundert zurückgehenden Zustand.5) Ob es sich dabei um einen Teil der ursprünglichen Predella handelt, ist fraglich. Als Halbfigur dargestellt ist der aus dem Sarg (oder der Kelter?) auferstehende Christus, der auf seine Wunden weist und dessen rotes Gewand von zwei Engeln gehalten wird. Neben Christus Maria und Johannes, ganz außen die Propheten Jesaja (J) und Jeremias (K). Auf ihren weißen Spruchbändern die Bibelstellenangaben in roter, die Bibeltexte in schwarzer Farbe. Ein barocker Aufsatz, der sich noch 1914 auf dem Retabel befand6) und auf dem Inschrift L aufgemalt war, wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt abgenommen und ist wohl nicht erhalten. Die Inschriften J–L mit bogenförmigen Diakritika auf u. Alle Inschriften sind gemalt.

Inschrift L nach Foto LAKD/AD. Inschriften F1, F2, G1, G2, H1, H2, I1, I2 ergänzt nach Foto LAKD/AD.

Maße: Br. 259 cm, H. 250 cm (mit Predella). Bu. 0,3–0,5 cm (A), 2,3–2,5 cm (B, C, D, E), 2,6 cm (F, G, H, I), 2,5 cm (J, K, L).

Schriftart(en): Fraktur (J, K, L); gotische Minuskel mit Versal in gotischer Majuskel (B, C, D, E, F, G, H, I); Kursive (A).

Jürgen Herold [1/8]

  1. A

    vn(de) [– – –] ‎/ [– – –] ‎/ syne stym(m)a)

  2. B

    Hir steit v(n)se here in eneme purpere(n) klede vn(de) leertb) ‎/ d(e)me volke de viii stucke der salicheit vn(de) dat se vaste(n)7)

  3. C

    Hir ku(m)pt ene vrowesname8) to v(n)semec) here(n) de hadde ‎/ de(n) bloetgha(n)kd) xii iar hat vn(de) roerte) sine(n) soemf) vn(de) wart su(n)t9)

  4. D

    Hir knebedet10) e(n) spittelre11) vn(de) sprekt here wvltv ik ‎/ werde reine de here sprak ik wil wes reine12)

  5. E

    Hir wolde(n) de iode(n) vnsen heren stene(n) to deme ‎/ dode vn(de) he makede sik vnsichtlik vn(de) vorswant13)

  6. F1

    Mo[ses – – –]

  7. F2

    Bened(ictvs) [– – –] [virtvs ˑ passionis] ˑ (christ)ig) est

  8. G1

    ˑ Davit ˑ rex ˑ [Jnt– – –]

  9. G2

    Bernardus [– – –] [ˑ .....tvr]

  10. H1

    [J]saias ˑ [– – –]

  11. H2

    G[– – –] ˑ vn[– – –] erit [..] ˑ

  12. I1

    Je[remi]as [– – –]

  13. I2

    [Jeronimvs] [– – –] namqve ˑ [– – –]

  14. J

    Esaias ˑ LIII ˑ Furwar er trug vnser kranckheit ˑ Vnd lud auf sich vnser schmertzen14)

  15. K

    Jeremias ˑ V ˑ HERe deine augen sehen Nach dem Glauben15) ˑ

  16. L†

    Das ist je gewis‎/lich wahr und ein theüer ‎/ wehrtes wort das Christus ‎/ Jesus kom(m)en ist in die Welt ‎/ die Sünder selig zu machen ‎/ unter welchen. JCH der ‎/ fürnehmste bin.16) ‎/ 1. Tim. 1. v. 15.

Übersetzung:

(A) Und (...) seine Stimme.

(B) Hier steht unser Herr in einem purpurfarbenen Gewand und lehrt dem Volk die acht Stücke der Seligkeit und dass sie fasten (sollen).

(C) Hier kommt eine Frau zu unserem Herrn, die zwölf Jahre Blutfluss gehabt hatte, und sie berührte seinen (Gewand-)Saum und wurde gesund.

(D) Hier betet kniend ein Aussätziger und spricht: „Herr, wenn du willst, werde ich rein“. Der Herr sprach: „Ich will, werde rein“.

(E) Hier wollten die Juden unseren Herrn zu Tode steinigen, und er machte sich unsichtbar und verschwand.

(F2) Benedikt: (...) ist die Kraft des Leidens Christi.

(G1) König David: (...).

(I2) Hieronymus: (...) denn (...).

