Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 578 Dresden, Grünes Gewölbe 1587, 1592

Beschreibung

Spiegel.1) Silber, vergoldet, Edelsteine und Hinterglasmalerei. Der prunkvolle Wandspiegel in Form eines vielteiligen Epitaphs wurde im Jahr 1601 für die Dresdner Kunstkammer in Lüneburg erworben (zur Geschichte des Spiegels s. Kommentar). Seine Lüneburger Herkunft erweist der Spiegel auch dadurch, dass er das Lieblingsthema der Lüneburger Ikonographie um 1600 in seinem Bildprogramm zeigt: die Traumdeutung Daniels von den vier Weltreichen kombiniert mit dem Monarchienmann und einer Darstellung des guten Regiments. Die Mitte des dreiteiligen Aufbaus bildet die von Säulen gerahmte hochrechteckige Spiegelfläche, die durch einen abnehmbaren Deckel verschlossen ist. Darauf im Relief eine Endzeitszenerie. Die in einem Netz gefangene Erdkugel drückt eine liegende Figur nieder, die durch den Titulus A1 bezeichnet ist und die Lügen in der Welt verkörpert. Auf der Erdkugel hockt der geflügelte Chronos, links vom Kopf bezeichnet durch den Titulus A2. Links der Weltkugel eine nackte Frauengestalt mit Schmuck und umgehängtem Tuch, die auf die über einer Landschaft strahlende Sonne weist. Sie ist nicht durch einen Titulus bezeichnet. Rechts der Weltkugel ein Mann in Rüstung mit Schwert, darauf der Titulus A3, der ihn als Wut oder Raserei bezeichnet, er verweist auf eine brennende Stadt oben im Hintergrund, unter seinen Füßen eine Posaune mit dem Titulus A4. Über Chronos thront in den Wolken die Wahrheit, aus deren Posaune auf einem Wölkchen ihr Name erschallt (A5). Auf der Fahne an der Posaune die Inschrift A6. In der linken Hand hält die Frauenfigur eine Lilie und ein Rutenbündel, die auf einem darumgeschlungenen Band bezeichnet sind (A7). Hinter dem Kopf der Frauenfigur in einem einpunzierten Strahlenkranz das Tetragramm A8. Alle Tituli des Deckels sind sehr fein einpunziert, das Tetragramm in Doppelkontur.

Auf der Innenseite des Deckels war eine heute separat aufbewahrte Hinterglasmalerei im ovalen Feld angebracht, die die Inschrift B trägt. Die Glasscheibe ist seit dem Zweiten Weltkrieg zersprungen, wodurch die Inschrift aber nur geringfügig beeinträchtigt ist. Sie steht zentriert in schwarzen Buchstaben auf goldenem Grund, die Zeilen durch breite rote Linien voneinander getrennt, in deren Mitte alternierend goldene Striche und Punkte. Das ovale Feld im Deckel ist umgeben von gravierten Darstellungen der Evangelisten Johannes und Markus zu beiden Seiten, oben Christus als Weltenrichter und unten die Sintflut.

Der Spiegelrahmen zeigt in der unteren Zone des Unterhangs ein Relief mit der Darstellung des Parisurteils, darüber eine annähernd vollplastische Darstellung des guten Regiments, die auf einen Holzschnitt von Jost Ammann zurückgeht: in der Mitte thronend Justitia, der heute die Attribute fehlen, davor sitzen mit ihr durch Ketten verbunden links Pax und rechts Res publica, die sich die Hände reichen und auf dem schmalen umlaufenden Fries unter der Darstellung durch die einpunzierten Tituli C bezeichnet sind. Neben ihnen stehen Caritas und Prudentia, außen links Lex als Synagoge und Fides als Ecclesia dargestellt, alle durch die auf den Sockeln einpunzierten Tituli D bezeichnet. Lex trägt in der rechten Hand die auf dem Kopf stehenden Gesetzestafeln, die auf beide Seiten verteilt die untereinander einpunzierten Ziffern E tragen, die für die zehn Gebote stehen, die eine Tafelseite weitgehend durch die Figur verdeckt. Vor dem Fries unter diesen Darstellungen in sechs ovalen Medaillons als Hinterglasmalerei vor rotem Grund die Darstellungen weiterer durch die Tituli F bezeichneter Tugenden, auf dem oberen Fries dieser Zone zwölf auf antike Mächte bezogene Medaillons mit Hinterglasmalereien, darin jeweils unter einem Titulus (G) ein bekröntes Fantasiewappen. Mit ihnen korrespondieren zwölf Medaillons auf dem Gesims über dem Spiegel mit Wappendarstellungen europäischer Königreiche, die durch die Wappenbeischriften H jeweils zu beiden Seiten der Helmzier bezeichnet sind, das Wappen Englands umgeben von einem Schriftband mit der Devise des Hosenbandordens.

