Inschriftenkatalog: Stadt Darmstadt und Landkreise Darmstadt-Dieburg sowie Groß-Gerau

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 49: Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau (1999)

Nr. 102 Jugenheim, Evangelische Kirche 4. V. 15. Jh.

Beschreibung

Stiftungsinschrift der Jugenheimer Kirche. Die hochrechteckige Tafel aus gelbem Sandstein ist in der Ostwand des Langhauses, rechts neben dem Triumphbogen eingemauert. Die in neuerer Zeit erfolgte Ausmalung der Buchstaben mit schwarzer Farbe ist nicht immer exakt. Als Worttrenner wurden Quadrangeln mit paragraphzeichenförmig ausgezogenen Zierstrichen verwendet.

Maße: H. 77, B. 60, Bu. 6,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/1]

  1. Anno · d(omi)ni · m · cc · lxiii · / fu(n)data · e(st) · ista · ecc(les)ia · ina) / honore · Ihesu · chr(ist)ib) · et · / matris · ei(us) · marie · et · / sanctar(um) · p(er)petue · et · fe=/licitatisc) · A generoso · / ac · nobili · d(omi)no · co(n)rado / d(omi)no · i(n) · danberg · cui(us) · / a(n)i(m)a · requiescat · i(n) · s(an)c(t)a · pace · Amen ·

Übersetzung:

Im Jahre des Herrn 1263 ist diese Kirche zu Ehren Jesu Christi, seiner Mutter Maria und der Heiligen Perpetua und Felicitas gestiftet worden von dem hochgeborenen und edlen Herrn Conrad, Herrn auf Tannenberg, dessen Seele in heiligem Frieden ruhen möge, Amen.

Kommentar

Eine Entstehung der Inschrift zu dem in ihr genannten Jahr 1263 wird durch die Buchstabenformen ausgeschlossen.1) Bei der Minuskel sind die Oberlängen von b, h und l sowie die Unterlänge des p mit Schaftspaltung gebildet. Das g steht im Mittelband. Der nicht über die Grundlinie hinausreichende Unterlängenbogen holt nach rechts aus und ist links durch einen Abschlußstrich geschlossen. Die Versalien sind der frühhumanistischen Kapitalis und der gotischen Majuskel entnommen. Das erste A ist trapezförmig mit einem auf beiden Seiten überstehenden Deckbalken und gebrochenem Mittelbalken. Es zeigt somit die Form eines A der frühhumanistischen Kapitalis, doch weisen die Hasten in der Mitte dreieckig aufgesetzte Schwellungen auf. Die beiden übrigen A besitzen jeweils die Form des vollrunden pseudounzialen A mit schräggestelltem Mittelbalken. Beide Formen des A kommen in ganz ähnlicher Gestaltung in der Stiftungsinschrift der Elisabeth Pfot von 1480 vor.2) Auch ihre ebenfalls aus diesem Jahr stammende Grabplatte weist ein ähnliches vollrundes pseudounziales A auf.3) Beide Inschriften zeigen zudem vergleichbare Minuskelformen, bei denen vor allem die mit deutlicher Schaftspaltung ausgeführten Buchstaben b, h, l und p ins Auge fallen. Diese Übereinstimmungen lassen es zu, die Stiftungsinschrift in die letzten beiden Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts einzuordnen.

Die Jugenheimer Inschrift dokumentiert die Kirchengründung im Jahr 1263 durch Conrad, Herrn auf Tannenberg. Damit ist vermutlich Conrad von Bickenbach gemeint, ein Sohn Gottfrieds I. von Bickenbach und der Agnes Wildgräfin von Dhaun,4) der mit seiner Frau Jutta von Münzenberg-Falkenstein im Jahr 1264 auch das Kloster auf dem Heiligenberg gegründet hatte.5) Deshalb erklärte noch Zeller im Anschluß an die ältere Forschung,6) die Inschrift beziehe sich auf die Gründung des Klosters auf dem Heiligenberg und die Tafel sei in die Jugenheimer Kirche verbracht worden. Zuvor hatte allerdings schon Wolf darauf aufmerksam gemacht, daß in dem Text von einer ecclesia und nicht von einem „monasterium“ die Rede sei. Georg Wehsarg griff das Argument von Wolf auf und sammelte eine Reihe weiterer Indizien, die schon für das 13. Jahrhundert die Existenz einer Pfarrkirche nahelegen, die nicht mit der Klosterkirche identisch ist, und wies eine Pfarrkirche für das 15. Jahrhundert nach.7) Die Stiftungsinschrift entstand also zu einer Zeit, als die Pfarrkirche auf jeden Fall schon bestand. Ein Argument, das unter diesen Voraussetzungen ebenfalls für die Zuordnung der Inschrift zur Pfarrkirche spricht, bleibt noch nachzutragen. Das Kloster auf dem Heiligenberg wurde 1413 dem Kloster Lorsch inkorporiert.8) Es ist deshalb unwahrscheinlich, daß über 60 Jahre nach dem Ende der eigenständigen Existenz durch eine Inschrift an die Klostergründung erinnert wurde. Inschriften dieser Art dienten in der Regel der Rechtssicherung durch den Hinweis auf das Alter der Institution sowie auf die Stifter,9) und dies ergibt bei einem bereits aufgehobenen Kloster keinen Sinn mehr. Zeller geht allerdings von der Erneuerung einer älteren Inschrift aus, aber auch diese Erneuerung hätte für das aufgehobene Kloster keine Funktion mehr gehabt.