Kommentar

Die niederdeutschen Inschriften B–E zeigen u, dessen senkrechte Schäfte gelegentlich oben stumpf, oft aber mit Brechung links enden. Dasselbe gilt für die mittlere und rechte Haste des w; die linke steht schräg. Geschlossenes Kasten-a, ferner am Quadrangel des r und rechts am t-Balken ansetzende, bis auf die Grundlinie reichende Zierstriche. Schäfte von Oberlängenbuchstaben enden abgeschrägt. Die den alttestamentlichen und christlichen Autoritäten beigegebenen lateinischen Inschriftenpaare F–I sind zu schlecht erhalten, als dass sich ihr Wortlaut rekonstruieren ließe.

Nachdem das Retabel der Riemer und Beutler (Riemenschneider) für ihren der Heiligen Dreifaltigkeit geweihten Altar in jüngerer Zeit in die Jahre um 1430 datiert worden ist,17) geht eine neue Untersuchung von in Rostock entstandenen Altarretabeln aufgrund stilistischer und technischer Parallelen von einer späteren Entstehung um 1450 aus.18) Das Bildprogramm des geschnitzten Schreins greift das anspruchsvolle ikonografische Thema der Tugendenkreuzigung auf. Dieses war vor allem im Zisterzienserorden beliebt, lässt sich jedoch auch im stadtbürgerlichen Umfeld von Lübeck belegen.19) Auch die erkennbare Konzentration auf christliche Ordensheilige auf den Flügeln, unter ihnen Bernhard von Clairvaux, könnte auf zisterziensischen Einfluss auf das Bildprogramm verweisen.20) Konkretisieren lässt sich eine solche Möglichkeit jedoch nicht, da über die Urheber des Retabels keinerlei Informationen vorliegen. Die pauschale Annahme, schon der umfangreiche Einsatz von Schriftlichkeit deute auf eine Klosterkirche als ursprünglichen Standort hin, überzeugt nicht.21)

Der mittlerweile entfernte Aufsatz bezeugt die nachreformatorische Weiternutzung des Retabels. Auf dem Predellenbrett lässt die unterschiedliche Position der Bibelstellennachweise vor bzw. nach dem Bibelvers und die Frakturformen der Inschriften erkennen, dass Predella (J und K) und Aufsatz (L) nicht von derselben Hand gestaltet wurden. Das im Spätmittelalter geläufige ikonografische Motiv des die Trauben in der Kelter tretenden Christus im blutroten Gewand22) deutet darauf hin, dass der barocken Erneuerung der Malerei eine deutlich ältere Darstellung zugrundeliegen könnte.

Textkritischer Apparat

  1. Lesung von Inschrift A unsicher.
  2. leert] Zweites e verkleinert und hochgestellt.
  3. v(n)seme] deme Haselberg.
  4. bloetgha(n)k] e verkleinert und hochgestellt.
  5. roert] e verkleinert und hochgestellt.
  6. soem] e verkleinert und hochgestellt.
  7. (christ)i] xpi am Original.