Der Mittelteil wird gerahmt von zwei in Nischen stehenden Kriegern, die zusammen mit zwei Reiterfiguren oben seitlich über dem Gesims des Mittelteils die vier Monarchien symbolisieren. Bezeichnet sind sie durch Hinterglasmalereien, den beiden unteren Figuren sind querrechteckige Bildfelder zugeordnet, den beiden Reiterfiguren runde Bildfelder. Die Hinterglasmalereien darin zeigen auf rotem Grund die vier apokalyptischen Tiere (Dan. 7,3–25 in der Interpretation Luthers in seiner Vorrede zum Buch Daniel), die darüber jeweils in Gold inschriftlich bezeichnet sind, oben die Inschriften I (geflügelter Löwe) und J (Bär), unten die Inschriften K (Panther mit vier Flügeln und vier Köpfen) und L (Tier mit eisernen Zähnen und zehn Hörnern). In den Inschriften ist jeweils der erste Herrscher jeder Monarchie genannt.

Die Reiterfiguren oben seitlich über dem Spiegel rahmen ein großes Medaillon, das in Hinterglasmalerei den mit dem Quaternionenschema2) belegten doppelköpfigen bekrönten Reichsadler zeigt, vor dessen Brust ein Kruzifix. Oben verläuft im Bogen über der Darstellung die Inschrift M in Gold auf grünem Grund, am Kruzifix der Titulus N in Gold auf Schwarz, die Wappenschilde auf den Flügeln des Adlers sind jeweils oben darüber mit Namen (O) bezeichnet. Oben nebeneinander die geistlichen Kurfürstentümer und Rom (O1) sowie die weltlichen Kurfürstentümer (O2) in Gold bezeichnet, darunter in 12 Reihen untereinander die in Silber bezeichneten Quaternionen O2–O13. Darüber in einem kleineren Medaillon in Hinterglasmalerei die Silhouette der Stadt Lüneburg, die von einem goldenen Band mit den Sternkreiszeichen darauf umfangen ist. Außen verläuft um das Medaillon die Inschrift P in Gold auf rotem Grund. Darüber steht die möglicherweise schon früh erneuerte Figur des Monarchienmannes, die die Bekrönung des Spiegels bildet, aber nicht die typischen Merkmale des biblischen Standbildes aus vier verschiedenen Metallen aufweist. Als seitliche Abschlüsse in Höhe des oberen und unteren Gesimses vier Kriegerfiguren. Auf den Hellebarden der Krieger auf dem oberen Gesims links in einem bekrönten Wappenschild eine Blume und außen die Initialen Q, rechts ebenfalls in einem bekrönten Wappenschild der Löwe des Lüneburger Beschauzeichens. Beide Wappenschilde sind nicht gestempelt (vgl. Kommentar), sondern mit bloßem Auge kaum sichtbar einpunziert. Auf dem Lauf einer Kanone der Trophäe unter dem Reichswappen die einpunzierten Initialen R.3)

Die Inschriften in Hinterglasmalei sind mit Ausnahme der Inschriften B und O2–13 in Goldbuchstaben ausgeführt, teilweise sind diese durch frühere Restaurierungen bereits überarbeitet (Tituli der Tugenden und Wappen), worauf eine einheitliche Strichstärke und dickere Ausführung der Buchstaben verweisen könnte. Auf eine frühe Restaurierung der Hinterglasmalerei – hier vermutlich der Darstellung des Quaternionenadlers – verweist auch der älteste Inventareintrag von 1610, demzufolge das glaß darauff die Wappen amaliert zerschrickt, also zerbrochen war.4)

Maße: H.: 115 cm; B.: 85 cm; Bu.: 0,15–0,2 cm (A1–7), 0,5 cm (A8), 0,25 cm (B), 0,25–0,4 cm (C, D), 0,2–0,3 cm (E), 0,05–0,1 cm (F–O), 0,1–0,15 cm (P), 0,1 cm, (Q, R).

Schriftart(en): Humanistische Minuskel mit Kapitalisversalien (A), Hebräisch (A8), Kapitalis (B–R).

Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden; Foto: Jürgen Karpinski [1/10]

  1. A1

    Mendacia

  2. A2

    Tempus

  3. A3

    Furor

  4. A4

    Fama

  5. A5

    Veritas

  6. A6

    Vox clama/ntis in de/serto parate / Viam Domini5)

  7. A7

    Premium // · Poena ·

  8. A8

    יהוה.

