Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)

Nr. 153 Oberwesel, Kath. Pfarrkirche Unserer Lieben Frau 1506

Beschreibung

Dreiflügeliges Altarretabel mit Darstellungen aus Heiligenlegenden, vor allem aus der Nikolaus-Legende. Seit 18181) am heutigen Standort als Retabel des Altars im nördlichen Nebenchor nachgewiesen. Ölmalerei auf Holz mit rotumrandeter Innenseite. Auf dem unteren Rand der Mitteltafel in Gold ausgeführte Jahreszahl (A). In der Bildmitte steht in alles überragender Größe der hl. Nikolaus in bischöflichem Ornat. Das Kreuz seiner Kasel zeigt eine Kreuzigung mit schwarz auf Weiß gemaltem Titulus (B). Zu beiden Seiten sind legendenhafte Szenen aus seinem Leben dargestellt, zu seiner Rechten die Rettung dreier unschuldig zum Tode Verurteilten, zu seiner Linken die Bewahrung dreier verarmter adeliger Jungfrauen vor drohender Prostitution. Das Kleid des mittleren Mädchens ist in Brusthöhe mit einer Borte aus Zierbuchstaben (C) geschmückt. Im Stirnband des Mädchens wiederholt sich mehrfach der Buchstabe m. Im Vordergrund ist ein großes, mast- und segelloses Schiff zu sehen, in dem sich dicht gedrängt über 40 Personen aller Stände befinden. Vorne in der Mitte ist der mit seinem Wappen bezeichnete Stifter in Kanonikertracht mit betend gefalteten Händen dargestellt, umgeben von einem König und einer Königin, deren Kleid ebenfalls mit einer Borte aus Zierbuchstaben (D) besetzt ist, weiteren Fürsten, dem Papst und hoher Geistlichkeit. Zwischen Schiff und Nikolaus schwebt ein vom Stifter ausgehendes verschlungenes Schriftband mit einer vermutlich fürbittenden Inschrift (E), von der allerdings nur noch wenige Buchstaben zu erkennen sind. Auf den Flügeln des Retabels sind Heilige dargestellt: links das Martyrium der Katharina von Alexandria2), darüber ein bärtiger Prophet mit kommentierendem Spruchband (F); rechts das Martyrium des Sebastian zusammen mit dem im Nimbus (G) bezeichneten Jodokus, an seinem Hut das Pilgerzeichen der Wilsnacker Heilig-Blut-Wallfahrt3), darüber ebenfalls ein bärtiger Prophet mit kommentierendem Spruchband (H). Das (im heutigen Zustand) nur vorderseitig bemalte Retabel ruht auf einer inschriftlosen Predella mit Christus als Salvator Mundi zwischen den 12 Aposteln4). Die Tafeln des Altarretabels wurden zunächst in den Jahren 1895-98 durch Wilhelm Batzem restauriert, dann 1973 durch Peter Pracher5).

Maße: H. 206 (ohne Predella), B. 410, Bu. 3,5 (A), 0,3 (C, D), 2 cm (E, G).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien (E, F, G, H), Frühhumanistische Kapitalis (C, D), Kapitalis (B), gemalt.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/9]

  1. A

    1 5 0 6

  2. B

    I(ESVS) N(AZARENVS) R(EX) I(VDEORVM)6)

  3. C

    L · D · K · I · G · A · W · M · R

  4. D

    G · H · N · R · I · L · D · K

  5. E

    [- - -] et [- - -]

  6. F

    p(ro) penaa) recimub) / gaudiu(m)

  7. G

    · S(anctus) · Iodoc(us)

  8. H

    Mercedem / laborum / recipietisc)

Übersetzung:

Anstelle der Strafen erlangen wir die (ewige) Freude (F). - Ihr werdet den Lohn für (eure) Leiden erhalten (H).

Wappen:
Lutern

Kommentar

Die sorgfältig ausgeführte Minuskel zeigt in einigen Details die Hand des Restaurators: Man wird ihm in (F) die Verzierung am a, die Verstümmelung bei recimu und den nach links verlängerten Balken des flachgedeckten g zuschreiben müssen. Trotzdem könnte flachgedecktes g als Typ, je ein gerundetes Anfangs- und Schluß-s sowie dem vokalischen u überschriebene Häkchen zum originalen Bestand gehört haben. Die wenigen zugehörigen Versalien weisen frakturähnliche Elemente auf. Die in winzigen Buchstaben ausgeführte Kapitalis zeigt mit spitzem A, unzialem D und R mit kleinem Bogen und gestreckter Cauda deutliche frühhumanistische Elemente. Als deren Worttrenner dienen kleine Punkte. Ob die Wiederholung der Buchstabenfolge LDK in den als Zier zu verstehenden Buchstabeninschriften mehr als ein Zufall ist, muß offen bleiben.

