Inschriftenkatalog: Rheingau-Taunus Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 43: Rheingau-Taunus-Kreis (1997)

Nr. 318 Kiedrich, Kath. Pfarrkirche St. Valentin E.15./A.16.Jh.

Beschreibung

Mahninschriften an den Wänden der Südsakristei. Die Texte beginnen über der nördlichen Sakristeitür (A), verlaufen über die Ostwand links (B) und rechts (C) des Fensters zur Südwand, dort wiederum links (D) des Fensters und rechts davon über dem Lavabo (E), weiterhin unter dem Fenster (F) und enden mit dem zweizeiligen Vers über dem Wandgemälde der thronenden Madonna mit dem Christuskind (folgende Nr.). 1902 wurde die Kirche von Restaurator Johann Wesendonk renoviert. Möglicherweise übertünchte man dabei die Originalinschriften und kopierte die Texte in geringem Abstand zu den ursprünglichen Anbringungsorten. Im Jahr 1964 wurden die alten Inschriften wieder freigelegt und restauriert.1)

Maße: Bu. ca. 7 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Bender_Forschungsstelle Die Deutschen Inschriften bei der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz [1/6]

  1. A

    Nullus i(n) ede sacra qu a(e)q(uam) p(er)agat nisi sacra ·Teste beda rebus c(on)gruit ip(s)e locus2) ·

  2. B

    Pro moduloa) rogita p(ro) voto flecte p(at)ronosb) ·Su(n)t mites ideo pro modulo rogita ·

  3. C

    Sacrame(n)talis ornatus presbiteralis ·En plures constat venerandu(m) te quoq(ue) mo(n)strat ·Parcerec) cui debes ni stolidus v(e)ld) ebes ·

  4. D

    His lectis libris ni claudas t(ur)pitere) ibisNusquamf) defedag) p(er) mediu(m) r(e)sera

  5. E

    Diluat (et)h) tergat se tergat diluat (et)h) se ·Presbiter hic solus solus na(m) p(re)sbiter ip(s)e ·Co(n)ficit atq(ue) gerit que q(ui)s i(n) orbe neq(ui)t ·

  6. F

    Vtina(m) sapere(n)t et intelligerent ac novissi=/ma p(ro)uiderent · De(u)t(eronomium) cap xxxii3) ·

Übersetzung:

Keiner soll in dem heiligen Haus etwas vollbringen, das nicht heilig ist. Beda ist Zeuge: der Ort selbst entspricht den Handlungen (A). Bete, so sehr du es vermagst, für deine Bitte mache die Patrone geneigt. Sie sind mild, deshalb bete, so sehr du es vermagst (B). Das sakramentale, priesterliche Gewand. Ach, es ist teuer, auch zeigt es dich als verehrungswürdig. Du mußt es schonen, wenn du nicht töricht und dumm bist (C). Wenn du diese Bücher nicht verschließt, nachdem du in ihnen gelesen hast, wirst du mit Schimpf davon gehen. Verunstalte sie nirgends und öffne sie in der Mitte (D). Waschen und sich abtrocknen und sich abtrocknen und waschen soll sich hier nur der Priester, denn nur er selbst ist der Priester. Er vollzieht und vollbringt das, was der, der in der Welt lebt, nicht kann (E). Wenn sie doch weise wären und Einsicht besäßen und an das Ende dächten (F).

Versmaß: Distichen (A, B, D), Hexameter und Distichon (C, E).