  9. B

    · GALENVS · / · IN · ORATIONE · / · SVASOR(IA) · AD · ARTES · / · CAPI(TE): QVINTO: / O · MENSCHE · BESICHSTV · DEINE · / · GESTALT · IM · SPEGEL · KLAR · / SO BEDENCKE · DEINEN · SVNDTLIKEN ·/ STANDT · AVCH · FVRWAR / BEFINDESTV · DIR · SCHON · WEIS · VND · / · WOLGESTALT · /· SO · THV · AVCH · WAS · GODT · VND · DEINEM · / NEGESTEN · WOLGEFALT ·/ · MANGELT · DIR · ABER · AHN · WEISHE[IT · ] / · VND · SCONHEIT · / SO · ERSTATE · SVLCHS · MIDT · TVGENDEN · / VND · BESCHEDENHEIT ·6)/· ALSO · WIRDT · GODT · DIR · WOL · GEBEN · / · GVTE · GELEGENHEIT · / DAR · TZV · HILF · VNS · DV · HEILIGE · / · DREIFALTICHEIT · /· AMEN · / · 15 · 92 ·

  10. C

    PAX // RESPVPLCAa)

  11. D

    FIDES // CARITAS // PRVDENTCIA // LEX

  12. E

    5 // 6 7 8 9 10

  13. F

    CHARITAS // IVSTICIA // PACIENTIA // [SPES] // FORTITVDO // PRVDENT[IA]

  14. G

    IERVSALEM // [........] // ATHENE // SICILIA // AFRICA // TARTAREN // BA[R]BA[R]IA // ALEXANDER MANG(NUS) // [SY]RIA // LACONIA // IVLI[......] // EGIPTEN

  15. H

    SCHW EDEN // AN(N)O 1587 / GERM ANIA // FRANC KREICH // BOE HEM // SCOT TEN // [.......] // HISP ANIA // DENM ARC // PORTV GAL // PO LN // NEAP OLI // ENGE LANT / HONI SOIT / Q[U]I MAL I PENS

  16. I

    : DE : 1 : MONARCHE : NEMRODT : ORDENET : / ASSIRIEN : VND : CALDEEN / : DANIEL : 7 :7)

  17. J

    : DE : 2 : MONARCHE : SIRVS : [O]RD[E]NET / : PERSIEN : VNND : MEDEN[N] : / DANIELIS : 7 :

  18. K

    : DE : 3 : MONARCHE : ALEXAN:/DER MANGNVS : / ORDENET GRE/KEN : VND : MACE/DONIEN : DANIE(LIS) 7

  19. L

    : DE : 4 : MONARCHE : IVLIVS CEARIb) : / ORDENET : DAS : ITZIGE ROM:/ISCHE : REICH : DANIELIS : 7

  20. M

    : DES :: ROEMISCHEN : · REICES · · GIDERa) ·

  21. N

    I(ESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDAEORVM) ·8)

  22. O1

    TRIER · COLN · MENTZ · POTESTAT ROM

  23. O2

    BOEHEM · PFALTZ · Gc) · SACHSE(N) · BRANDENB(VRG)

  24. O3

    : COLN // REGENSBV(RG) // COSTNITd) // SALTZBV(RG)

  25. O4

    AVSBRG // MENTZ // ACH // LVBECK

  26. O5

    LVNTPVR(G) // WESTERB(VRG) // THVSSIS // ALWALDE(N)

  27. O7

    NVRNBER(G) // MALDBVR(G)e) // REINECK // STRAMBE(RG)

  28. O8

    MERHERf) // BRANDENB(VRG) // MEISSEN // BADEN

  29. O9

    BRVNSWIC // BEIREN // SCHWABEN // LVTRING(EN)

  30. O10

    BRABAN(T) // SACHSEN // WESTRI(CH) // SLESIEN

  31. O11

    DORING(EN) // ELSAS // HESSEN // LECHTENB(ERG)

  32. O12

    CLEVE // SOPHOIIg) // SVARTZBV(RG) // ZILLI

  33. O13

    ANDELAW // WEISEN·Sh) // FRAWEN·B(ERG) // STRVNDE

  34. O14

    BAMBERG // · VLM · // HAGENAW // SLESTAT

  35. O15

    MAGDEBVR(G) // LVTZELB(VRG) // ROTTENB(VRG) // ALDENBV(RG)

  36. P

    HEMMEL · VNDE · ERDE · WERD[EN · V]ORGAN ·GADES · WOR[....] · BL[EIBT · EWIG · BEST]ANi)· 9)

  37. Q

    L(uleff) M(eyer)

  38. R

    D(irik) V(termarke)

Übersetzung:

Lügen. Zeit. Wut/Raserei. Ruhm. Wahrheit. Die Stimme des Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn. Lohn. Strafe. (A)

Frieden. Das Gemeinwesen. (C)

Glaube. Liebe. Klugheit. Gesetz. (D)

Liebe. Gerechtigkeit. Geduld. Hoffnung. Stärke. Klugheit. (F)

Ein Schelm sei, wer Schlechtes darüber denkt. (H)

Versmaß: Deutscher Reimvers (B, P).

