Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)
Nr. 53 Oberwesel, Kath. Pfarrkirche St. Martin 1380/90
Beschreibung
Gemalte Kreuzigung auf einem Altarretabel aus Eichenholz, kurz vor 1925 "zerschnitten in der alten Orgel"1) bzw. 1965 "unter dem Spieltisch der Orgel"2) von St. Martin aufgefunden, heute in der dortigen Kunstkammer. Erhalten haben sich sechs unterschiedlich große Einzelbretter3) mit Temperamalerei auf mit Blüten- und Rankenmuster verziertem Goldgrund4), von denen heute die drei längsten willkürlich zusammengefügt sind. Das breiteste Brett (H. 139, Br. 56 cm) zeigt den unteren rechten Teil einer vielfigurigen Kreuzigung mit einer Gruppe von Juden und Soldaten, deren gerüsteter Hauptmann mit der Rechten auf ein über ihm schwebendes Spruchband mit der schwarz auf Weiß gemalten Inschrift (A) weist. Dahinter erhebt sich das Kreuz mit dem reuelosen Verbrecher. Zur Rechten Christi ist noch die halbe Figur der durch die Namensinschrift (B) identifizierbaren Maria Magdalena zu sehen, die eine andere Person - wohl Maria - stützt. Drei weitere beschriftete Fragmente weisen Reste von Aposteldarstellungen auf: Das heute links an die Kreuzigung anschließende Brett (H. 135, Br. 20 cm) zeigt oben Petrus neben einer zweiten Figur, unten den durch Attribut (Kelch mit Giftschlange) und Namensbeischrift (C) kenntlichen Apostel Johannes mit einem weiteren unbekannten Apostel (D). Das folgende Brett (H. 135, Br. 10,5 cm) zeigt oben eine unbekannte Apostelfigur mit fragmentarischer Namensbeischrift (E), darunter den Apostel Jakobus (F). Das letzte beschriftete Brett (H. 85, Br. 10 cm) weist nur noch kleine Reste der Namensbeischrift (G) auf. Die durch einen punktierten Hintergrund hervorgehobenen Namensbeischriften befinden sich in den Nimben. Die verhältnismäßig gut erhaltenen Fragmente wurden zwischen 1992 und 1994 gründlich restauriert5).
Maße: Bu. 1 (A), 1,5 cm (B-G).
Schriftart(en): Gotische Minuskel, gemalt (A) bzw. punktiert-negativ (B-G).
- A
· vere filivs dei erat iste · 6)
- B
[m]agadalenaa) ·
- C
· sanctvsa) · iohann[es]
- D
[- - -] apostolvs ·
- E
s(anctvs) · [- - -]
- F
[sanct]vs · iacobv[s]
- G
[- - -]s · ap(osto)l(v)s
Textkritischer Apparat
- Sic!
Anmerkungen
- So Müllenbach, Oberwesel 59.
- So Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz (1965-67) 91.
- Vermutlich gehörte ein 1639 zweitverwendetes Stück Eichenholz ebenfalls zu diesem Retabel; vgl. dazu Nr. 370.
- Die Holztafeln wurden zuerst grundiert, dann mit Leinwand abgedeckt und dann ein zweites Mal grundiert; vgl. dazu ausführlich Kruse, Untersuchungen pass.
- Vgl. dazu Kdm. 521.
- Mt 27,54.
- Wie Jülich 271 überzeugend nachgewiesen hat, lassen die vorhandenen Fragmente bei einer Mindesthöhe von 154,5 cm sowohl die Rekonstruktion eines feststehenden Retabels (Gesamtbreite 246,5 cm) als auch eines dreiteiligen Retabels mit schwenkbaren Seitenflügeln (Gesamtbreite mindestens 286 cm) zu.
- Vgl. dazu Binder-Hagelstange, Kalvarienberg pass. und Lucchesi Palli, Kreuzigung Christi 627.
- Vgl. Alte Kunst Nr. 271.
- So auch unter zusammenfassender Berücksichtigung der neueren kunsthistorischen Forschung Kdm. mit der Datierung um 1420/30.
- Vgl. dazu ausführlich Jülich 273ff.
- Vgl. dazu Gast, Friedberger Altar 94.
- Vgl. dazu Kdm. 440f.
Nachweise
- Kdm. Rhein-Hunsrück 2.2, 521f. mit Abb. 346.
- Jülich, Kreuzigungstafel 269f. mit Abb. 1-3 und 6.
Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 53 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0005306.
Kommentar
Daß es sich bei dem Urheber beider in unterschiedlichen Techniken hergestellten Schriften um die gleiche Hand gehandelt haben dürfte, zeigen die übereinstimmende Gestaltung der zusammengedrängten Buchstaben s und t sowie die für die gotische Minuskel untypische runde Ausführung des unteren Bogens des runden s mit nach innen gezogenem Ende. Als Worttrenner dienen große Quadrangeln.
Das in der Anordnung der Fragmente nicht mehr eindeutig zu rekonstruierende Retabel7) ist mit einer im Verlauf des 14. Jahrhunderts in der Wand- und Tafelmalerei entwickelten, sogenannten 'volkreichen' Kreuzigungsdarstellung8) versehen, die hier zusätzlich durch zwei seitlich übereinander angeordnete Apostelreihen erweitert wurde. Die erstmals 1927 aufgrund ihrer besonders qualitätvollen Ausführung auf der ersten großen Ausstellung zur mittelrheinischen Kunst gezeigten Fragmente9) wurden dort und in der Folgezeit mit verschiedenen Retabeln mittelrheinischer Herkunft in Verbindung gebracht und stets in den Zeitraum 1410 bis 1430 datiert10). Die hier vertretene davon abweichende Datierung in die Jahre 1380 bis 1390 orientiert sich an den überzeugenden Ergebnissen der jüngsten kunsthistorischen Untersuchung11), die die Oberweseler Fragmente aufgrund Beobachtungen in materieller, maltechnischer und stilistischer Hinsicht erstmals als "gewichtiges Bindeglied" zwischen Vorbildern wie dem um 1365/70 datierten Großen Friedberger Altar12) und einer Gruppe mittelrheinischer Malerei um 1400/10 einordnen konnte.
Das auf seine Weise einzigartige Retabel dürfte damit zur Erstausstattung des - nach den neuesten bauhistorischen Erkenntnissen13) - erst Mitte des 14. Jahrhunderts begonnenen und bis 1390/91 fertiggestellten Chors der Martinskirche gehören.