Das 1506 entstandene, außergewöhnliche Retabel dürfte als Aufsatz des Nikolausaltars gedient haben, der bereits seit 14217) - allerdings ohne genauen Standort - in der Liebfrauenkirche nachzuweisen ist. So beeindruckend die möglicherweise auf Oberweseler Gegebenheiten Bezug nehmenden8) szenischen Darstellungen aus Bibel und Heiligenlegenden auch wirken mögen, so gehören sie ikonographisch doch eher zum gewohnten Repertoire spätmittelalterlicher Tafelmalerei. Anders dagegen das Motiv des Stände-Schiffs, das den geistlichen Stifter des Retabels inmitten der höchsten Repräsentanten der mittelalterlichen Gesellschaft zeigt. Der unbekannte Künstler verband hier geschickt das dem Patron des Altares zugeschriebene Schiffswunder mit der Darstellung der sich in seinen Schutz begebenden Vertreter aller Stände, zu denen auch der Stifter des Retabels zählt. Zudem weist die nautische Symbolik9) der Darstellung auf ihre eigentliche Bedeutung als Sinnbild der Glaubensgemeinschaft hin: Das Schiff ist als Schiff der Kirche aufzufassen, als zweite Arche, gefüllt mit den unterschiedlichen Gliedern der auf Erlösung hoffenden Christenheit. Im Gegensatz zu allen anderen bekannten, meist im Holzschnitt verbreiteten Darstellungen des späten 15. Jahrhunderts10), die das Schiff der Kirche mit dem Kruzifix als Mastbaum, weiteren christologischen Symbolen und mit Petrus als Steuermann (Schifflein Petri) zeigen, reduziert das dichtbevölkerte Oberweseler Schiff seine diesbezügliche Symbolik auf drei mitgeführte kreuzgeschmückte Wimpel.

Ausweislich des beigegebenen Wappens handelt es sich bei dem als ergrauten Kanoniker dargestellten Stifter wiederum um Petrus Lutern11), gut bekannt durch zahlreiche andere Stiftungen dieser Art. Daß er sich hier gleichrangig mit den Mächtigsten seiner Zeit darstellen läßt, mag als Hinweis auf die beginnende bürgerliche Emanzipation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zu werten sein. Die ausführende, nicht näher bekannte Werkstatt ist im Bereich des Mittelrheins anzusiedeln - ein direkter Zusammenhang mit dem 1503 entstandenen, ebenfalls von ihm gestifteten Martha-Altar läßt sich jedoch nicht herstellen12).

Textkritischer Apparat

  1. Am rechten Rand des a wohl später hinzugefügte Zierschleife.
  2. So für recipimus.
  3. s spiegelverkehrt.

Anmerkungen

  1. So Storck, Darstellungen 61.
  2. Das zur Szene gehörende Pferd des Kaisers Maxentius, der Katharina verurteilt hatte, trägt am Zaumzeug einen mit einer Buchstabenkombination verzierten Knopf, die man als EW bzw. WE (W über liegendem zweibogigem E) deuten könnte.
  3. Drei dreiecksförmig angeordnete, mit einem Kreuz auf rotem (?) Kreis bezeichnete Scheiben; vgl. zur Wallfahrt ausführlich Kühne, Heilig-Blut-Legende pass.
  4. Der vermutlich zeitgleich mit dem Retabel entstandene Untersatz gehört zu einer erst ansatzweise erforschten (vgl. dazu Wilhelmy, Apostelpredella pass.), um 1500 entstandenen Reihe mittelrheinischer Predellen mit dem für das Genre typischen Motiv der Zwölf Apostel.
  5. Vgl. dazu Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz 23-28 (1968-73) 126 und Kdm. 240.
  6. Joh 19,19.
  7. Vgl. Pauly, Stifte 252.
  8. Vgl. dazu Kdm. 242.
  9. Vgl. zum Folgenden Weber, Schiff pass.
  10. Vgl. zum Folgenden Vetter, schifflin 13ff. mit Abb. 5-9.
  11. Vgl. zu ihm Nr. 159 von 1515.
  12. Vgl. dazu zusammenfassend Kdm. 242.

Nachweise

  1. Campignier, Rundgang, Abb. S. 48 (Mittelteil).
  2. Kdm. Rhein-Hunsrück 2.2, 241f. mit Farbtafel 15.
  3. Schwarz, Kirche, Abb. S. 22.

Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 153 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0015302.