Wappen:
Wappen des Quaternionenschemas10)
Jerusalem11), ?12), Athen13), Sizilien14), Afrika15), Tartaren16), Barbaria17), Alexander der Große18), Syrien19), Sparta20), Julius Caesar?21), Ägypten22)
Schweden23), Deutsches Reich24), Frankreich25), Böhmen26), Schottland27), Ungarn28), Spanien29), Dänemark30), Portugal31), Polen32), Neapel33), England34)

Kommentar

Bei der Kapitalis der Inschrift B handelt es sich um sehr sorgfältig mit Haar- und Schattenstrichen ausgeführte Buchstaben mit deutlichen Sporen, die A mit spitz nach unten ausgezogenem oder nach unten ausgebuchtetem Balken und kleinem Deckbalken, einige H mit nach oben oder unten ausgebuchtetem Balken, die Worttrenner in Punkt- oder Rautenform, teilweise auch an den Zeilenanfängen und -enden in Rot als kleine Rosetten. Die Tituli C und D sind trotz der geringen Buchstabenhöhe in Doppelkontur durch zahlreiche sehr fein einpunzierte Punkte ausgeführt und tragen teilweise Sporen (CARITAS). Die Inschriften der Hinterglasmalereien wurden nach Ryser erzeugt, indem man die Buchstaben in eine zugrundeliegende Goldfolie radierte.35)

Nach Sponsel und Schröder handelt es sich bei der Fürbitte am Ende der auf 1592 datierten Inschrift B (HILF VNS ...) um die Devise der Kurfürstin Sophie.36) Das wäre dann allerdings reiner Zufall, da die Inschrift B bereits 1592 ausgeführt wurde, also zu einem Zeitpunkt, bevor der Spiegel 1601 von dieser für die Kunstkammer erworben wurde. Zudem handelt es sich bei der allgemein verbreiteten Anrufung Gottes nur um den Abschluss des auf Galen zurückgehenden langen deutschen Textes, der den Leser zu angemessenem Verhalten Gott und den Menschen gegenüber ermahnt und empfiehlt, mangelnde Schönheit und Weisheit durch Tugenden und Bescheidenheit auszugleichen. Die Literaturangabe am Beginn der Inschrift bezieht sich auf eine Stelle im Werk Galens in der Oratio suasoria ad artes, in der ein junger Mann aufgefordert wird, sich kritisch im Spiegel zu betrachten.37) Wenn sein Äußeres schön ist, soll er dafür sorgen, dass sein Geist dem äußeren Erscheinungsbild entspricht, ist sein Äußeres aber hässlich, so soll er sich darum bemühen, dies durch Geistesbildung auszugleichen. Im deutschen Text der Inschrift ist dies im christlichen Sinn ersetzt durch ein Gott und den Menschen gleichermaßen gefälliges Verhalten. Die Aufforderung, sich im Spiegel zu betrachten, erklärt die Auswahl dieses Textes für die Inschrift.

Schröder hat die Entstehungsgeschichte des Spiegels aufgearbeitet und den aus Lüneburg stammenden, später in Hamburg tätigen Goldschmied Dirick Utermarke als Künstler nachgewiesen. Er bezieht sich dabei auf die Lüneburger Archivalien, in denen Utermarke mit einer Bewerbung um Zulassung als Goldschmied in Lüneburg nachweisbar ist, und in denen Luleff Meyer von der Goldschmiedegilde des unberechtigten Handels mit Goldschmiedearbeiten bezichtigt wurde und ihm zum Vorwurf gemacht wurde, er vertreibe diese unter dem Vorwand, Spiegel produzieren zu lassen, für die das Goldschmiedeamt nicht zuständig war.38) Um einen dieser Spiegel handelt es sich bei dem Stück der Dresdner Kunstkammer, das 1610 erstmals in einem Inventar der Kunstkammer als von einem Lüneburger erkaufft genannt ist und das nach Ausweis der Rentkammerrechnungen am 19. Mai 1601 von der Kurfürstin für die Kunstkammer erworben wurde.39)

