Inschriftenkatalog: Lüneburg (Stadt)

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 100: Stadt Lüneburg (2017)

Nr. 142† St. Lamberti 1479

Hinweis: Die vorliegende Online-Katalognummer ist im Vergleich zum gedruckten Band mit Ergänzungen und Korrekturen versehen. Sie finden diese am Ende des Artikels. [Dorthin springen]

Beschreibung

Kelch. Der zur zweiten Vikarie am Altar St. Hulperici gehörende Kelch wurde im Jahr 1541 nach der Durchführung der Reformation an die Stadt übergeben. Er war unter dem Fuß mit einer Inschrift versehen, die anlässlich der Übergabe verzeichnet wurde.1)

Inschrift nach Calices beneficiorum.

  1. Dussen kelck hefft Gessche boeckholtes gegeven to dem altar sunte hulpe to orer Com(m)enden

Kommentar

De erlike Juncfrouwe Gesche Bockholt errichtete im November 1479 die in der Inschrift erwähnte Kommende am Hulperici-Altar an St. Lamberti, für die sie Geld aus verschiedenen Renteneinkünften stiftete.2) Der von ihr für die Ausstattung der Kommende gestiftete Kelch ist in der Stiftungsurkunde nicht erwähnt. Erster Inhaber der Kommende sollte der Sohn ihrer Schwester Johannes Zander werden. In der Stiftungsurkunde ist Gesche Bockholt als Jnwonersche bezeichnet, sie besaß also nicht das Bürgerrecht der Stadt Lüneburg. Einen weiteren zu dieser Kommende gehörenden Kelch stiftete zu einem unbekannten Zeitpunkt Alheid Bockholt (vgl. Nr. 299), deren Verwandschaftsverhältnis zu Gesche nicht bekannt ist.

Bei dem Altar, zu dem die Kommende gehörte, handelte es sich um den Altar St. Hulperici oder Hulperti – zutreffender in der Inschrift des Kelchs als altar sunte hulpe bezeichnet –, der im Jahr 1469 von der Bruderschaft St. Hulperici in einer auf der Nordseite von St. Lamberti angebauten kleinen Kapelle gestiftet worden war. Die 1414 auf Betreiben der Sülzmeister gegründete Bruderschaft war eine Begräbnisbruderschaft, der alle Beschäftigten der Saline beizutreten hatten. Die Statuten der Bruderschaft von 1518 geben auch Auskunft über den eigenartigen, sonst nicht bekannten ‚Heiligen‘ St. Hulpericus oder St. Hulpertus, der in den Archivalien verschiedentlich im Zusammenhang mit seinem Altar und den dazugehörigen Kommenden genannt ist. Bei St. Hulpericus, der außerhalb von Lüneburg nicht belegt ist, handelt es sich nach Aussage der Statuten um die Verkörperung der göttlichen Hilfe (sunte hulpe), die Karl dem Großen auf dem heute noch als Wallfahrtsort bekannten Hülfensberg im Eichsfeld durch die Erscheinung eines Kruzifixes zuteil geworden war, unde heft syne vynde so ok averwunnen myt der hulpe godes, dar dusse sulve gilde so is na genomet, welke hulpe des alweldigen godes uns jo mote helpen nu unde to allen tyden.3)

Anmerkungen

  1. Calices beneficiorum, [fol. 2r].
  2. StA Lüneburg, UA a: 1479 November 19 I /II.
  3. Bodemann, Brüderschaften, S. 76–79, hier S. 78. Die Signatur der bei Bodemann vollständig wiedergegebenen Quelle konnte bislang noch nicht nachgewiesen werden.

