Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 430† St. Johannis 1566

Beschreibung

Gedenktafel. Nach Rikemann und Sagittarius war die Tafel, deren lange gemalte Inschriften an die 1566 in Lüneburg grassierende Pest erinnerten, in der Kirche aufgehängt. Zu Rikemanns Lebenszeit († 1626) war die Tafel noch vorhanden, zu Gebhardis Zeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hing sie im äußeren südlichen Seitenschiff neben dem Chor, der Text war jedoch kaum mehr lesbar.1)

Inschrift A nach Sagittarius, Inschriften B und C nach Rikemann.

  1. A

    ANNO M. D. LXVI.

  2. B

    Anni ubi mille fluunt2) quingenti sex deciesqueEt sex a partu virgo beata tuoVindicis a justo Domini succensa furorePestifera in toto saevÿt orbe lues5Hei rapuit teneris multos hei pestis in annisHei rapuit juvenes hei rapuitque senesJusta Dei in mundum desaevÿt ira malignumMundum qui pravus non magis esse potestFelix qui fluidae peragita) sic tempora vitae10Vivat ut in Dominob) post sua fata Deoc)Qui pietatis amans morieris gaudia coeliEt capies laetus regna beata DeiSi moreris saevus divini dogmatis hostisDamnatus Stÿgias tristis adibis aquas15Impius est testis flammis qui tortus averni3)Dives nunc poenas impietatis habetLazarus est testis vixitd) qui pauper in orbeNunc capit Abrahae gaudia laeta sinuQuid mortalis homoe) Bulla est quid bulla vocatur4)20Est cito disperiens spuma fluentis aquaeQuid mortalis homo levis umbra est corporis illa estIn luce effigies qua pereunte peritQuid mortalis homo fumus quid fumus in altof)Est vapor exhalans crassusg) ab igne levis25O mortalis homo tecum perpendito peccansh)Quod Stÿgia est semper poena luenda tibii)Quod si anima in poenis damnata sederet averniChristicolaej) veteres ut retulere pÿHaec habeatque sibi a Domino promissa tonanti30Quod sit ab infernis tum rediturak) focisAles ubi montes alio transvexerit unaQuos orbis cunctos hic spatiosus habetSingula post annos millenos granula arenaeTollens per liquidas aeris illa vias35Menalon et Pindum Rhodopen Parnasson et Idal)Pelion et Montes Helia sancta tuosm)Quodque habet haec circum Phoebes urbs inclÿta arenaen)In te quod Phoebes inclÿta terra iaceto)Temporis o quantum mora quanta erit illa futurap)40Attamen est tandem finem habitura semelq)Sicr) animae sero quamvis tamen esset in orcoSpes miserae e Stigÿs posses) redire focisNon habet aeternum finem non ignist) AverniImpie perpetuo quo cruciandus erisu)45Ergo age dum veniae spes est malev) coepta relinqueNon veniae spes est post tua fata tibiw)Gaudia erunt illi sed laeta praemia coelix)Dogmata qui gnati discit amatque DeiHunc habet authorem Dominumy) creditque salutis50Esse suae in cunctis praesidiumque malisz)Atque animam tradet dilecti in nomine GnatiAeterno moriens et sua fata DeoMolliter in tumulo requiescit liber ab omniQuae gravataa) aerumna plurima in orbe pios55Corpore semotusbb) socio sed spiritus interCaelicolascc) capiet Gaudia vera Deidd)Aethereo donec iudexee) descendet OlÿmpoChristus ut ex meritis praemia quisque feratff)Corporis exuvÿs rursus tum tectus ut ante60Cum Domino vivet sempergg) agetque DeoHaec abiens animo tecum perpendito LectorQuo venies semperhh) post tua fata manes