Anmerkungen

  1. Nach Weitzel, St. Nikolai, S. 170.
  2. Beidseitig zu Füßen des Heiligen als Attribut(e) eine flache Wanne oder zwei Krüge mit Henkeln, durch die zwei Ringe laufen. Was genau dieses Attribut darstellt bzw. zu welchem Heiligen es gehört, bleibt unklar. Als heiliger Stephanus wird die Figur identifiziert u. a. bei Adler, Stralsund, S. 7; Kunkel, Werk, S. 375. Gegen diese Deutung spricht jedoch die Mitra, die der Heilige trägt. Bereits von Paul, Kunst, S. 72 Anm. 1, wurde der heilige Eligius in Betracht gezogen. Bischof Eligius von Noyon ist Patron aller Handwerker, die mit Pferden und deren Beschlägen bzw. Zaumzeug umgehen. Zu letzteren zählten auch die Riemer und Beutler.
  3. Ein älteres Foto des LAKD lässt aufgrund der aus der Vergoldung der Schreinrückwand ausgesparten Stellen vermuten, dass neben den stehenden Tugenddarstellungen vier weitere im oberen Bildbereich zu sehen waren. Diese Eindrücke bzw. Angaben lassen sich nicht mehr verifizieren, da alle Fehlstellen der Schreinrückwand heute mit Farbe ausgefüllt sind. Von insgesamt sieben allegorischen Frauengestalten spricht auch Kraft, Kreuzigung Christi, S. 156. Sechs Tugenden nach Paul, Kunst, S. 78; Adler, Stralsund, S. 31.
  4. Die Identifizierung dieser Figur folgt Kraft, Kreuzigung Christi, S. 157. Als Parallelbeispiel verweist die Autorin auf das gemalte sog. Fronleichnamsretabel in der Doberaner Klosterkirche (2. Viertel 14. Jh.), das im Schrein ebenfalls die Kreuzigung Christi durch sieben Tugenden zeigt. Oben auf dem linken Flügel hält Jesaja ein Spruchband mit einer Inschrift aus Is. 4,1 (et adprehendent septem mulieres virum unum), die sich typologisch auf die Tugendpersonifikationen beziehen lässt. – Die unter dem Kreuz sitzende Figur am Riemer- und Beutlerretabel wird auch als Titulusschreiber gedeutet, etwa bei Zaske, Kirchen Stralsunds, S. 129. Der Titulusschreiber beschreibt jedoch üblicherweise nicht einen Codex, sondern ein Einzelblatt oder eine kurze Schriftrolle.
  5. Im 17. Jh. (Stange, Verzeichnis 1, S. 197) bzw. zu unbestimmbarem Zeitpunkt übermalt (Kugler, Schriften, S. 804; Paul, Kunst, S. 77). Die Malerei wird ins 16. Jh. datiert bei Kunkel, Werk, S. 376.
  6. Paul, Kunst, S. 71.
  7. Nach Mt. 5,3–11 (Seligpreisungen), Mt. 6,16–18 (Fastenregeln).
  8. ‚Frauensperson‘ (vgl. Schiller/Lübben, Wörterbuch 5, S. 542).
  9. Nach Mt. 9,20–22, Mk. 5,25–34.
  10. ‚Auf den Knien liegend beten‘ (vgl. Schiller/Lübben, Wörterbuch 2, S. 497).
  11. ‚Aussätziger‘ (vgl. Schiller/Lübben, Wörterbuch 4, S. 321f.).
  12. Nach Lk. 5,12f.
  13. Nach Jh. 8,59.
  14. Jes. 53,4.
  15. Jer. 5,3.
  16. 1 Ti. 1,15.
  17. Dazu Kunkel, Werk, S. 375f., die ältere Diskussion zusammenfassend.
  18. Vgl. dazu Wagner, Retabelkunst, S. 93–96, S. 145f. (dort Datierung um 1440/50). Bis zu dieser Studie ging man davon aus, dass das um 1430 entstandene Retabel für die 1449 bzw. 1451 als neu erwähnte Altarstelle der Riemer und Beutler im nördlichen Teil von St. Nikolai zweitverwendet wurde. Zum Nachweis der Stiftung für den neu errichteten Altar der Riemer im Jahr 1449 vgl. Weitzel, St. Nikolai, S. 170; zur Nachricht zu 1451 vgl. Paul, Kunst, S. 81f.
  19. Vgl. dazu Wipfler, Corpus Christi, passim. Die Kreuzigung Christi durch die Tugenden ist auch dargestellt auf dem sog. Warendorp-Retabel aus dem Lübecker Dom (um 1340 bzw. um 1400). Vgl. Albrecht (Hg.), Corpus 1, Nr. 5 S. 52–59; auf S. 53f. auch eine Herleitung des ikonografischen Motivs aus einem Psalm und Bernhard von Clairvaux zugeschriebenen Predigten.
  20. So auch Kraft, Kreuzigung Christi, S. 156. Wipfler, Corpus Christi, S. 187, weist darauf hin, dass das Zisterzienserkloster Neuenkamp in Stralsund einen Stadthof besaß. Dasselbe gilt für die Hiddenseer Zisterze. – Kunkel, Altarausstattungen, S. 104, geht von einer ikonografisch begründeten „dominikanische[n] Provenienz“ des Retabels aus; worin diese dominikanische Ikonografie besteht, wird jedoch nicht dargelegt.
  21. Ausgehend nicht nur vom Schriftlichkeitsprinzip, sondern auch von der hier und in anderen Fällen getroffenen Entscheidung für Niederdeutsch als Sprache der Retabelinschriften wäre vielmehr zu fragen, ob im 15. Jh. auch ein für eine Klosterkirche bestimmtes Retabel mit niederdeutschen Inschriften ausgestattet werden konnte. Vgl. dazu die Einleitung, Kap. 6, Exkurs.
  22. Dazu Alois Thomas, ‚Kelter, Mystische‘, in: LCI 2, Sp. 497–504; vgl. Is. 63,2f.

Nachweise

  1. StA Stralsund, Hs. 303, Bl. 4v–6v (B–E, J, K).
  2. Haselberg, Stadtkreis Stralsund, S. 480 (B–E).
  3. Paul, Kunst, S. 73–75 (B–E), S. 77 (J, K).
  4. Hagemeister, Nikolaikirche, S. 7 (B–E).
  5. Stange, Gotik 3, Abb. 269f. (C, E).
  6. Stange, Verzeichnis 1, S. 197, Nr. 642 (B–E).
  7. Weitzel, St. Nikolai, Abb. 41, Farbtf. 27–29.
  8. LAKD/AD, Fotosammlung.

Zitierhinweis:
DI 102, Inschriften Stadt Stralsund, Nr. 56 (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di102g018k0005602.