Inschriftenkatalog: Stadt Pforzheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 57: Stadt Pforzheim (2003)

Nr. 112 Ev. Schloßkirche (Stiftskirche St. Michael) 1522

Beschreibung

Stiftungsinschrift des Dr. Johann Widmann genannt Möchinger. Im Langhaus, im nördlichen Seitenschiff am ersten Freipfeiler von Osten. Tafel aus grauem Sandstein, konvex gebogen und so der Rundung der Pfeiler-Vorlage angepaßt, mit einer dreizehnzeiligen Inschrift. Diese will ein illusionistisch gestaltetes Pergamentblatt vortäuschen, das unter einer Art von zinnenbewehrtem Kranzgesims oben mit Nägeln befestigt ist. Seitlich stehen auf kurzen Baluster-Säulchen zwei Putten, die lebhaft bewegt mit den Fingern auf die Inschrift hinweisen; unten zwei Wappen, gehalten von einem in der Mittelachse kauernden Putto und von zwei Engeln, deren Unterkörper von der Inschrift verdeckt sind. Beschädigungen am Kopf des rechten Putto, sonst hervorragend erhalten.

Maße: H. 107, B. 61, Bu. 3,1 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

© Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/2]

  1. An(n)o d(omi)ni . 1522 . hat der / wird//ig hochgelert her Jo=/han Widman ge=/nant Möchinger der / Artznei doctor Ain am/pt von dem Hochwi(r)dig/en Sacrament des fron=/lichnams vnsers hern / Jhesu cristi allen Don/erstag Jn ewigkeit zu / Singen gestifft uff / dem alltar der heil=/ligen dreÿ kunig .

Wappen:
Widmann gen. Möchinger1, Bälz2.

Kommentar

Der Stifter dieser Messe ist einer der bekanntesten Mediziner des späten Mittelalters gewesen, der von Kaiser Maximilian I. in Freiburg i. Br., von Markgraf Christoph I. von Baden sowie von dem Grafen und späteren Herzog Eberhard im Bart und von Herzog Ulrich von Württemberg in Dienst genommen wurde. Er ist 1440 in Maichingen (Stadt Sindelfingen) geboren; sein Beiname Möchinger bezieht sich auf diesen Geburtsort. Latinisiert lautete sein Name „Salicetus“ (lat. salix = Weide). Nach dem Studium 1459–1463 in Heidelberg studierte er in Pavia und Padua und wurde 1469 in Ferrara zum doctor artium et medicinae promoviert3. Hier können nur die wichtigsten Stationen seines Lebens genannt werden. Neben der Tätigkeit als Leibarzt am badischen und württembergischen Hof war er Professor an der Universität Tübingen (1484–1498). Nach der Vertreibung Herzog Ulrichs durch die österreichische Herrschaft wählte Widmann 1520 Pforzheim zu seinem Wohnsitz. Hier starb er am 31. Dezember 1524 und wurde in der Pforzheimer Stiftskirche bestattet. Für deren Dreikönigsaltar hatte er – wie die vorliegende Inschrift aussagt – 1522 eine Meßstiftung errichtet4. Die Stiftung war in einer Höhe von 190 Gulden dotiert. Auf der vorliegenden Tafel werden diese Summe und das genaue Datum der Stiftung zwar nicht genannt, jedoch ist die Stiftungsurkunde erhalten5.

Widmanns erste Frau soll eine Ingelhan aus Baden-Baden gewesen sein. Die zweite Frau Mechtild Bälz († 1526) entstammte der Münsinger Ehrbarkeit; ihre Grabplatte ist noch vorhanden6. Johanns Söhne bekleideten wichtige politische Ämter im Dienste Habsburgs. Sie stiegen 1516 durch Erwerb der Herrschaft Mühringen (Stadt Horb, Lkr. Freudenstadt) zum Ritteradel auf und nahmen den Namen Widmann von Mühringen an. Dr. iur. utr. Beatus Widmann († 1531) war 1522 Rat und Regent und wurde Kanzler in Tirol7. Dr. Ambrosius Widmann († 1561), von 1509 bis zu seiner Absetzung 1537 Stiftspropst und Kanzler der Universität Tübingen, übersiedelte wegen der Reformation in das katholische Rottenburg8. Die Töchter heirateten einflußreiche Politiker; so Veronika den badischen Kanzler Dr. Jacob Kirsser († 1533), Genoveva den württembergischen Kanzler und Rat Gregor Lamparter († 1523)9, Cordula den Schultheißen und Obervogt zu Vaihingen, Conrad Gremp († 1531)10. Cordula starb 1551 ebenfalls in Pforzheim, wie ihre erhaltene Grabplatte beweist11. Die verwandtschaftlichen Beziehungen des Dr. med. Johann Widmann von Heinsheim (geb. um 1461, † um 1535), Professor und Stadtarzt in Freiburg 1491/1494, zur Familie des Johann Widmann genannt Möchinger konnten durch Pfeilsticker geklärt werden12.