Unabhängig davon bleibt zu fragen, ob es überhaupt einen Anhaltspunkt für die Verwendung einer älteren Inschrift als Vorlage für den Text gibt. Das Formular der Inschrift entspricht nämlich ebenso den Gepflogenheiten des 15. Jahrhunderts wie die Bezeichnung Conrads als generosus ac nobilis. Zwar wird nobilis im 13. Jahrhundert in Urkunden als Epitheton für Edelfreie verwendet,10) aber in Inschriften sind zu dieser Zeit Epitheta und vor allem die Reihungen von Epitheta sehr selten. Zudem bleibt nobilis noch im 14. Jahrhundert mit wenigen Ausnahmen dem Hochadel vorbehalten. Bei den übrigen Adeligen kommt nobilis in Inschriften erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts häufiger vor.11) Weiter spricht gegen die Verwendung einer Vorlage, daß sich das Perpetua- und Felicitas-Patrozinium für die Jugenheimer Kirche erst 1467 nachweisen läßt.12) Auch die Bezeichnung Conrads als Herr von Tannenberg spricht gegen eine Vorlage, da der Verfasser der Inschrift hier offenbar Conrad von Bickenbach mit dem 1234 nachweisbaren Konrad Rabenolt von Tannenberg verwechselte.13) J. Friedrich Battenberg sieht deshalb „die Jugenheimer Stiftungstafel als plumpe epigraphische Fälschung“ an. Das vorgebliche Patrozinium sei aus der in Urkunden verwendeten Bezeichnung des Heiligenberges als „mons sancte felicitatis“ abgeleitet worden. Die Jahreszahl 1263 habe man möglicherweise in Anlehnung an das Gründungsdatum des Klosters auf dem Heiligenberg gewählt, um die Kirche älter und damit ehrwürdiger als das Kloster erscheinen zu lassen.14) Als Verfasser der Inschrift vermutet Battenberg den seit 1467 amtierenden Jugenheimer Pfarrer Nikolaus von Oberkeim, in dessen Brief aus dem Jahr 1467 auch zum erstenmal das Perpetua- und Felicitas-Patrozinium erwähnt wird.15) Nikolaus habe die Jugenheimer Kirche zur Grablege der Familie von Oberkeim ausbauen und deshalb mit Hilfe der Inschrift die Würde der Kirche gegenüber dem Kloster erhöhen wollen, obwohl dies nicht mehr als eigene Institution, sondern nur noch durch die Verbindung mit Lorsch bestand.16) Bei seiner These geht Battenberg aber irrtümlich davon aus, daß die Stiftung der Elisabeth von Oberkeim, geb. Pfot, und die damit verbundene Stiftungsinschrift sowie die Grabplatten der Familie von Oberkeim für die Jugenheimer Pfarrkirche bestimmt waren.17) Wie sich aus einer als Regest überlieferten Urkunde ergibt, ging die Stiftung jedoch an das Kloster auf dem Heiligenberg, und auch die Grabplatten waren für dort bestimmt.18) Damit kommt als Auftraggeber für die Stiftungsinschrift und die Grabplatten eher Johannes von Oberkeim in Frage. Er erhielt nämlich ebenso wie seine Frau Margareta Eckel bereits zu Lebzeiten eine Grabplatte im Kloster.19) Dies ist ein Hinweis darauf, daß er sich 1480 um seine eigene Grablege sowie um das Begräbnis seiner Mutter Elisabeth Pfot auf dem Heiligenberg kümmerte und ihre Stiftung durch die Inschrift festhalten ließ. Ob Nikolaus von Oberkeim außerhalb seiner Pfarrkirche in dieser Weise tätig geworden wäre, darf bezweifelt werden, da die Stiftung ja noch nicht einmal seiner Kirche zugute kam.20) Möglicherweise gehört die Gründungsinschrift der Jugenheimer Kirche trotzdem in diesen Zusammenhang. Es wäre nämlich denkbar, daß Nikolaus von Oberkeim die Tafel als Reaktion auf die Bevorzugung des Klosters auf dem Heiligenberg durch die eigene Familie herstellen ließ. Elisabeth, Johannes und Margareta von Oberkeim scheint es sicherer gewesen zu sein, ihre Seelen einem Gebetsgedenken anzuvertrauen, das durch die Institution des Klosters Lorsch abgesichert war. Dem trat Nikolaus nun mit dem Hinweis auf das hohe Alter der Pfarrkirche entgegen, das eine Garantie für die Kontinuität des Totengedenkens darstellen sollte. Ob das Gründungsdatum 1263 dabei der Phantasie des Nikolaus entsprang, wird sich wohl nicht mehr eindeutig feststellen lassen.