Das ikonographische Programm des Spiegels entspricht so sehr den Lüneburger Lieblingsthemen der bildenden Kunst um 1600, dass es äußerst naheliegend ist anzunehmen, Utermarke habe sich durch Vermittlung von Luleff Meyer mit diesem Stück beim Rat der Stadt um eine Arbeitsberechtigung als Freimeister oder als Meister des Goldschmiedeamts beworben, wie ein Brief von ihm belegt. In einem Schreiben vom 26. Juni 1592 äußert Utermarke, er habe nicht ungerne vornommen, das denselbigen das stucke arbeides, so Luleff Meiger machen laßen, vnd gezeiget, nicht vbel gefallen.40) Die Formulierung gibt Aufschluss darüber, wie sich Utermarke ein in der Fertigung derart kostspieliges ‚Bewerbungsstück‘ leisten konnte. Der Umstand, dass Utermarke – zumindest aus Sicht des Goldschmiedeamts – keinerlei Berechtigung hatte, in Lüneburg eine Goldschmiedearbeit anzufertigen, erklärt auch, warum der Spiegel keine Marken trägt, sondern nur nahezu unsichtbar einpunziert den Löwen des Lüneburger Beschauzeichens und die Initialen der beiden Beteiligten.

Seinen eigenen Äußerungen in derselben Akte zufolge ließ Luleff Meyer, dem das Goldschmiedeamt Bünhaserey (unerlaubte Tätigkeit als Goldschmied außerhalb des Amts) unterstellte, der nach seiner Darstellung aber nur als Jubilirer tätig war und Goldschmiedearbeiten verkaufte, derartige Spiegel von Goldschmieden nicht nur als Auftragsarbeiten, sondern auch auf Vorrat herstellen, um sie dann zu verkaufen. Die Beschwerde der Goldschmiedegilde wird vor diesem Hintergrund durchaus verständlich und belegt diese Praxis zugleich. Möglicherweise war es tatsächlich der von Dirick Utermarke angefertigte Prunkspiegel, der das Fass zum Überlaufen brachte und das Goldschmiedeamt dazu bewog, nun gegen den geschäftstüchtigen Jubilirer offiziell vorzugehen. Im Mittelpunkt der sich mindestens über zwei Jahre hinziehenden Verhandlungen, in die auch das Hofgericht in Celle einbezogen wurde, stand die Frage, ob ein Lüneburger Brauer berechtigt war, gleichzeitig auch Handel mit Gold- und Silberwaren zu betreiben. Denn offiziell fungierte der zum Goldschmied ausgebildete Luleff Meyer, der diesen Beruf nach eigener Aussage zwölf Jahre lang ausgeübt hatte, inzwischen als Brauer und durfte nach Auffassung der Goldschmiede keiner weiteren Tätigkeit nachgehen, schon gar nicht dem Verkauf von Gold- und Silbergerät, der ihrer Auffassung zufolge – außer an drei Tagen im Jahr und auf dem freien Michaelismarkt – allein den Goldschmieden zustand. Die Meinungen der beiden Streitparteien gingen in dieser Frage weit auseinander, eine Entscheidung des Prozesses ist in der Akte des Stadtarchivs nicht überliefert. Bemerkenswert sind allerdings die Aussagen der von Luleff Meyer benannten Zeugen im Jahr 1592, also dem Jahr der Fertigstellung des Spiegels, wonach Meyer nur Gesellen zur Herstellung der Spiegel angestellt habe, die mit Kupfer und Blei arbeiteten, niemals aber mit Gold und Silber. Einer dieser Gesellen heiße Dirick Utermarke.41)

Ob es Luleff Meyer gelang, den kostbaren Spiegel zunächst an einen Lüneburger Bürger zu verkaufen, oder ob der anlässlich des Erwerbs durch die Kunstkammer 1601 genannte Johann Schlowern von Lünenburgk als Vermittler im Auftrag von Luleff Meyer tätig wurde, lässt sich nicht feststellen. Ein Bürger dieses Namens ist in Lüneburg um 1601 nicht nachweisbar. Dass seine Bewerbung in Lüneburg erfolglos blieb, veranlasste Dirik Utermarke 1595 dazu, nach Hamburg zu gehen, wo er seit 1599 als äußerst produktiver Meister in der Goldschmiede-Innung nachweisbar ist (vgl. a. Nr. 743).42)

