Inschriftenkatalog: Stadt Pforzheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 57: Stadt Pforzheim (2003)

Nr. 110† Ev. Schloßkirche (Stiftskirche St. Michael) 1510–1519?

Beschreibung

Inschrift, vielleicht Beischrift einer Darstellung aus der Passion Christi. Ehemals vermutlich im nördlichen Nebenchor in der Nähe des ehemaligen St. Thomas- und Andreas-Altars. Gestaltung unbekannt. Angeblich gemalte Inschrift. Am Ende der Inschrift war ein Stifterwappen (Hausmarke nr. 3) beigefügt. Die Inschrift wird in der kopialen Überlieferung meist in Kapitalis wiedergegeben.

Inschrift nach KdmBadenIX/6.

  1. MORTVVS HIC IACVIT MORTEM DVM MORTE PEREMIT HIC LEO DORMIVIT QVI PERVIGIL OMNIA TRIVITa)ASPICE PLASMAb) MEVM QVI TRANSIS ANTE SEPVLCHRVMQVO TRIDVO IACVI CVM PRO TE PASSVS ObIVI ET bEHEMOTHc) DIVVMd) CONTRIVI CVM PEDE PLEXV(M)VECTIbVS ET TETRI CONFRACTIS PRORSVS AVERNI AbSTVLIT INDE SVOS SECVM SVPRA ASTRA LOCATOS .

Übersetzung:

Tot hat hier gelegen, der durch (seinen) Tod den Tod überwand. Hier war in Schlaf gesunken der Löwe, der – in wachem Zustand – alles vernichtete. Sieh an meinen Leichnam, der du an dem Grab vorübergehst, wo ich drei Tage lang gelegen habe, als ich für dich gelitten habe und gestorben bin und den grauenvollen Teufel mit dem Fuß zertreten habe! Nachdem Er die Pforten zu der gräßlichen Hölle gänzlich zerbrochen hatte, hat Er die Seinen mit sich von dort herausgeführt und über die Sterne gesetzt.

Versmaß: Leoninische Hexameter.

Wappen:
Schüm genannt Abenturer.

Kommentar

Da die Inschrift in unmittelbarer Nähe der ebenfalls gemalten Grabinschrift der Luitgard Göldlin (Göldener) von 1371 angebracht war, wurde sie bisher als Teil dieser Inschrift angesehen1. Da beide Inschriften verloren sind, ist ihre Zusammengehörigkeit nicht mehr nachprüfbar, aber eher unwahrscheinlich wegen des hier erstmals in die Diskussion eingeführten Stifterwappens.

Die Überlieferung der Inschrift ist nicht eindeutig hinsichtlich ihres genauen Standortes. Sie ist zuerst von Bürcklin 1737 dokumentiert worden. Danach befand sie sich oberhalb der angeblich auf die Wand aufgemalten Epitaph-Inschrift von 1371. Dagegen sah sie Weygold 1747 „unter“ der Epitaph-Inschrift.

Weygold hat Inschrift und Wappen zuverlässig abgezeichnet und angegeben, letzteres habe sich unterhalb der lateinischen Versinschrift im nördlichen Nebenchor unter (oder bei?) der Grabinschrift der Luitgard Göldlin von 1371 befunden. Dieses Wappen gehört aber nicht in das 14. Jahrhundert, sondern es kann hier erstmals identifiziert werden. Es ist das Wappen des Jacobus Schüm genannt Abenturer, Vikar des St. Thomas- und Andreas-Altars. Die zwischen 1510 und 1519 entstandene Grabplatte dieses Jacob Schüm ist bis heute erhalten und zeigt dieses Wappen2. Das Wappen war also zweimal vorhanden; einmal in Verbindung mit der Versinschrift auf die Wand (?) aufgemalt, zum andern auf der Grabplatte des für den fraglichen Altar zuständigen Pfründeninhabers. Dies ist ein Hinweis darauf, daß der Vikar Schüm genannt Abenturer und nicht die Luitgard Göldlin der Stifter der lateinischen Vers-Inschrift ist3.