Nachweise

  1. Calices beneficiorum, [fol. 2r, 3r, 5v].
Addenda & Corrigenda (Stand: 22. September 2020):

Die in dem vorliegenden Katalogartikel getroffene Feststellung, ein St. Hulpericus sei außerhalb Lüneburgs nicht belegt, ist in dieser Form nicht ganz zutreffend. Um hier zu wirklich sicheren Erkenntnissen zu gelangen, müssten sämtliche Quellenbelege zu den Patrozinien St. Hulpe bzw. St. Helprardus martyr in Norddeutschland kritisch überprüft werden. Dies erst einmal anhand der recht reichhaltigen Lüneburger Quellenbelege zu tun, regte die Untersuchung von Andreas Röpcke zur Verehrung von St. Hulpe in Norddeutschland an.1) Denn anders als bei Röpcke beschrieben, ist in den Quellen der Stadt Lüneburg eine klare Abgrenzung zwischen beiden Patrozinien getroffen. Bei der Sichtung der Lüneburger Archivalien stellte sich auch heraus, dass die auf Bodemann zurückgehende Behauptung, die Begräbnisbruderschaft St. Hulpe sei bereits 1414 auf alle Angehörigen der Saline ausgedehnt worden, unzutreffend ist und dies erst 1514 der Fall war. Im Folgenden sollen die Ergebnisse der grundlegenden Quellenauswertung zum Thema ‚St. Hulpe und Helprardus martyr in der Stadt Lüneburg‘ dargelegt und der bisherige Kommentar dadurch korrigiert und erweitert werden. In Lüneburg existierte neben dem Altar St. Hulpe, für den Gesche Bockholt 1479 die Kommende und den dazugehörigen Kelch stiftete, ein Altar St. Matthäi in St. Johannis, der u. a. auch dem Märtyrer St. Helprardus geweiht war. Damit waren hier die beiden Patrozinien vertreten, die nach Röpcke aufgrund der Ähnlichkeit der Namen Grund zur Verwechslung bieten konnten und geboten haben. Älter ist in der Stadt Lüneburg die Heiligenverehrung des Märtyrers St. Helprardus, der bei der Gründung des Altars St. Matthäi 1379 an zweiter Stelle genannt ist: in honore s. Mathei apostoli, helprardi martiris, leonardi confessoris ... .2) Der Altar in St. Johannis wurde am 13. Juli 1379 durch die Testamentsvollstrecker des Heinrich von Erpensen begründet und befand sich am vierten südlichen Pfeiler des Mittelschiffs. Durch den Namenszusatz martyr ist Helprardus in allen Lüneburger Quellenbelegen ganz eindeutig als der Königssohn aus Sizilien (oder Cilicien) gekennzeichnet, der nach dem Erleiden einiger Foltern schließlich geköpft wurde.3) Immerhin verzeichnet auch noch Zedlers Universal-Lexikon4) den eher selten vorkommenden Heiligen mit seiner Legende und gibt den 17. Juni als seinen Festtag an. Das passt exakt zu dem Memorienbuch des Klosters Bardowick, in dem hinter der Tagesbezeichnung XV. KAL. IVLII der Zusatz Helprardi Martÿris steht.5) Die Verehrung von St. Hulpe – dargestellt als bekrönter, bekleideter Christus am Kreuz (vgl. Volto Santo in Lucca) – begann in der Stadt Lüneburg offenbar erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, als die Bruderschaft St. Hulpe der Sülzknechte ins Leben gerufen wurde, die wohl im Jahr 1469 in der Lambertikirche einen Altar in der ersten Kapelle auf der Nordseite errichtete (in parva Capella ad latus aquiloniae ecclesie sancti lamberti). Die Witwe Walborg Sagebom und die schon genannte Gesche Bockholt stifteten 1469 und 1479 jeweils eine Kommende an diesem Altar.6) Die Verwechslung des Märtyrers Helprardus mit St. Hulpe ist in den Lüneburger Quellen rein sprachlich gesehen nur an einer Stelle möglich, allerdings ausgerechnet in der ältesten Urkunde, die sich auf die Stiftung der ersten Vikarie an dem 1469 begründeten Altar St. Hulpe oder Hulperici in der Kirche St. Lamberti bezieht.7) Nur im Text dieser Urkunde findet sich zweimal die Benennung der vier Vorsteher der St. Hulpe-Gilde als oldermanni fraternitatis sancti helprardi vel hulperici. Durch das Fehlen des Zusatzes martyris ist allerdings auch hier klar, wer gemeint ist. In allen anderen Quellenbelegen ist im niederdeutschen Kontext immer von Sunte Hulpe die Rede,8) im lateinischen Kontext von hulpericus, hulpertus, hulpartus oder