  3. C

    O Mensch gedenck woll und rechtDu seist reich arm herr oder knechtWeiß schon edel oder gelerthDas dich der todt ankommen werdt5O Mensch gedenck in kurtz da feinDie tag und freud auff erden deinEin wasser bloß ein schem und graßIs des menschen lebn gleube dasWen du meÿnst du wilt leben lang10So kumpt der todt und dir wert bangNimpt hen wech alles was de weltHat und der Mensch vor freude heltO Mensch gedenck der langen ZeittDas kein end hat die ewigheit15Es haben die alten uorgesteltDie langen zeit alß die weltWer ein sandberg groß überalVnd die seel festh in der hellen qualSo den Gott gebe solchen trost20Das sie den solt werden erlöstWen den berch hette henwechgefortEin voglin up ein ander ortNach tausent iahrn ein korneleinDarvan wech neme allein25Gedenck o lieber Christen meinWelch ein lange zeitt wurde daß seinDoch wurde es geschehen nach langer zeittKein ende hat die EwigheitGleubstu nu recht an Jesum Christ30Das du dorch en grecht worden bistVnd beweisest den glauben feinMit wolthat uiel dem negsten deinSo stirbstu woll und seeliglichVnd bleibest beÿ Gott Ewiglich35Hastu gelebet wie der reiche mannVnd dem armen Lazaro nicht guts gthanSo kumptu in die hellen gludtWoll dem der in zeitt buße thutThustu buß und bleibest from40Bittst Gott umb Gnadn durch seinn sohnBleibstu im glauben biß anns endVnd befelst dein seel in Christi hendtSo wert sie bald zu himel gefurtDer leib wert in die Erdn vorschort45Biß der Herr zu gricht kumpt herabSo wert der leib bald auß dem GrabDer seel uoreingt snelliglickVnd bleibt beÿ Gott EwiglickNu gehin und schicke dich also50Das du sein mögst im himel froWor hen du kumpst na dem End deinDar mustu bleiben und Ewig sein

Übersetzung:

Als eintausendfünfhundert und sechsundsechzig Jahre seit deiner Geburt (d. h. Niederkunft), selige Jungfrau, verflossen waren, wütete, entfacht vom gerechten Zorn des strafenden Herrn, auf der ganzen Erde eine todbringende Pest. [5] Ach, sie raffte viele Kinder in ihren jungen Jahren dahin, und, ach, sie entriss jungen und alten Leuten das Leben. Der gerechte Zorn Gottes wütete gegen die böse Welt, die gar nicht böser sein kann. Glücklich der, welcher die Zeit seines flüchtigen Lebens so verbringt, [10] dass er nach seinem Tod in Gott dem Herrn lebt. Wenn du als Anhänger des christlichen Glaubens stirbst, wirst du glücklich die Freuden des Himmels und das selige Reich Gottes erlangen. Wenn du hingegen als erbitterter Feind der göttlichen Lehre stirbst, wirst du als Verdammter traurig zu den Wassern des Styx hinabsteigen. [15] Zeuge dafür ist der gottlose Reiche, der jetzt in den Flammen der Hölle gequält wird und so die Strafe für sein Gottlosigkeit empfängt, und ebenso ist Zeuge Lazarus, der als Armer auf der Welt gelebt hat und jetzt im Schoße Abrahams die seligen Freuden genießt. Was ist denn der sterbliche Mensch? Er ist eine Seifenblase, und was nennt man eine Seifenblase? [20] Es ist ein rasch sich auflösender Schaum des zerfließenden Wassers. Was ist der sterbliche Mensch? Er ist ein flüchtiger Schatten, nur der Schein eines Körpers bei Licht, der vergeht, wenn das Licht schwindet. Was ist der sterbliche Mensch? Ein Rauch. Und was ist der Rauch: er ist ein dichter Dampf, der sich leicht aus dem Feuer erhebt und in der Höhe verraucht. [25] O sterblicher Mensch, bedenke bei dir, wenn du sündigst, dass du für immer die Höllenstrafe erleiden musst. Wenn eine Seele zu den Höllenstrafen verdammt wäre, und sie hätte, wie die alten frommen Christen erzählten, vom donnernden Herrn das Versprechen, [30] dass sie dann aus dem Höllenfeuer befreit werde, nachdem ein Vogel, der über alle Berge hinweg, die diese weite Welt besitzt, anderswohin fliegt und dort alle tausend Jahre ein Sandkorn mitnimmt und durch die durchsichtigen Wege der Luft trägt, [35] also das Maenalosgebirge, den Pindus, das Rhodopegebirge, den Parnass und den Ida, den Pelion und deine Berge, heilige Helias, abträgt und dazu all den Sand, den das berühmte Lüneburg um sich herum hat und der in dir, glorreiche Erde Lüneburgs, lagert: o welch eine lange Zeitspanne ergäbe dies – [40] und doch hätte sie zuletzt einmal ein Ende. Auf diese Weise hätte die arme Seele in der Hölle, wenn auch spät, doch noch die Hoffnung, aus dem Stygischen Feuer befreit zu werden. Doch jenes Feuer, in dem du Gottloser für immer gequält zu werden verdienst, hat in Ewigkeit kein Ende. [45] Darum also lass ab von deinem bösen Beginnen, solange noch Hoffnung auf Vergebung besteht: wenn du tot bist, gibt es keine Hoffnung mehr auf Vergebung. Hingegen wird jener die Freude haben und den beseligenden Lohn des Himmels, der die Lehre des Gottessohnes lernt und liebt, der diesen als seinen Bürgen hat und glaubt, dass er der Herr seines Heils ist [50] und sein Schutz in allen Übeln, und der seine Seele im Namen des geliebten Gottessohnes hingeben und im Sterben seinen Tod dem ewigen Gott anvertrauen wird. Er ruht sanft in seinem Grab, frei von allem Kummer, der im Unmaß die Frommen in dieser Welt bedrückt. [55] Nun wird sein Geist, getrennt von seinem Körper, der ihn begleitete, inmitten der Himmelsbewohner die wahren Freuden Gottes genießen, bis Christus als Richter vom erhabenen Himmel herabsteigen wird, damit jeder entsprechend seinen Verdiensten den Lohn empfange. Dann wird er, erneut wie zuvor mit der körperlichen Hülle bedeckt, [60] mit dem Herrn leben und mit Gott ewig vereint sein. Bedenke dies bei dir selbst, Leser, wenn du von hier weggehst: dort, wohin du nach deinem Tod kommst, dort bleibst du für immer. (B)

