Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 775† Rathaus 1604/5

Beschreibung

Inschriften unterhalb von fünf Statuen an der Ostfassade des Rathauses. Büttner überliefert die zu den fünf Figuren gehörenden Inschriften unmittelbar vor deren Umstellung, die durch den 1720 fertiggestellten Neubau der Ostfassade erforderlich wurde.1) In die neue Front wurden die Figuren samt Schrifttafeln zunächst übernommen.2) Die heute oben auf den fünf Pfeilern der Fassade stehenden Figuren, die seit der Renovierung der Fassade 1868/69 keine Tituli oder beigegebene Inschriften mehr tragen, waren ursprünglich zwischen den Türmen der Fassade postiert, links die Tugenden Fortitudo und Prudentia, rechts Justitia und Temperantia, die mittlere Figur der Pax leicht erhöht in einer Nische vor dem mittleren Turm (vgl. Kommentar). Unter jeder der Figuren war eine Tafel oder Kartusche mit einer zweiteiligen Inschrift angebracht; wo die zugehörigen Tituli standen, vermerkt Büttner nicht, es ist aber zu vermuten, dass sie auf den Sockeln angebracht waren.

Inschriften nach Bütter, Inscriptiones.3)

  1. A

    FORTITUDORebus in afflictis ceu murus aheneus estoAc praesens forti pectore vince malumDOMINUS Fortitudo Refugium Susceptor et Liberator noster4) / Utique fortis est qui nec temere audet nec inconsulto timet

  2. B

    PRUDENTIAQuicquid agis prudenter agas5) Temeraria clademConsilia important damnaque saepe creantTuto prudentes habitabunt et Dominus benedicet eis / Quiaa) prudentia in praesentibus respicit praeterita et futura

  3. C

    PAXPAXb) urbes munit PAXb) cives auget et unitPAX docet atque regit PAX fovet atque tegitBeati pacifici quoniam filii DEi vocabuntur6) / Pax et Salus populi suprema lex et actionum scopus est7)

  4. D

    JUSTITIAJus violare cave rectum sectare cuiqueLinque suum tibi quod vis fieri ipsus agasJusti possidebunt terram et pii inhabitabunt eam8) / Justicia nec Patrem novit nec matrem quia solum jus non personam respicit

  5. E

    TEMPERANTIAAffectus cohibeto tuos mediumque tenetoExcessus damnum sed modus apta paritAbnegata Luxuria pie et sobrie vivendum / Temperantia vitam firmat abundantiam parit

Übersetzung:

Stärke: In Bedrängnissen sei wie eine eherne Mauer, und mit tapferem Herzen besiege das gegenwärtige Übel. Der Herr ist unsere Stärke, unsere Zuflucht, unser Beschützer und Befreier. Der ist wahrhaft tapfer, der weder leichtfertig Wagnisse eingeht, noch unüberlegt Angst hat. (A)

Klugheit: Was immer du tust, sollst du überlegt tun, unüberlegte Entschlüsse bringen Unglück und verursachen oft Schaden. Die Klugen werden in Sicherheit wohnen, und der Herr wird sie segnen. Denn Klugheit in der Gegenwart achtet auf das Vergangene und das Künftige. (B)

Frieden: Der Frieden befestigt die Städte, der Frieden lässt die Bürgerschaft wachsen und eint sie. Der Frieden lehrt und lenkt, der Frieden fördert und schützt. Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Der Frieden und das Heil des Volkes sind das oberste Gebot und das Ziel (aller) Handlungen. (C)

Gerechtigkeit: Hüte dich, das Gesetz zu verletzen, strebe nach dem Rechten, jedem lasse das Seine, tue das, was man dir selbst tun soll. Die Gerechten werden die Erde besitzen und die Frommen werden sie bewohnen. Die Gerechtigkeit kennt keinen Vater und keine Mutter, weil sie allein das Recht, nicht die Person beachtet. (D)

Mäßigung: Zügele deine Leidenschaften und halte Maß. Das Übermaß bringt Schaden hervor, das Maß aber das Angemessene. Man soll die Zügellosigkeit nicht zulassen und fromm und nüchtern leben. Die Mäßigung sichert das Leben und erzeugt Überfluss. (E)

Versmaß: Elegische Distichen (erster Teil der Inschriften A–E), C leoninisch gereimt.