Die von Hipp selbst als verwegene Hypothese bezeichnete Vermutung, der Spiegel sei ursprünglich für Herzog Wilhelm den Jüngeren von Lüneburg gefertigt worden,43) erscheint gleich aus mehreren Gründen wenig glaubhaft. Zunächst sind es die spezifisch stadtlüneburgischen Bildmotive, die zusammen mit der Datierung 1592 und den Archivalien den Spiegel als das Stück plausibel erscheinen lassen, mit dem sich Utermarke als Goldschmied bei der Stadt bewarb. Umgekehrt ist es wenig wahrscheinlich, dass Lüneburger Patrizier mit der Anfertigung eines derartig aufwendigen, speziell für den Herzog konzipierten Stücks, das der These Hipps zufolge eine Art Versöhnungsgeschenk an Herzog Heinrich gewesen wäre, einen Goldschmied beauftragt hätten, der nicht als Meister vom Goldschmiedeamt zugelassen war, sondern als Geselle bei einem – zumindest in den Augen der Lüneburger Goldschmiede – etwas fragwürdigen Geschäftsmann der Stadt arbeitete. Zudem wurde der Spiegel 1601 bei dem Lüneburger Johann Schlowern für 1657 Florin erworben und kam nicht – ob als Kauf oder Geschenk – vom Lüneburger Herzogshof. Hipp möchte zudem die Inschrift B auf die Gemütskrankheit des Herzogs beziehen und sieht die Auswahl des Autors Galen dadurch bestimmt, dass er als Autorität für die Behandlung von Gemütskrankheiten herangezogen wurde. Wo in der Inschrift B die Rede davon sein soll, dass man – wie Hipp in einem eigenen Kapitel erläutert – nach Anschauung der zeitgenössischen Wissenschaft durch Bildung Defekte ausgleichen könne,44) bleibt unklar. Vielmehr ist hier lediglich von der Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit beim Blick in den Spiegel die Rede und von einem tugendhaften und bescheidenem Leben. Dass man bei der Konzeption des Spiegels schlicht nach einem auf einen Spiegel bezogenen Autoritäten-Zitat suchte, das man in deutsche Verse über ein gottgefälliges Leben umdichten konnte, mag zu selbstverständlich klingen. Der Text der eben nicht in elaborierten lateinischen Versen, sondern in leicht verständlichen deutschen Reimversen formulierten Inschrift, die nur sehr lose in Bezug zu dem literarischen Vorbild steht, belegt aber genau das.

Neben den zitierten Archivalien bestätigt auch ein Gedicht die Lüneburger Herkunft des Spiegels. Es ist bislang nur in einem gedruckten, aber undatierten Exemplar in Hannover nachweisbar und trägt den Titel Beschreibung des kunst und Schatzreichen Spiegels / so von etzlichen Kunstliebenden zu Lüneburg angeordnet / vnnd verfertiget.45) Das Gedicht enthält eine Ekphrasis, in der der Spiegel detailliert beschrieben und seine Ikonographie gedeutet wird. Das Erscheinungsbild des Drucks mit Virgeln und in der Randleiste angebrachten Stichworten sowie Verweisen auf Bibelstellen und der jede Seite umgebende Ornamentrahmen legen eine Entstehung in der Zeit um 1600 nahe. Naheliegend wäre es, als Verfasser einen der so eng mit der Traumdeutung durch Daniel und der Vision des Monarchienmanns vertrauten Lüneburger Gelehrten anzunehmen, etwa den 1597 verstorbenen Hieronymus Henninges (vgl. Nr. 436 u. 665), oder aber Paul Blocius, der seit 1594 zunächst als Konrektor und später als Rektor an der Johannisschule, aber auch als Dichter tätig war (vgl. Nr. 923). Dass er die Kunstform der Ekphrasis kannte, beweist sein langes Gedicht auf das Gemälde der Kreuzeserscheinung der Dorothea von Meding im Kloster Lüne (DI 76, Nr. 221 mit Nachtrag in DIO).46) Stilistisch stehen die eher einfachen deutschen Reimverse, in denen der Spiegel beschrieben und ausgedeutet wird, dem Gedicht des Blocius auf die Kreuzeserscheinung sehr nahe. Dasselbe gilt für die Anordnung der Verse in einem Ornamentrahmen, der auch die außen neben den Versen stehenden und von diesen durch eine Linie getrennten Marginalien umfasst.

