Inschriftenkatalog: Rhein-Hunsrück Kreis
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 60: Rhein-Hunsrück-Kreis I (2004)
Nr. 218† Oberwesel, Wernerkapelle vor 1572, vor 1578
Beschreibung
Gedächtnis- bzw. Reliquiarinschrift für (den hl.) Werner von Oberwesel. Eine kurz vor 1572 überlieferte, "germanice scriptum"1) ausgeführte Inschrift (A) befand sich im Bereich einer über dem Altar der Wernerkapelle angebrachten Holzsäule, an der der jugendliche Werner sein Martyrium erlitten haben soll. Eine vermutlich zweite, im Jahr 15782) überlieferte Inschrift (B) war - zusammen mit der Figur des Märtyrerknaben - auf einer rechts neben dem Altar zur Schau gestellten Lade aufgemalt, in der nun zum Schutz eben jene hölzerne Säule aufbewahrt wurde. An diesem Standort war die Holzsäule Mitte des 18. Jahrhunderts3) mit der in "teutschen Buchstaben" ausgeführten Inschrift (A) noch zu sehen. Mitte des 19. Jahrhunderts war von der inzwischen hinter Glas verwahrten Säule "nur noch ein Stückchen" übriggeblieben, die Inschrift wird dabei nicht mehr erwähnt. Die beschriftete Lade mit der darin befindlichen Holzsäule ist heute verschollen, möglicherweise befinden sich aber ihre Reste in dem Anfang des 19. Jahrhunderts angefertigten, heute in St. Martin aufbewahrten Säulenreliquiar4).
Nach Braun/Hogenberg (A) und Kandels (B).
Schriftart(en): Vermutlich Kapitalis und Fraktur.
- A
M. CC. LXXXVII. Hatt Wernerus von Wammeraidt den todt gelitten XIII. Kalendas Maij
- B
Anno Domini 1287 hat Wernerus Wammeraidt den Dodt gelitten den 13. Calen- das Maij hierin ist die Säul St. Werners
Datum: 19. April 1287.
Anmerkungen
- So Braun/Hogenberg.
- Vgl. zum Folgenden Kandels 398.
- Vgl. zum Folgenden Rhein. Antiquarius.
- Vgl. Kdm. 568 und 694.
- Am 10. Januar 1578 teilt der Oberweseler Dekan Nikolaus Sibelius dem Trierer Erzbischof auf dessen Anfrage hin mit, daß die Wernersäule im Hospital der Stadt zwar immer noch zu sehen, aber als Schutz vor zudringlichen Kirchenbesuchern in eine Lade eingefaßt sei; vgl. dazu Kandels 398.
- Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich Pauly, Vita pass.; Mentgen pass.; Kdm. 671ff. sowie die bei Christ, Werner 18ff. edierte mittelhochdeutsche Verslegende, die als Inschrift auf einer öffentlich sichtbaren Tafel an der Wernerkapelle zu Bacharach angebracht war.
- Da jedoch der Ostersonntag 1287 auf den 6. und nicht auf den 19. April fällt, ergibt sich ein chronologisches Problem, das sich vielleicht durch eine spätere Verwechslung erklären läßt; vgl. dazu Mentgen 163 und 169f.
- Vgl. dazu und zum Folgenden Wetzeisen, Wiederbelebung 31ff.
- Nach AASS April II (NF 11, 1866), 730 waren Partikel der Säule beliebte Pilgerandenken, die zu Tausenden ("multa millia") nach Hause mitgenomen wurden.
- Noch im Jahr 1727 wurde außen am Chor der Oberweseler Wernerkapelle ein mit Inschriften versehenes Relief mit der Darstellung des Martyriums angebracht. 1969 wurde es abgenommen und ins Innere der Michaelskapelle verbracht; vgl. dazu Kdm. 391f. mit Abb. 253.
- Vgl. dazu Iserloh, Werner pass.
- Vgl. dazu Ziwes, Studien 230ff., Mentgen 174ff. und zusammenfassend Wolf, Ritualmordaffäre pass.
Nachweise
- Braun/Hogenberg, Urbium 4, 24 (A).