Kommentar

Die Figuren wurden von dem Bildhauer Hans Schroder angefertigt.9) Der von Daniel Frese gezeichnete Entwurf für die Fassade des Rathauses vom Beginn des 17. Jahrhunderts zeigt lediglich vier Figuren zwischen den fünf Türmen, die mit den Tituli VICTORIA, PRVDENTIA, IVSTITIA und TEMPERANTIA bezeichnet sind.10) Die Zeichnung der Ostfassade passt weder zu der Inschriftenüberlieferung noch zu dem Eintrag in der Kämmereirechnung 1605. Dort heißt es: M. Hans Schroder vor funff grosse Bilder ans Radthuß zwischen den Tornern an Stein vnd arbeides Lhon mit Jmhe vordinget iedes 28 Thaler. Den auch nach vor die gesimbes vnd dragstein zwischen die Turmen vnd vnder die Bildern sambt dem Arbeides Lhon, vnd das große Stadttwapen oben am Turm gantz nie zu fertigen, mit dem Lampet vnd dem kleinesten Turm inß Norden vnd ein renovatum Stein inwendig dem middelsten Turmen in den Windelstein zu machen allerseits ferner inhalt seiner Rechnung Jmhe bezalet ist zusammen 346 (Taler) 10 (Groschen) 11 (Pfennige).11) Die hier erwähnte Bauinschrift am mittleren Turm ist nicht überliefert. Daniel Frese wurde u. a. wegen Stofferung (Bemalung) der funf Market Turme in alles seines arbeides so daran vorguldett und sunsten gemacht entlohnt.12) Da auch die Kämmereirechnung die Aufstellung der Statuen zwischen den fünf Türmen belegt, kann die mittlere der fünf Figuren nur vor dem mittleren Turm aufgestellt gewesen sein, wie es auch ein Kupferstich Freses von 1610 zeigt.13) Die Figur der PAX nahm damit wohl die höchste Position in der Rathausfassade ein. Dies ist in der Entwurfszeichnung ebensowenig dargestellt wie das im Kämmereiregister erwähnte Stadtwappen oben am mittleren Turm. Der in der Zeichnung Freses als Gegenstück zu dem Richthaus im Nordosten (vgl. Nr. 796), das in den Kämmereiregistern so ausführlich behandelt wird, im Südosten vorgesehene Anbau, der der Zeichnung zufolge in gleicher Weise gestaltet gewesen wäre, blieb offensichtlich unausgeführt.14) Dafür spricht auch, dass Büttner hierfür keine Inschriften überliefert und sich in den Kämmereiregistern keine Erwähnung findet.

Durch die Anbringung der Figuren, der auf sie abgestimmten Verse und der die Verse erläuternden Prosainschriften verkündete die Stadt an besonders prominenter Stelle, an der dem Markt zugewandten Fassade des Rathauses, einen allgemeinen Verhaltenskodex für ihre Bürger. Die Texte sind anderweitig so nicht nachweisbar, vermutlich wurden die Distichen wie auch die Prosainschriften für die Neugestaltung der Fassade abgefasst. Das jeweilige Gebot ist als Merkhilfe in leichter zu memorierende Verse gekleidet, die erläuternden Prosainschriften gründen sich in drei Fällen auf dem Zweck entsprechend umformulierte Bibelzitate und stellen insgesamt eine Verbindung zwischen allgemeinen Verhaltensregeln und christlicher, gottgefälliger Lebensweise her. Dass man hierfür ausschließlich die lateinische Sprache verwendete und nicht auf lateinische Verse mit deutscher Erläuterung zurückgriff, zeigt den hohen Bildungs- und Repräsentationsanspruch der Auftraggeber.