Kommentar

Die verwendeten Versalien zeichnen sich durch Verdoppelung von Hasten und Balken sowie durch die Verwendung von Zierformen wie Zacken und Dornen aus. Sie entstammen den Buch- und Gebrauchsschriften. Die Minuskel ist im Vierlinienschema ausgeführt. Außer in Inschrift (F) ist das doppelstöckige a immer oben geschlossen und mit einem Balken in der Mitte gebildet.4) Das b zeigt mit einer Ausnahme in (E) immer Hastenspaltung. Auch die Buchstaben d, l, p und q weisen mehrfach Hastenspaltung auf. Beim t kommt sie nur in den Inschriften (B) und (D) vor. Das obere Bogenende des e wird immer an die Haste zurückgeführt, wodurch der Buchstabe eindeutig von c und r zu unterscheiden ist. Letzteres wird als Schaft- und als Bogen-r verwendet. Auffällig sind die ornamentalen Verzierungen einzelner Buchstaben. So ist in (A) die Haste des langen s bei in ede sacra und in (B) die Haste des l bei pro modulo und flecte stark verlängert und von einem Zierband umschlungen. In derselben Inschrift ist die linke Haste des v in voto verlängert und mit Zierelementen versehen. Auch die Inschrift (D) zeigt beim l in libris und beim d in claudas stark verlängerte Hasten, die zusätzlich verdoppelt sind. Die lange Haste des b in ibis ist mit Dornen besetzt und trägt oben einen Zierstrich nach rechts. Die Versenden sind zumeist durch in ein Dreieck gestellte Quadrangel markiert. Ein während der Freilegung der Inschrift (A) entstandenes Foto1) läßt erkennen, daß bei der Restaurierung Buchstaben nachgemalt und teilweise auch verändert worden sind. Inwieweit jedoch Buchstabenformen in den verschiedenen Inschriften betroffen sind, läßt sich im einzelnen nicht mehr entscheiden. Die schlankeren Buchstaben von Inschrift (F) stammen trotz Abweichungen im Duktus und bei Einzelbuchstaben (a, t, v) aus derselben Zeit wie die anderen Inschriften. Außer bei Inschrift (F) handelt es sich um metrische Inschriften in Distichen und Hexametern.

In Inschrift (A) ist der leoninische Hexameter zweisilbig rein gereimt, der Pentameter einsilbig rein. Die Inschriften (C) und (D) sind zweisilbig rein und unrein gereimt, bei Inschrift (E) zeigt nur der Pentameter einen zweisilbig unreinen Reim. Die Inschrift (B) ist reimlos. Ob die Wortwiederholungen diluat – diluat, tergat – tergat usw. als Binnenreime gedacht sind, ist fraglich.

Die Inschriften sind Mahnungen an den Priester, sich der Bedeutung des Ortes, der Handlungen und Geräte sowie seines eigenen Amtes stets bewußt zu sein. Direkte Textvorlagen konnten für die versifizierten Inschriften nicht nachgewiesen werden, doch läßt sich an einigen Stellen die Verarbeitung bekannter und weitverbreiteter Autoren nachweisen oder vermuten. In (A) wird Beda Venerabilis als Zeuge für die Übereinstimmung von Ort und Handlung aufgerufen. Bezug genommen wird offenbar auf eine Stelle seines Kommentars zum Markusevangelium. Möglicherweise ist auch die Aussage des ersten Verses, in der Kirche nur heilige Handlungen vorzunehmen, diesem Kommentar entnommen.5) Inschrift (B) verlangt von den Priestern, intensiv und andächtig zu beten, um die Kirchenpatrone gnädig zu stimmen, ihre Gebetswünsche zu erfüllen. Sie gibt damit einer allgemeinen Forderung Ausdruck, die auch in anderen Mahninschriften wiederholt wird. Eine um 1500 entstandene Inschrift in der Sakristei der Schorndorfer Kirche6) verlangt eine andächtige Verrichtung der Gebete ebenso wie eine Inschrift von 1518 aus der Stadtkirche in Geislingen an der Steige.7) Die Aussage von Inschrift (C), das Gewand zeige den Priester als verehrungswürdig, ist möglicherweise durch das dritte Buch des „Rationale divinorum officiorum“ des Wilhelm Durandus beeinflußt, das von der priesterlichen Bekleidung handelt. Darin weist der Autor gleich zu Anfang auf die Bedeutung des priesterlichen Gewandes hin. Es hebt den Priester in seinem Amt aus der Menge heraus und zeigt ihn als Vorbild eines reinen Lebens.8) Für den sorgfältigen Umgang mit den liturgischen Büchern, wie er in (D) verlangt wird, gibt es im „Rationale“ des Durandus zwar keine Anweisungen, doch könnte Inschrift (E), die das besondere Amt des Presbyters betont, von jenem inspiriert sein. Im zweiten Buch des „Rationale“ wird die Bedeutung der unterschiedlichen Weihegrade ausführlich behandelt.9) Wie weit Durandus‘ Einfluß hier tatsächlich reicht, läßt sich nicht genau feststellen. Es ist jedoch grundsätzlich anzunehmen, daß der Autor der Verse das „Rationale“ kannte. Dieses Werk lag zwischen 1460 und 1500 nicht nur in zahlreichen Handschriften, sondern auch in 43 verschiedenen Drucken vor10) und war zudem nachweislich in der Bibliothek des Peter Battenberg (Nr. 392) vorhanden,11) der von 1475 bis 1519 bzw. 1522 Altarist an der Kiedricher Michaelskapelle war. Das Bibelzitat der Inschrift (F), das sich in seinem eigentlichen Kontext auf die Israeliten bezieht, ist im Zusammenhang mit den übrigen Inschriften ebenfalls als Mahnung an die Priester zu verstehen.