- Schreiben des Oberweseler Dekans Nikolaus Sibelius vom 10. Januar 1578 (zit. nach Kandels 398).
- Bertius, Commentariorum 290 (A).
- Merian, Topographia Hassiae 171 (A).
- Dielhelm, Rhein. Antiquarius 685 (A).
- Rhein. Antiquarius II 7, 799 (A).
- Vuy, Geschichte 156 (A).
- Kandels, Werner 398 (B).
- Mentgen, Ritualmordaffäre 184 Anm. 125 (B).
- Kdm. Rhein-Hunsrück 2.2, 675f. (B).
Zitierhinweis:
DI 60, Rhein-Hunsrück-Kreis I, Nr. 218† (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di060mz08k0021800.
Kommentar
Aufgrund der die Inschrift und den Standort uneinheitlich wiedergebenden Überlieferung läßt sich nicht sicher entscheiden, ob die Inschrift ein- oder zweimal aufgeführt war. Während Braun/Hogenberg den Aufbewahrungsort der mit der Inschrift (A) versehenen Holzsäule - ohne ein sie schützendes Behältnis zu erwähnen - vor dem Jahr 1572 eindeutig mit "super summum altare" angeben, dürfte sie bereits 1578 an einen neuen Platz rechts neben dem Altar verlegt worden sein5). Möglicherweise erhielt die Säule erst zu diesem Zeitpunkt die sie schützende Lade, auf die dann die Figur des Märtyrers zusammen mit der nun leicht veränderten und erweiterten Inschrift (B) gemalt wurde. Nicht auszuschließen ist aber auch die Existenz nur einer Inschrift, die von den aufgeführten Gewährsleuten hinsichtlich Standort und Textgestalt unterschiedlich überliefert wurde.
Den um 1300 verfaßten Gesta Treverorum6) und seiner ausführlichen, im 14. Jahrhundert entstandenen Vita zufolge war der aus dem kleinen Hunsrückdorf Womrath stammende Knabe Werner in Oberwesel im Jahr 1287 von Juden grausam umgebracht worden: Im Keller eines jüdischen Hauses soll er kopfüber an einer Säule festgebunden, gemartert und drei Tage lang (von Karfreitag bis Ostersonntag7) hängen gelassen worden sein. Die geschändete Leiche wurde in der folgenden Nacht in der Nähe von Bacharach in einen Bach geworfen, unter wundersamen Erscheinungen aufgefunden, nach Bacharach gebracht und in der Kunibertkapelle, der späteren Wernerkapelle bestattet.
Ganz im Gegensatz zu Bacharach entwickelte sich in Oberwesel keine ausgeprägte Wallfahrt zu dem rasch als "jungfräulichen" Märtyrer verehrten Knaben, obwohl kurz vor 1300 über der Stelle der vermeintlichen Greueltat ein Heilig-Geist-Hospital mit zweigeschossiger Kapelle errichtet wurde8). In ihrem Obergeschoß wurde Kirchenbesuchern und Pilgern die erstmals 1426 erwähnte hölzerne Martersäule gezeigt, im Untergeschoß die Stelle der Marter. Möglicherweise sind die Anbringung der überlieferten Inschrift(en), ihre Abfassung in der Volkssprache sowie der zusätzliche Schutz der Martersäule9) auf eine erhebliche Zunahme der Besucher und Wallfahrer ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zurückzuführen - wohl eine Reaktion auf die 1558 erfolgte Einführung der Reformation in Bacharach. Dennoch scheint sich in Oberwesel der Werner-Kult erst im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts fest etabliert zu haben10). Der weithin verehrte Volksheilige wurde trotz mehrfacher Kanonisierungsversuche offiziell nie heiliggesprochen, und sein erst 1761 in den Heiligenkalender des Bistums Trier aufgenommener Festtag wurde 1963 wieder gestrichen11).
Die neuere Forschung12) sieht in den Vorgängen um den vermeintlichen Märtyrer eine im Zusammenhang mit den mittelrheinischen Judenverfolgungen der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene antijüdische Ritualmordlegende, die sich rasch verbreitete und am Mittelrhein, an der Mosel und im niederrheinischen Raum zahlreiche weitere Judenpogrome auslöste.