Textkritischer Apparat

  1. Sic!
  2. Anstelle von CAESAR. Die Buchstaben im rechten Teil dieser Inschrift entsprechen nicht dem Erscheinungsbild der Entstehungszeit, die einheitliche dicke Strichstärke lässt sie eher plump erscheinen. Vermutlich restauriert.
  3. Die Bedeutung des G unklar.
  4. Gemeint ist Konstanz.
  5. Gemeint ist Magdeburg.
  6. Gemeint ist Mähren.
  7. Gemeint ist Savoyen.
  8. Gemeint ist Weisbach.
  9. Zum Zeitpunkt der Bearbeitung an den in Klammern gesetzten Stellen hinter dem Glas nicht sicher zu lesen, möglicherweise aber noch mehr Buchstaben vorhanden.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr. IV 110.
  2. Auf die Blasonierung der 56 Wappen wird hier verzichtet, da dies den Umfang eines Katalogartikels sprengt, ohne von inhaltlicher Bedeutung zu sein, und lediglich auf das übliche Quaternionenschema verwiesen. Vgl. Rainer A. Müller, „Quaternionenlehre“ und Reichsstädte. In: Reichsstädte in Franken (Aufsatzband 1), hg. v. Rainer A. Müller. München 1987 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 15,1), S. 78–97. Vgl. a. Nr. 797. Eine Blasonierung aller Wappen in DI 66, Nr. 224. Dort auch Ausführungen zu den Verfremdungen der Namen durch unreflektierte Übernahme aus Vorlagen.
  3. Zum Bildprogramm des Spiegels ausführlich und grundlegend Schröder, Utermarke, S. 94–97, sowie unter Bezug auf Schröder: Elisabeth von Hagenow, Städtisches Selbstbewußtsein und höfischer Sammlungsanspruch – Der Spiegelrahmen von Dirich Utermarke im Grünen Gewölbe zu Dresden. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 36, 1997, S. 28–54. Vgl. a. Tipton, Res publica, S. 44–46 sowie S. 536 mit Abbildung des der Darstellung von Justitia, Pax, Res publica, Caritas und Prudentia zugrundeliegenden Holzschnitts von Jost Ammann. Hierzu auch Hipp, Bilder, S. 224f.
  4. HStA Dresden, Bestand 10009, Nr. 4, Inventar Kunstkammer 1610, fol. 197v. Vgl a. den gesamten Eintrag Anm.
  5. Is. 40,3.
  6. Nach Claudius Galenus, Suasoria ad artes, in den lateinischen Werkausgaben auch als Exhortatio ad bonas artes übersetzt. Vgl. u. a. Epitome Galeni Pergameni operum in quattuor partes ..., hg. v. Andreas Lacuna. Basel 1551, S. 2 (VD 16, G 131). Vgl. Kommentar.
  7. Die Angabe des Bibelbuchs bezieht sich nicht auf den voraufgegangenen Inschriftentext, sondern auf das darunter dargestellte apokalyptische Tier. Zu Nimrodt als erstem Herrscher vgl. a. Henninges, Theatrum, Tom. I, S. 8.
  8. Io. 19,19.
  9. Nach Lk. 21,33, Mk. 13,31 oder Mt. 24,35.
  10. Vgl. Anm. 2.
  11. Wappen Jerusalem (Krückenkreuz, in den vier Feldern vier Krückenkreuze).
  12. Wappen ? (steigender Löwe).
  13. Wappen Athen (sechsfach schräggeteilt, davor ein Schild mit einem Adler).
  14. Wappen Sizilien (viergeteilte Raute, oben und unten siebenfach gespalten, rechts und links ein Adler).
  15. Wappen Afrika (oben Krone, unten Fisch).
  16. Wappen Tartaren (steigender bekrönter Löwe).
  17. Wappen Barbaria (Adler).
  18. Wappen Alexander der Große (Greif).
  19. Wappen Syrien (drei gezinnte Balken).
  20. Wappen Sparta (Blume?).
  21. Wappen Julius Caesar? (doppelköpfiger Adler).
  22. Wappen Ägypten (vier Balken belegt mit ?).
  23. Wappen Schweden (im mehrfach schräggeteilten Feld steigender Löwe mit Wappenschild, darauf drei Kronen, 2:1).
  24. Wappen Deutsches Reich (Adler).
  25. Wappen Frankreich (drei Lilien, 2:1).
  26. Wappen Böhmen (bekrönter steigender Löwe).
  27. Wappen Schottland (bekrönter steigender Löwe).
  28. Wappen Ungarn (gespalten, vorne vier Balken, hinten Doppelkreuz).
  29. Wappen Spanien (bekrönter steigender Löwe).
  30. Wappen Dänemark (drei Löwen übereinander zwischen neun Herzen).