Der terminus post quem für die Entstehung der Wandmalereiinschriften ist das Jahr 1481, in dem der Chor und wohl auch die Sakristei vollendet wurden.12) Der paläographische Befund läßt allerdings noch eine Einordnung der Inschriften in die ersten zwanzig Jahre des 16. Jahrhunderts zu. Die Verwendung gereimter Verse bietet ebenfalls einen Anhaltspunkt für die Datierung. Aus dem Bearbeitungsgebiet sind von 1500-1650 bei insgesamt 14 Inschriften in Hexametern oder Distichen nur zwei Inschriften von 1604 (Nr. 508) und 1613 (Nr. 565) mit gereimten Hexametern überliefert, und aus Mainz, zu dessen unmittelbarem Einflußbereich Kiedrich gehörte, ist trotz der Überlieferung zahlreicher versifizierter Inschriften bis 1650 nach 1507 keine gereimte Inschrift bekannt.13) In der für die Entstehung der Inschriften in Frage kommenden Zeit waren die Mainzer Erzbischöfe Berthold von Henneberg (†1504), Jakob von Liebenstein (†1508) und Uriel von Gemmingen (†1514) um die Hebung der Disziplin des Klerus bemüht.14) Die Inschriften sind allerdings wohl eher ein Reflex der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Verhalten der Geistlichkeit als der konkreten Bemühung der genannten Erzbischöfe.15) Dafür sprechen auch die schon erwähnten Mahninschriften aus Schorndorf (um 1500)6) und Geislingen (1518),7) die in demselben Zeitraum wie die Kiedricher Inschriften, aber in einer ganz anderen Region entstanden.

Wer die Kiedricher Verse verfaßt hat, ist unbekannt, doch liegt es nahe, den Autor unter den Priestern der Pfarrkirche zu suchen.16) In der fraglichen Zeit sind drei Pfarrer namentlich bekannt. Philippus Bipes aus Dieburg ist von 1490 bis 1503 nachweisbar;17) sein Nachfolger wurde 1503 Graf Wilhelm von Honstein,18) später Bischof von Straßburg und Administrator des Mainzer Erzbischofs Albrecht von Brandenburg. Für 1516 ist noch Werner Lesch belegt.19) Zumindest Bipes, dessen latinisierte Namensform auf humanistisches Gedankengut schließen läßt, als auch Wilhelm von Honstein, dessen Amtsführung als Mainzer Domkustos von Zeitgenossen im Jahre 1500 gelobt wurde,20) dürften die Voraussetzungen mitgebracht haben, die fraglichen Verse zu verfassen.

Textkritischer Apparat

  1. Die rechte Haste des u ist oben nach rechts gebrochen.
  2. Fehlt bei Zaun; p(at)ronos Vorschlag Staab.
  3. pares Zaun.
  4. aut Zaun; ut Staab.
  5. opiter Zaun; Staab; der Balken des ersten t steht schräg über der Haste. Darüber befindet sich ein Kürzungszeichen. Die Auflösung zu turpiter ist sowohl sinngemäß als auch metrisch passend. Die Form des t geht wahrscheinlich auf einen Restaurierungsfehler zurück.
  6. Nunquam Zaun; Staab.
  7. defoeda Staab.
  8. Tachygraphisches Zeichen.