hulp(e)rardus,9) d. h. die latinisierten Formen leiten sich eindeutig von dem niederdeutschen Wort hulpe (hd. Hilfe) ab. Die Bruderschaft wird auch als St. Hulperichs gilde bezeichnet.10) Inhaltliche Probleme bei der Unterscheidung der Patrozinien hat die zufällige Ähnlichkeit beider Namen den Lüneburgern offensichtlich an keiner Stelle bereitet. Das bestätigen auch die Erläuterungen zum Ursprung des Namens der Bruderschaft St. Hulpe aus dem Jahr 1518, die den Statuten der Bruderschaft vorgeschaltet sind. Dem Lüneburger Barmeisterbuch zufolge, in das alle wichtigen, die Organisation der Saline betreffenden Entscheidungen eingetragen wurden, war die zunächst nur den Sülzknechten vorbehaltene Begräbnisbruderschaft im Jahr 1514 auf alle Angehörigen der Saline ausgedehnt worden.11) Offenbar um den Grundgedanken, auf dem die Bruderschaft beruhte, noch einmal allen Mitglieder der Gilde zu erklären (warumme se geheten is S. Hulpes gilde edder de gilde der hulpe godes), setzen die Vorsteher im Jahr 1518 den Statuten der Bruderschaft einen entsprechenden Passus voran.12) Darin wurde erläutert, dass sunte hulpe die Verkörperung der göttlichen Hilfe sei, die Karl dem Großen zuteil wurde, als er sich auf einem Berg im Eichsfeld, dem S. Hulpesberg (heute Wallfahrtsstätte Hülfensberg), einer 20fachen heidnischen Übermacht erwehren musste. Er bat um gotlike hulpe und ein Zeichen, das ihm in Gestalt eines Kruzifixes in der lucht gekronet myt eyner konningeskrone erschien. Das Kruzifix schwebte vor ihm in der Luft bis zu den feindlichen Truppen unde heft syne vynde so ok averwunnen myt der hulpe godes, dar dusse sulve gilde so is na genomet, welke hulpe des alweldigen godes uns jo mote helpen nu unde to allen tyden. Mit der Gründungslegende der Wallfahrtstätte Hülfensberg wurde somit kurz vor der Reformation, durch die die Bruderschaft ihren religiösen Charakter verlor, noch einmal betont, dass sich die Angehörigen der Saline in der Bruderschaft zusammenfanden in dem Glauben und der Hoffnung, dass ihnen die göttliche Hilfe für alle Zeiten beschieden war. Die hier angeführten Zitate zeigen, dass man in Lüneburg keinerlei Probleme in der Unterscheidung des Märtyrers (mit dem Festtag 17. Juni im Heiligenkalender) von dem in einem gekrönten Kruzifix verkörperten Bild der göttlichen Hilfe hatte. Tatsächlich kommt es zu den – von Röpcke im Detail behandelten – aus heutiger Sicht gelegentlich verwirrenden Namensgleichheiten bei näherem Hinsehen wohl nur in dem Bemühen, die jeweiligen Patrozinien ihrer sprachlichen Umgebung anzupassen. So wird in Lüneburg aus dem Altar der sunte hulpes gilden im lateinischen Kontext der altar sancti hulperardi seu hulperici. Dass man damit aus einem abstrakten Begriff im Femininum einen Personennamen im Maskulinum machte, störte offensichtlich niemanden und wird wohl nur aus heutiger Sicht als etwas absonderlich empfunden, nicht jedoch aus der Sicht des späten Mittelalters. Umgekehrt konnte aus dem Königssohn und Märtyrer Helprardus (mit dem Altar und Festtag helprardi martyris) im niederdeutschen Kontext des von Röpcke angeführten Lübecker Passionals Ende des 15. Jahrhunderts der Märtyrer sunte Hulpe werden, was hier eindeutig einen männlichen Personennamen meint. In Lüneburg gibt es – soweit bisher bekannt – keinen Beleg für eine niederdeutsche Benennung des Märtyrers. Zu bedauern ist es, dass über die Gestaltung des Altars in der kleinen Kapelle in St. Lamberti nichts bekannt ist; vermutlich wurde er bald nach der Reformation entfernt, auch wenn das Patrozinium der göttlichen Hilfe auch in evangelischen Zusammenhängen noch seine Gültigkeit behalten konnte. Die St. Hulpe-Bruderschaft in Lüneburg existierte auch nach der Durchführung der Reformation als geselliger Zusammenschluss weiter. Das dokumentiert ihr aus zahlreichen, mit Inschriften verzierten Deckelkrügen und Pokalen bestehendes Zinngeschirr aus dem 17. bis 19. Jahrhundert im Museum Lüneburg.