  31. Wappen Portugal (in den vier Ecken je drei Türme 2:1, in der Mitte ein von vier oberhalben Lilien umgebener Schild, darin fünf Schilde mit fünf Punkten darauf, die Schilde 2:1:2).
  32. Wappen Polen (bekrönter Adler mit Schärpe).
  33. Wappen Neapel (oben ?, unten drei Lilien, 2:1).
  34. Wappen England (drei Leoparden, der Schild umgeben von der Devise des Hosenbandordens).
  35. Frieder Ryser, Verzauberte Bilder – Die Kunst der Malerei hinter Glas von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, München 1991, S. 73f.
  36. Schröder, Utermarke, S. 96. Jean Louis Sponsel, Das Grüne Gewölbe zu Dresden: ein Auswahl von Meisterwerken der Goldschmiedekunst. Bd. 2, Leipzig 1928, S. 238–240, hier S. 238.
  37. Vgl. Anm. 6. Der Text lautet in dieser Ausgabe: Oportet itaque adolescentem suam ipsius formam ad speculum contemplari: qui si se conspexerit facie pulcra, advigilandum est, ut talis sit etiam animus: existimetque vehementer absurdum, in formosos corpore animum habitare deformem. Rursus, si se viderit esse forma corporis infelici, tanto magis illi curandum est, ut elegantem efficiat animum ... . Auf welche Ausgabe der Werke Galens sich die Stellenangabe in der Inschrift bezieht, ließ sich nicht feststellen. In der Lüneburger Ratsbücherei gibt es heute noch verschiedene auf die Werke Galens bezogene Bücher des 16. Jahrhunderts, in denen der Text jedoch nicht vorkommt. Auch in dem alten Bibliotheksverzeichnis Büttners (StA Lüneburg, AA S10m10, Nr. 1, die medizinischen Bücher unter der Rubrik Y) findet sich kein passender Eintrag
  38. Schröder, Utermarke, S. 98–100.
  39. HSTA Dresden, Bestand 10009, Nr. 4, Inventar Kunstkammer 1610, fol. 197: Ahn schönen Spiegeln 1. Großer von silber vnd vorguldter Spiegel mitt böhmischen steinen gezierett, darauf die gantze Prophezeiung Danielis vonn denn vier Monarchien, auch des Römischen Reichs vnnd dene darein gehörigenn Königreichen, Landern vnnd Provincien Wappen, ist vonn der Churfürstlichenn Sächsischen Wittwe vonn einem Lüneburger erkaufft wordenn, vnd ist das glaß darauff die Wappen amaliert zerschrickt. Der Eintrag des Inventars auch zit. bei Schröder, Utermarke, S. 97. Rentkammer-Rechnung 1600/1601: HSTA Dresden, Bestand 10037, Nr. 184, fol. 227r.
  40. Das gesamte Schreiben gedr. bei Schröder, Utermarke, S. 109. StA Lüneburg, AA G4n Nr. 1a, fol. 115.
  41. StA Lüneburg, AA G4n Nr. 1a, hier fol. 127v. Schreiben zu dem gesamten Vorgang fol. 77–159.
  42. Schröder, Utermarke, S. 101f. Jean Louis Sponsel, Das Grüne Gewölbe zu Dresden: ein Auswahl von Meisterwerken der Goldschmiedekunst. Bd. 2, Leipzig 1928, S. 240.
  43. Hipp, Bilder, S. 233–248.
  44. Hipp, Bilder, S. 243.
  45. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover, C 901. Gedr. bei Schröder, Utermarke, S. 110–113.
  46. Paul Blocius, Warhafftige Beschreibung Eines Wunderbaren Gnaden-Gesichtes am Himmel / Uber daß Erbare / in Gott Andechtiges JungfrawenCloster Lüne für Lüneburg. Auf Andechtigem sattem Bericht und Christlicher Beliebung / der Wollwirdigen Edlen Sieherin / DOROTHEAE von Meding / Vieljärigen ernantes Closters DOMINAE. Lüneburg 1623.

Nachweise

  1. Schröder, Utermarke, S. 94–100 (Tituli A unvollständig, Schluss der Inschrift B, C, D, F, H 2. Feld; die Inschriften normalisiert).
  2. Jean Louis Sponsel, Das Grüne Gewölbe zu Dresden: ein Auswahl von Meisterwerken der Goldschmiedekunst. Bd. 2, Leipzig 1928, S. 238–240 (A unvollständig, B).
  3. Tipton, Res publica, S. 45f. (nach Schröder: Schluss der Inschrift B, C, D, F, H 2. Feld).
  4. Hipp, Bilder, S. 242 (B), Abb. S. 234f., 238, 247.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 578 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0057806.