Inschriftenkatalog: Stadt Darmstadt und Landkreise Darmstadt-Dieburg sowie Groß-Gerau

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 49: Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau (1999)

Nr. 44 Groß-Umstadt, Evangelische Kirche 1462

Beschreibung

Gedenkinschrift auf einer Tafel aus rotem Sandstein. Die Tafel ist heute außen im Strebepfeiler neben dem Eingang auf der Südseite unter einer leeren Nische eingemauert. Sie wurde möglicherweise erst nachträglich an diesem Platz angebracht. Oben in der Mitte ist ein Stück aus dem Stein ausgebrochen, was jedoch bei der Schriftanbringung berücksichtigt wurde. Die ersten vier Zeilen der Inschrift befinden sich auf dem glatten oberen Teil der Tafel, während die letzte Zeile auf eine Wölbung am unteren Rand der Tafel geschrieben ist. Die Wölbung zeigt nach unten hin eine deutliche Bruchkante, so daß hier möglicherweise ein Stück der Tafel abgebrochen ist. Als Wort- und Verstrenner dienen Quadrangeln mit paragraphzeichenförmig ausgezogenen Zierstrichen.

Maße: H. 43, B. 56,5, Bu. 5,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versal.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/2]

  1. anno d(omi)ni · 1 · 4 · 6 · 2 /Uf simo(n)is vnd iude / tag ·mentz erstiegen / vnd gewonnen wardt /all · her · nach · liebe(n) · frundea)

Versmaß: Deutsche Reimverse.

Datum: 28. Oktober 1462.

Kommentar

Die Minuskel zeigt als Besonderheit in simonis ein Schluß-s ohne Bogenbrechungen. Die Bögen sind flach, und während der obere Abschnitt des oberen Bogens abgeknickt ist, ist die entsprechende Stelle des unteren Bogens gerundet. Das versale U kennzeichnet den Beginn des Reimverses, der an die Eroberung der Stadt Mainz durch Adolf von Nassau und seine Helfer in der Mainzer Stiftsfehde erinnert. Durch die Reimform erhielt die Inschrift die Form eines Merkverses, durch dessen Eingängigkeit die Erinnerung an das Ereignis bewahrt werden sollte. Erzbischof Diether von Isenburg (seit 1459) hatte sich wegen Streitigkeiten mit Papst Pius II. an die Spitze der Opposition gegen den Papst und gegen Kaiser Friedrich III. gestellt. Im Verlauf des Streites wurde Diether 1461 exkommuniziert und abgesetzt. Zu seinem Nachfolger providierte der Papst Adolf II. von Nassau. Daraufhin kam es zu einem Krieg zwischen Diether und Adolf. Diethers Hauptstützpunkt war Mainz, dessen Bevölkerung auf seiner Seite stand. Nachdem Diether noch im Juni 1462 bei Seckenheim zusammen mit Pfalzgraf Friedrich I. einen Sieg über Adolf errungen hatte, gelang es letzterem im Zusammenwirken mit Ludwig von Veldenz am 28. Oktober 1462 beim Gautor die Mainzer Stadtmauern zu überwinden und in die völlig überraschte Stadt einzudringen.1) Nach dem Bericht eines unbekannten Parteigängers Adolfs dauerte der Kampf um die Stadt von fünf Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags.2) Die inschriftliche Fixierung des Ereignisses zeigt, welches Aufsehen es bei den Zeitgenossen erregt hat.3)

Der Sinn der letzten Zeile ist in diesem Zusammenhang unklar. Die Formulierung all her nach kommt etwa ab der Mitte des 15. Jahrhunderts in Grabinschriften vereinzelt vor und läßt sich ab dem 16. Jahrhundert häufiger belegen.4) Der Zusatz lieben frunde ist in diesen Inschriften jedoch nicht vorhanden. In der katholischen Pfarrkirche Hl. Geist in Markgröningen ist der fragliche Text in einer Inschrift aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts nicht mit einer Grabinschrift verbunden, sondern er bezieht sich auf eine Heilig-Grab-Gruppe.5) Ein Zusatz fehlt hier jedoch ebenfalls. Petrus Ortmayr hat die Wendung all her nach auf Grabdenkmälern als Bezeichnung des nach dem Tode Folgenden, als Umschreibung für das Jenseits interpretiert. Im Zusammenhang mit einer Inschrift zum Gedenken an die Eroberung von Mainz hilft diese bei Grabinschriften einleuchtende Erklärung allerdings nicht weiter. Da aber möglicherweise ein Stück der Inschriftentafel abgebrochen ist, könnte damit auch ein Stück Text verloren gegangen sein, der die fragliche Stelle in einen anderen Zusammenhang eingebunden hat.6)

Textkritischer Apparat

  1. siebe(n) stunde Scholz.

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu ausführlich Jürgensmeier, Bistum Mainz 159 – 162; Schaab, Kurpfalz I 179 – 181 und zuletzt Sprenger, Mainzer Stiftsfehde 205 – 225, bes. 223 f.
  2. Schmidt, Mainzer Stiftsfehde 89 – 99, Nr. 2.
  3. Daß man das Jahr 1462 als Einschnitt empfand, zeigen auch die zwischen 1498 und 1505 geschriebenen Mainzer Häuserlisten Hemsbechers sowie eine Bürgermeisterliste aus dem Oppenheimer Stadtbuch vom Anfang des 16. Jh., vgl. dazu Herrmann 7.
  4. Die frühesten mir bekannten Belege sind eine Grabinschrift aus der evangelischen Pfarrkirche St. Stephan in Riet (Stadt Vaihingen) von kurz nach 1456, vgl. DI 25 (Lkr. Ludwigsburg) Nr. 79, sowie eine etwa gleichzeitig entstandene Inschrift aus der Stuttgarter Stiftskirche, vgl. dazu DI 25, Nr. 79, Anm. 4; weitere Belege für das 16. Jh. in DI 2 (Mainz) Nr. 400; DI 12 (Heidelberg) Nrr. 394, 470, 494; DI 20 (Großkreis Karlsruhe) Nrr. 263, 296 sowie bei DI 25, Nr. 165, Anm. 1; vgl. auch Ortmayr, „Allhernach“, passim.
  5. DI 25 (Lkr. Ludwigsburg) Nr. 165.
  6. Keller 87 vermutet, daß sich in der leeren Nische über der Inschrift eine Darstellung befunden haben könnte, zu der die letzte Zeile in Beziehung stand.

Nachweise

  1. Winkelmann, Beschreibung 98.
  2. Wickenburg, Thesaurus I,2 32.
  3. Steiner, Bachgau II 84.
  4. Keller, Gross-Umstadt 86.
  5. Herrmann, Quellen 7, Anm. 2.
  6. Herchenröder, Kdm. 127.
  7. Scholz, Inschriften 75, Nr. 34 mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 49, Darmstadt, Darmstadt-Dieburg, Groß-Gerau, Nr. 44 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di049mz06k0004406.