Die Stiftungstafel verweist vermutlich auf den Standort des ehemaligen Dreikönigsaltars13, der sich in unmittelbarer Nähe befunden haben wird und in dessen Nachbarschaft auch die Grabplätze für das Ehepaar Widmann gen. Möchinger zu vermuten sind. Die Gestaltung der Tafel war durch die älteren Stiftungsinschriften14 von 1503 und 1510 im wesentlichen vorgegeben; neu war der dekorative Schmuck durch Putten als Motive der Frührenaissance. Als Vorlagen kommen Rahmen-Bordüren des gleichzeitigen Buchschmucks in Frage wie etwa die Randleisten des Urs Graf für die von Erasmus von Rotterdam besorgte Ausgabe des Neuen Testaments von 151615.

Die Schrift ist eine individuell gestaltete Gotische Minuskel, die auf der Grabplatte Hiller von 1522 wiederkehrt. Das „stachlige“ Erscheinungsbild wird durch den Verzicht auf jede Rundung bei den Gemeinen bestimmt. Die spitzen Buchstabenformen werden betont durch scharfe Brechung der Hasten und spitzes Ausziehen der Oberlängen nach rechts; zusätzlich werden die Schäfte von f, l und langem s mit kleinen Dornen verziert. Die Versalien entstammen der buchschriftlichen Bastarda, sie zeigen Bogenschwellungen, die von parallel geführten Haarstrichen begleitet sind.

Anmerkungen

  1. Linksgewendet. Steigender Widder; vgl. Alberti 1055.
  2. Hahn, auf Ast stehend; vgl. die Grabplatte des 1487 gestorbenen Hans Bälz (Beltz) in Marbach (Lkr. Ludwigsburg), Inschrift ediert in: DI 25 (Ludwigsburg) nr. 140.
  3. Zusammenfassung der biographischen Daten bei Pfeilsticker § 340; Kremer, Lateinschule 1997, 133; Zitter, Miram, Die Leibärzte der württembergischen Grafen im 15. Jahrhundert (1397–1496) (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 1). Leinfelden-Echterdingen 2000, 111–117.
  4. Zu dem Zusammenhang der Stiftung am Dreikönigsaltar und einer Mitgliedschaft in der Löblichen Singergesellschaft zu Pforzheim vgl. Baser, Friedrich, Neun Jahrhunderte Pforzheimer Musikgeschichte. In: PforzhGbll. 3 (1971) 109–156; hier 138.
  5. Vgl. Pflüger 1862, 180f.
  6. Zu ihrer Person vgl. nr. 117.
  7. Bernhardt, Zentralbehörden 1973, 718.
  8. Pfeilsticker § 2913. Ferner: Finke, Karl Konrad, Die Tübinger Juristenfakultät 1477–1534. In: Contubernium 2. Tübingen 1972, 176–180.
  9. Zu diesem vgl. Pfeilsticker § 1106, 1294.
  10. Zu diesem ist eine Stiftungsinschrift in Maulbronn erhalten; vgl. DI 22 (Enzkreis) nr. 151; seine Grabplatte in Vaihingen an der Enz ist verloren, vgl. DI 25 (Ludwigsburg) nr. 254.
  11. Vgl. nr. 145.
  12. Die Namensgleichheit der beiden Mediziner führte zu Verwechslungen, die schon durch Baas 1911 geklärt wurden; vgl. Baas, Karl, Die beiden Ärzte Johann Widmann. In: ZGO NF 26 (1911) 621ff.; NF 39 (1926) 466ff. – Die biographischen Angaben bei Pfeilsticker § 341. Auch Widmann von Heinsheim war zugleich Leibarzt des Markgrafen Christoph von Baden und des Herzogs Ulrich von Württemberg, er lebte aber 1491–1512 in Freiburg. Sein Testament vom 4. Mai 1530 ist erhalten.
  13. Bei Fouquet finden sich keine Angaben über diesen Altar; vgl. Fouquet, St. Michael in Pforzheim 1983.
  14. Vgl. nrr. 92, 99.
  15. Vgl. Reinitzer, Heimo, Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition. Kat. d. Ausst. Wolfenbüttel 1983. Hamburg 1983, nrr. 52 u. 53, Abb. 37, 39.

Nachweise

  1. Karlsruhe, GLA 171/1514, Bürcklin, Diözesanbeschreibung 1737, fol. 15.
  2. Karlsruhe, GLA 47/39, Weygold, Epitaphia 1747, fol. 9r, 9v.
  3. Gehres, Pforzheim 1811, 29.
  4. Karlsruhe, GLA HFK 510, Herr, Collectanea Pforzheim 1830, fol. 48v, nr. 28.
  5. Pflüger 1862, 180f. u. Anm. 1.
  6. Rott, Baden-Durlacher Hof 1917, 34.
  7. KdmBadenIX/6, 139f., Abb. 118.
  8. Pfeilsticker, Walther, Die zwei Leibärzte Johann Widmann. In: Aus Schönbuch und Gäu. Heimatbeilage der Kreiszeitung Böblinger Bote. Böblingen 1959, 1–16.
  9. Trost, Schloßkirche 1962, 30f. mit Abb.
  10. Köhler, Heiliger Sebastian 2001, 167f.

Zitierhinweis:
DI 57, Stadt Pforzheim, Nr. 112 (Anneliese Seeliger-Zeiss), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di057h015k0011204.