Es deutet alles darauf hin, daß das bestehende Gedicht einer verlorenen bildlichen Darstellung als Beischrift beigefügt war. Die Versinschrift besteht aus drei Teilen. Zur Rekonstruktion ist festzuhalten: die ersten beiden Verse geben wieder, was dargestellt war, offenbar ein Toter, symbolhaft als „Löwe“ bezeichnet. Damit wird Christus als der Überwinder des Todes und als der Löwe aus Juda angesprochen. Dabei wird zweimal – durch HIC – auf den Ort dieses Geschehens gewiesen, der offenbar im Bilde dargestellt war. Christus selbst wendet sich in den folgenden drei Versen mit direkter Rede an den Leser und damit an den Betrachter, der an dem sepulchrum vorübergeht, und fordert ihn auf, sein plasma, also wohl seinen Leichnam, seinen geschundenen Leib, zu betrachten und zu bedenken, was er für ihn getan hat. Die letzten beiden Verse kommentieren die Erlösungstat Christi: nachdem er in das Totenreich hinabgestiegen war, hat er die Toten herausgeführt und ihnen ihren zukünftigen Platz im Himmel bestimmt.

Nach dem Inhalt der Verse und der Leseranrede in Vers 3 war das sepulchrum Christi dargestellt oder wenigstens im Leiden Christi präsent. Es ist also an eine Darstellung der Grablegung oder der Beweinung Christi zu denken, die ein Grabdenkmal oder großes Epitaph des Jacob Schüm geschmückt haben kann. Das entspricht der Angabe bei Franz Josef Herr, es habe sich um ein ehemaliges „Heiliges Grab“ gehandelt. Ikonographisch weist alles auf ein Andachtsbild, kombiniert mit der vorliegenden Bildbeischrift. Möglich wäre auch ein plastisches Bildwerk, in dessen Nähe die Verse aufgemalt waren.

Ausgehend vom „Grab Christi“ läßt sich auch die Textquelle für die Bildbeischrift bestimmen. Der Text der Versinschrift war wörtlich als Wandinschrift im Innern der Grabeskirche in Jerusalem aufgemalt4. Die Verse befanden sich an sehr prominenter Stelle, nämlich unmittelbar an der Heiliggrab-Kapelle innerhalb der Rotunde5. Die ersten beiden Verse waren auf einer Wand der Kapelle aufgemalt6. Die folgenden fünf Verse, mit der Anrede Jesu beginnend, standen einst über dem Eingang in das Heilige Grab selbst7. Es ist naheliegend, daß diese Inschriften aus einem der berühmtesten Pilger-Heiligtümer der Christenheit durch Pilger kopiert und nach Deutschland gebracht wurden. Möglicherweise kommt dem Vikar Jacob Schüm genannt Abenturer das Verdienst zu, diese im hohen Mittelalter in Jerusalem entstandenen und mittlerweile längst dort untergegangenen Verse nach Pforzheim übertragen und dort in einem dem Heiligen Grab vergleichbaren Zusammenhang als Zitat verwendet zu haben. Damit ist ein Zeugnis aus dem frühhumanistischen Milieu Pforzheims zu Beginn des 16. Jahrhunderts zurückgewonnen worden.

Mit der Frage nach der Entstehung hängt die Frage der Datierung eng zusammen. Die Zeit nach der schweren Erkrankung 1502 und nach der Genesung des Vikars, die die Stiftung seiner Grabplatte nach 1510 veranlaßte, bietet sich für die Stiftung eines größeren Bildwerks als Dankesschuld an. Einen sicheren terminus ante quem bildet sein Todesjahr 1519.