Textkritischer Apparat

  1. Die zweite Haste des n ist überputzt.
  2. Griechische Buchstaben, Bestand xpi.
  3. Der Balken des f ist überputzt.

Anmerkungen

  1. Bereits Scheins 5 und Wehsarg 50 wiesen darauf hin, daß die Buchstabenformen der Inschrift in die zweite Hälfte des 15. Jh. gehören, ohne jedoch eine paläographische Analyse vorzunehmen.
  2. Vgl. Nr. 75.
  3. Vgl. Nr. 74.
  4. Vgl. Möller, Stammtafeln AF I, Taf. II und Möller, Edelherren von Bickenbach 97.
  5. Kunz 38 f.; Battenberg, Ortsherrschaft 20.
  6. Vgl. etwa Dahl, Beschreibung 104; Grimm 62; Scheins 5 f.; Schenk zu Schweinsberg, Diskussionsbeitrag 5; Dammann 148 und 301; weitere Literatur bei Wehsarg 46 f.
  7. Wehsarg passim, bes. 49 – 51 u. 65; seinen Argumenten folgen Möller, Edelherren von Bickenbach 101, Kunz 83, Demandt, Kirchenorganisation 122 und Battenberg, Ortsherrschaft 19; die Identität von Kloster- und Pfarrkirche nimmt Schenk zu Schweinsberg, Diskussionsbeitrag 5 an; ähnlich auch Zeller 70.
  8. Gudenus, Codex Diplomaticus IV Nr. 34.
  9. Die nachträgliche Fertigung einer Inschrift, die an den Stifter und seine Stiftung erinnern sollte, ist auch aus der ehemaligen Stiftskirche in Ravengiersburg bekannt. Dort ließ man 1497 eine Tafel aufstellen, die an die Kirchengründung durch den Grafen Berthold und seine Frau Handewig im Jahr 1074 erinnerte, vgl. Backes, Kdm. Rhein-Hunsrück-Kreis 1, II 775 f. mit Abb. 715; vgl. demnächst auch DI Rhein-Hunsrück-Kreis (in Bearbeitung).
  10. Spieß, Ständische Abgrenzung 199 f.; die Herren von Bickenbach waren edelfrei, vgl. Möller, Edelherren von Bickenbach 95 f.
  11. Vgl. DI 34 (Lkr. Bad Kreuznach) XXXI und DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis) LIV; eine Ausnahme bildet die Grabinschrift des 1368 gestorbenen Conrad von Weinsberg, die ihn als nobilis bezeichnet, vgl. Nr. 10.
  12. Wehsarg 50 und 52 – 55; Battenberg, Ortsherrschaft 20 f.
  13. Battenberg, Ortsherrschaft 19.
  14. Battenberg, Ortsherrschaft 21 f., Zitat 24.
  15. Zu dem Brief vgl. Wehsarg 50.
  16. Battenberg, Ortsherrschaft 22 f.
  17. Ebd.; zur Stiftung und den Grabplatten vgl. Nrr. 7477.
  18. Dahl, Urkundenbuch 120, Nr. 61; vgl. Nr. 75.
  19. Vgl. Nrr. 76 f.
  20. Scheins 10 und Wehsarg 50 interpretieren allerdings die etwas unklare Angabe einer Urkunde von 1478 dahingehend, daß Nikolaus von Oberkeim zu dieser Zeit Propst des Klosters Lorsch gewesen sei. In diesem Falle könnte er ein größeres Interesse an der Bestattung seiner Familie im Kloster gehabt haben. Diese Interpretation wird abgelehnt von Battenberg, Ortsherrschaft 40, Anm. 24.

Nachweise

  1. Grimm, Vorzeit 62.
  2. Wolf, Kirche 142.
  3. Scheins, Bauwerke 5.
  4. Zeller, Ausgrabungen 59 mit Abb. 3.
  5. Dammann, Kdm. 149 mit Abb. 138.
  6. Wehsarg, Pfarrkirche Jugenheim 46.
  7. Kunz, Jugenheim 82 mit Abb. 36.

Zitierhinweis:
DI 49, Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau, Nr. 102 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di049mz06k0010203.