Sehr bemerkenswert ist, dass die Figur der Pax mit den sie begleitenden Inschriften in den Mittelpunkt der Fassade gerückt war, wo die Figur des Friedens einen erhöhten Standplatz über den anderen Tugenden einnahm. Die Inschrift mit der Seligpreisung Mt. 5,9 unterstreicht ihre Stellung noch, Pax ist inschriftlich als suprema lex bezeichnet, als oberstes Gebot, dem alle Handlungen unterzuordnen sind. Das Heil der Bewohner hängt der Inschrift zufolge in erster Linie von der Gewährleistung des Friedens ab. Die große Bedeutung, die die Stadt Lüneburg in der Ikonographie um 1600 dem städtischen Frieden beimaß, zeigt sich nicht nur an oberster Stelle der Rathausfassade, wo der Pax sinnbildlich das gesamte Gemeinwesen untergeordnet wurde, sondern auch in den verschiedenen Darstellungen der ruhig an die thronende Res publica bzw. Sapientia gelehnten, schlafenden Pax – einem Motiv, das sich abgesehen von dem wohl als Vorlage zugrundeliegenden Holzschnitt15) bislang nur einmal am Regensburger Rathaus, aber gleich fünfmal in Lüneburg nachweisen lässt (vgl. Einleitung, Kap. 3.3.7.1. sowie Nr. 496). Darüber hinaus hält Pax auf dem Gemälde Nr. 498 der Großen Ratsstube thronend die Laster in Ketten. Während die Tugend Justitia häufig an zentraler Stelle von Bildprogrammen im städtischen Kontext steht, ist die beherrschende Position der Pax an der Lüneburger Rathausfassade von 1605 außergewöhnlich. Insofern greift die Bewertung des Figurenprogramms am Rathaus als „für die Zeit der Renaissance nicht unüblich“ bei Rogacki-Thiemann zu kurz.16)

Textkritischer Apparat

  1. Dia Büttner in beiden Versionen, möglicherweise aus QIA verlesen.
  2. Das Wort PAX jeweils nur einmal zwischen beiden Zeilen angebracht.

Anmerkungen

  1. Zu dem barocken Umbau vgl. Rogacki-Thiemann, Marktfassade, S. 84–95, zum Umbau 1868/69 S. 102f., zu den Figuren S. 104. Das Inschriftenprogramm ist bei Rogacki-Thiemann nicht erwähnt.
  2. Die Neuverteilung der Figuren in der Fassade von 1720 samt den zugehörigen Inschriften und einer Renovierungsinschrift aus dem Jahr 1720 ist dokumentiert in der Akte StA Lüneburg, AA B1 Nr. 2. Die Aufzeichnung der Inschriften entspricht zwar der Überlieferung Büttners, ist aber fehlerhaft und an vielen Stellen korrigiert.
  3. Bei Büttner gibt es zwei Versionen der Inschriften: die erste, ein verschiedentlich verbessertes Konzept auf einer am Rand abgerissenen Seite, und die der Edition zugrundegelegte Reinschrift der zweiten Version, die die Inschriften D und E vertauscht (hier korrigiert). Die richtige Reihenfolge der Figuren hat Büttner in der ersten Version durch Korrekturen ausdrücklich bezeichnet.
  4. Nach Ps. (G) 17,3.
  5. In Anlehnung an die Sentenz Quicquid agis prudenter agas et respice finem. Vgl. Walther, Proverbia sententiaeque, Nr. 25251.
  6. Mt. 5,9. Die Seligpreisung findet sich in der deutschen Version der Lutherbibel auch auf dem Gemälde Nr. 498 in der Großen Ratsstube, das Pax zusammen mit den Lastern darstellt.
  7. Vgl. Walther, Proverbia sententiaeque, Nr. 41612a. Nach Cicero, De Legibus 3,8.
  8. Nach Ps. (G) 36,29.
  9. Zu der baulichen Veränderung der Ostfassade seit dem Jahr 1603 Rogacki-Thiemann, Marktfassade, S. 78–82.
  10. StA Lüneburg, P17a Nr. 60, Entwurf der Rathausfassade, aquarellierte Zeichnung von Daniel Frese. Abb. bei Rogacki-Thiemann, Marktfassade, S. 79. Eine in Einzelheiten abweichende Kopie des Freseschen Entwurfs bei Gebhardi, Collectanea, Bd. 2, nach p. 201.
  11. StA Lüneburg, AB 56/7, p. 233.
  12. StA Lüneburg, AB 56/7, p. 245.
  13. Vgl. Rogacki-Thiemann, Marktfassade, S. 104 u. Abb. 47, S. 80.
  14. Vgl. a. die Rekonstruktion 3 der Marktfassade bei Rogacki-Thiemann, Marktfassade, S. 84.
  15. Holzschnitt des Monogrammisten MS, nachgewiesen bei Tipton, Res publica, S. 158f. u. Abb. 27, S. 553, sowie Haupt, Ratsstube, S. 169, mit Abb. Zu der Darstellung in Regensburg Tipton, Res publica, Abb. 29, S. 555.
  16. Rogacki-Thiemann, Marktfassade, S. 109.

Nachweise

  1. Büttner, Inscriptiones (zwei Versionen).
  2. StA Lüneburg, AA B1 Nr. 2 (Zustand 1720 vgl. Anm. 2).

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 775† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0077504.