Textkritischer Apparat

  1. Überlieferte Variante: Hic leo dormivit qui pervigil omnia cernit; vgl. Walther, Hans, Initia carminum 1959, Nr. 8007: Versus in sepulchro Christi. Primas? Hildebert? Bibliothèque de l’École des Chartes 1868, 607. Den Hinweis auf diese Angabe verdanke ich Dirk Kottke, Tübingen. Leider ist es nicht gelungen, Walthers Quelle aufzufinden. Für Rat und Hilfe bei der Diskussion der Übersetzung sei Dirk Kottke, Prof. Dr. Reinhard Düchting, Heidelberg, und Ilas Bartusch, Heidelberg, herzlich gedankt.
  2. Möglich wäre einmal die positiv aufzufassende Bedeutung des seltenen Wortes plasma im Sinne von Leib, Fleisch, Geschöpf oder Bild, Gebilde; zum andern scheint hier eindeutig der Leichnam Christi, sein toter Körper, gemeint. Der von Sandoli (wie Anm. 6) in Erwägung gezogene Vorschlag, hier für plasma ein anderes, ähnlich lautendes Wort einzusetzen, wie vielleicht plaga, Wunde, Stich, Hieb, oder plangor, lautes Trauern, Klagen und Weinen, scheint mir unnötig, da sich der Sinn ja zwanglos aus dem Zusammenhang ergibt.
  3. Behemoth, auch Leviathan, nach Hiob 40,15–32; 41,1–26. Gemeint ist der Teufel. BETHEMOTH Sandoli (wie Anm. 6).
  4. So hier für DIRVM im Sinne von grauenhaft, gräßlich; DIRVM Sandoli.

Anmerkungen

  1. Vgl. nr. 20.
  2. Vgl. nr. 102.
  3. Auch Gehres zitiert 1811 die Epitaph-Inschrift von 1371 an erster Stelle, berichtet aber wie Bürcklin, die Versinschrift habe sich „darüber“ befunden. Franz Josef Herr gibt 1830 nur den Wortlaut wieder; offenbar hat er die Inschrift nicht selbst gesehen. Pflüger zitiert 1862 nur die Epitaph-Inschrift von 1371, und zwar als noch bestehend, erwähnt aber die Versinschrift nicht; vgl. Pflüger 1862, 103 Anm. 4. Lacroix bringt 1939 widersprüchliche Angaben; er betrachtet das Epitaph und die Versinschrift als Einheit, verwechselt aber den südlichen Nebenchor mit dem nördlichen und überliefert das falsche Todesdatum 1341 statt 1371. Auch bleibt unklar, ob es sich um ein Wandgemälde handelte oder um eine gemalte Inschrift in Zusammenhang mit einem Bildwerk oder Epitaph aus Stein oder Holz.
  4. Den ersten Hinweis auf Jerusalem verdanke ich der Publikation von Robert Favreau, Le Thème Iconographique du Lion dans les Inscriptions Médiévales. In: Ders., Études d’Épigraphie Médiévale. T. 1, Limoges 1995, 447–468, hier 457. Hier sind die ersten zwei Verse zitiert, allerdings mit einem Druckfehler: PREMIT statt PEREMIT.
  5. Zur Geschichte, Baugeschichte und Baugestalt der Grabeskirche vgl. Krüger, Jürgen, Die Grabeskirche zu Jerusalem. Geschichte – Gestalt – Bedeutung. Regensburg 2000. Speziell zum Grabbau dort 34–60.
  6. Edition der Verse in: Sandoli, Sabino de, OFM, Corpus inscriptionum crucesignatorum terrae Sanctae (1099–1291). Testo, traduzione e annotazioni. Jerusalem 1974, 9f.
  7. Ebd. 10.

Nachweise

  1. Karlsruhe, GLA 171/1514, Bürcklin, Diözesanbeschreibung 1737, fol. 16.
  2. Karlsruhe, GLA 47/39, Weygold, Epitaphia 1747, fol. 10.
  3. Gehres, Pforzheim 1811, 30.
  4. Karlsruhe, GLA HFK 510, Herr, Collectanea Pforzheim 1830, fol. 48v, nr. 33.
  5. KdmBadenIX/6, 155, 158.

Zitierhinweis:
DI 57, Stadt Pforzheim, Nr. 110† (Anneliese Seeliger-Zeiss), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di057h015k0011000.