Versmaß: Elegische Distichen (B), deutscher Reimvers (C).

Kommentar

Rikemann schreibt Lucas Lossius die Verse zu, die dessen Lieblingswendung Phoebes urbs (Stadt der Mondgöttin) enthalten.5) Sie thematisieren allerdings kaum die Pestepidemie von 1565/66, sondern nehmen diese nur zum Anlass, unter Verwendung diverser theologischer, literarischer und mythologischer Vorlagen allgemein die Themen Tod, Vergänglichkeit, Endlichkeit, Vergebung der Sünden und das Jenseits zu behandeln.

Über das Ausmaß der Pestepidemie in der Stadt Lüneburg ist nichts bekannt. Die Zahl der Toten dürfte jedoch hoch gewesen sein, denn die Stadt ließ 1565/66 ein Haus vor dem Bardowicker Tor zur Aufnahme der Pestkranken errichten, das in der Folgezeit allgemein als Hospital genutzt und von der Liebfrauengilde verwaltet wurde (vgl. a. Nr. 583).6) Da in den Jahren 1565/66 nicht mehr Grabinschriften zu verzeichnen sind als in den anderen Jahren, ist zu vermuten, dass die vermögenden Bürger weitgehend von der Pestepidemie verschont blieben.

Textkritischer Apparat

  1. transit Sagittarius.
  2. Vitae ut aethereo Sagittarius.
  3. polo Sagittarius.
  4. sanctus bei Rikemann, so bei Sagittarius.
  5. homo est Sagittarius.
  6. altu Rikemann, auras Sagittarius.
  7. Halitus aethereas missus Sagittarius.
  8. homo peccans hoc volvito mente Sagittarius.
  9. malis Sagittarius.
  10. Christicolis Rikemann, so bei Sagittarius.
  11. tunc revocanda Sagittarius.
  12. omnes Sagittarius.
  13. Helia quos circum te celebrata vides Sagittarius.
  14. Quosque vident Alpes seu Ciricum et Teutonis ora Sagittarius.
  15. Montes et terrae quicquid in orbe jacet Sagittarius.
  16. futura fehlt bei Sagittarius.
  17. Attamen haec fines est habitura suos Sagittarius.
  18. Huic Rikemann, so bei Sagittarius.
  19. facta Rikemann, so bei Sagittarius.
  20. aeternus finem cruciatus Sagittarius.
  21. Coelica sic omni gaudia fine carent Sagittarius.
  22. mala Sagittarius.
  23. Spes tibi post mortem nulla salutis erit Sagittarius.
  24. Aetherea laetus semper gaudebit in arce Sagittarius.
  25. tantum Sagittarius.
  26. Ponit in hoc solo spemque fidemque suam Sagittarius.
  27. premit Sagittarius.
  28. sejunctus Sagittarius.
  29. Coelestes Sagittarius.
  30. choros Sagittarius.
  31. Christus Sagittarius.
  32. Praemia pro meritis reddere cuique suis Sagittarius.
  33. laetus Sagittarius.
  34. moriens Sagittarius.

Anmerkungen

  1. Rikemann, Luneburgensia, fol. 38r. Gebhardi, Collectanea, Bd. 1, p. 496.
  2. Mit Anni ubi mille fluunt beginnt auch ein Gedicht von Lucas Lossius auf die neue Orgel von 1553 in St. Johannis. Sagittarius, Historia, p. 301.
  3. Vgl. Lc. 16.
  4. Vgl. Erasmus, Adagia, 1248 (II.3.48.).
  5. Rikemann, Luneburgensia, fol. 38r.
  6. StA Lüneburg, AA A3 Nr. 26a.

Nachweise

  1. Rikemann, Luneburgensia, fol. 38r–40v.
  2. Sagittarius, Historia, p. 366f.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 430† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0043008.