Anmerkungen

  1. Frdl. Hinweis von Dr.h.c. Josef Staab nach Pfarrchronik Kiedrich und Herrn Walter Bibo, Kiedrich, der ein während der Freilegung von Inschrift (A) aufgenommenes Foto zur Verfügung stellte.
  2. Frdl. Hinweis Dr. Sebastian Scholz auf Beda Venerabilis, In Marci evangelium expositio 3,9. Hrsg. v. D. Hurst. Turnhout 1960 (CCL 120.) 547: „Notandum autem quod semper loca rebus congruunt.“ Dieser Gedanke kommt in Bedas Werken mehrfach vor, doch enthält der Markuskommentar den engsten Textbezug und außerdem einen Beleg für die vorangehende Aussage, vgl. bei Anm. 5.
  3. Dtn. 32,29.
  4. Vergleichbare Formen sind bekannt bei der Grabplatte des Peter Battenberg (Nr. 392) und in Worms (1483), vgl. DI 29 Nr. 293f., sowie in Hirschhorn, vgl. DI 38 (Lkr. Bergstraße) Nr. 83.
  5. Vgl. Anm. 2 und Beda Venerabilis, In Marci evangelium expositio 3,11 579: „Si enim ea quae alibi libere geri poterant dominus in domo sua temporalia negotia geri non patitur, quanto magis ea quae nusquam fieri licet plus caelestis irae merentur si in aedibus Deo sacratis aguntur.“
  6. DI 37 (Rems-Murr-Kreis) Nr. 83.
  7. DI 41 (Lkr. Göppingen) Nr. 208; in diesen Zusammenhang gehört auch eine um 1500 entstandene Inschrift am Chorgestühl der evangelischen Kirche von Groß-Umstadt, die die Priester zum andächtigen Singen der Messe auffordert, vgl. Beleg bei Nr. 315 Anm. 4.
  8. Hinweise Dr. Scholz auf Durandus, Rationale III 189, auch Anm. 9 und 10.
  9. Durandus, Rationale II, passim, zum Presbyter 176-181.
  10. Durandus, Rationale IV [23].
  11. Staab, Bibliotheken 87 und 90.
  12. Staab, Baugeschichte 23.
  13. Vgl. Nr. 103 bei Anm. 5.
  14. Vgl. Jürgensmeier 167; Anton Ph. Brück, Jakob von Liebenstein. In: NDB 10 (1974) 315; Horst Faulde, Uriel von Gemmingen, Erzbischof von Mainz 1508-1514, Beiträge zu seiner Geschichte. Phil. Diss. (masch.) Erlangen 1955, 29-35.
  15. Zur Kritik am Klerus um 1500 vgl. Möller, Frömmigkeit 25-29; zum Verhalten der Geistlichen vgl. Faulde (wie Anm. 14) 30-34.
  16. Freilich ist eine Beteiligung des belesenen Kiedricher Altaristen Peter Battenberg nicht ganz von der Hand zu weisen; immerhin verfügte er über eine umfangreiche eigene Bibliothek mit mehr als 80 Titeln, davon allein 49 Bücher liturgischen Inhalts, vgl. Staab, Bibliotheken 97; die Werke von Durandus und Beda befanden sich zudem in der Eberbacher Klosterbibliothek, vgl. Bibliothekskatalog von 1502, Ocul. mem. II HHStAW 22/436 fol. 95r ff.
  17. Staab, Kiedricher Pfarrer 129.
  18. StAWü B 425, 904, Anm. 2. Ingrossatur Buch 47, 177, frdl. Hinweis Dr. h.c. Josef Staab.
  19. Staab, Kiedricher Pfarrer 129.
  20. Vgl. Richard Wolff, Bischof Wilhelm III. von Strassburg, Grafen von Honstein 1506-1541. Berlin 1909 (Hist. Stud. 74.) 21f.; ob Wilhelm von Honstein jemals in Kiedrich war, ist allerdings fraglich.

Nachweise

  1. Zaun, Beschreibung 9f.
  2. Zaun, Kiedrich 90f.
  3. Staab, Poetische Inschriften 32f.

Zitierhinweis:
DI 43, Rheingau-Taunus-Kreis, Nr. 318 (Yvonne Monsees), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di043mz05k0031800.