Anmerkungen

  1. 1.Andreas Röpcke, Zweimal St. Hulpe. Untersuchungen zu einer niederdeutschen Kultfigur des Spätmittelalters. In: Mecklenburgische Jahrbücher 128, 2013, S. 7–34. Röpcke endet in seiner Zusammenfassung mit offenen Fragen, die sein aus ganz Norddeutschland zusammengetragenes Material aufwirft.
  2. 2.StA Lüneburg, AB 458, fol. 34r, u. UA:c-999 (auch UA:a-2320, 1424). Vgl. a. Matthaei, Vikariestiftungen, S. 183.
  3. 3.Hierzu Röpcke (wie Anm. 1), ab S. 24, auch zu der Darstellung des Märtyrertodes und zur Heiligenlegende in den verschiedenen Drucken des Lübecker Passionals.
  4. 4.Johann Heinrich Zedler, Universal-Lexikon, Bd. 12 (1735), Sp. 1321f.
  5. 5.Jakob Rikemann, Rerum et actorum capituli Bardewicensis Volumen I–III, HAB Wolfenbüttel, Cod. Aug. fol. 19.23–25, Memorienbuch (Abschrift) Vol. III, p. 723–856, hier p. 796.
  6. 6.StA Lüneburg, UA:a-4899 (1469), UA:a-5458/5459 (1479).
  7. 7.StA Lüneburg, UA:a-4899.
  8. 8.Vgl. u. a. StA Lüneburg, UA:b-5044, UA:b-6384, AB 627/1, fol. 48v u. 49r und die Abschriften AB 627/2 u. 627/3.
  9. 9.Vgl. u. a. StA Lüneburg, AA 9951; AB 458, fol. 134v u. 135r; UA:b-7401.
  10. 10.StA Lüneburg, AA 9951.
  11. 11.StA Lüneburg AB 627/1, fol. 48v u. 49r und in den Abschriften AB 627/2 u. 627/3.
  12. 12.Der Text ist ohne Quellenangabe abgedruckt bei Bodemann, Brüderschaften, S. 77–79. Trotz intensiver Suche in den Akten- und Urkundenbeständen sowie in den Kopialbüchern des Stadtarchivs Lüneburg konnte das Original bislang nicht gefunden werden. Das bei Bodemann (S. 77) angegebene Datum der Ausdehnung der Bruderschaft auf alle Angehörige der Saline 1414 ist vermutlich aufgrund eines einfachen Druckfehlers falsch, aber bedauerlicherweise auch von anderen Autoren ungeprüft übernommen worden, und muss laut dem Barmeisterbuch (StA Lüneburg AB 627/1, fol. 48v u. 49r und in den Abschriften AB 627/2 u. 627/3) korrekt 1514 lauten.

Zitierhinweis:
DI 100, Stadt Lüneburg, Nr. 142† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di100g019k0014203.