Inschriftenkatalog: Lüneburger Klöster
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 76: Lüneburger Klöster (2009)
Nr. 28 Kloster Wienhausen 4. V. 14. Jh.
Beschreibung
Thomas-Teppich.1) Wollstickerei auf Leinen. Der Teppich ist im Textilmuseum ausgestellt. Die Randborten sind links wenig und rechts stark beschnitten, die obere Borte fehlt, ist aber in fünf stark beschädigten Fragmenten erhalten. Der Teppich wurde 1937 restauriert. Er besteht aus drei Bildstreifen, die durch zwei Inschriftenleisten voneinander getrennt sind, auf der oberen Leiste die Inschrift A, auf der unteren Leiste die Inschrift B. Die Darstellungen zeigen Szenen aus dem Leben des heiligen Thomas in Anlehnung an die Legenda aurea. 1. Reihe: Thomas legt seinen Finger in die Seitenwunde Christi; Christus sendet Thomas nach Indien, Christus mit Schriftband C; ein Herold zeigt Thomas den Weg; Teilnahme an der königlichen Hochzeit, Thomas wird vom Mundschenken geschlagen, Thomas mit Schriftband D; der Mundschenk wird vom Löwen zerrissen. 2. Reihe: Der König überreicht Thomas einen Schatz für die Errichtung eines Palastes, Abreise des Königs, Thomas gibt das Geld den Armen, Thomas im Gefängnis. 3. Reihe: Der Bruder des Königs stirbt, Auferstehung des Toten, der Bruder zeigt dem König den von Thomas für ihn im Himmel errichteten Palast, Märtyrertod des Thomas und Sturz des Götzenbildes, Begräbnis des Thomas, Thomas spendet das Abendmahl. In den Randborten Drachen sowie weitere Tiere, links eine Frau beim Dechsen von Flachs und eine Frau beim Spinnen, ehemals befanden sich in allen vier Ecken Wappenschilde, von denen nur noch die unteren zwei erhalten sind, darin ein Greif und ein Löwe.2) Die Buchstaben aller Inschriften ohne Farbwechsel in Rot auf weißem Grund.
Maße: H.: 205 cm; B.: 445 cm; Bu.: 2,5–3 cm (A, B, C), 2 cm (D).
Schriftart(en): Gotische Minuskel, mit Versal (D).
- A
hir gift em de koni(n)ga) den scat dat he em late buwen en pallas koni(n)ga) de ryt hir vt hir esschetb) s(anct) thomas vp de borch hir sleyt en de schencke hir delet he dat gvd den armen luden hir sittet he in dem kerkenere ·
- B
hir sterft des konighes broder hir steyt he wedder vp van dode hir is dat pallas dat ghebuwet heft · s(anct) thomas · hir dodet se den apostol vnde vorstoitec) de afgoded) · hir gravet se en · hir nemet se en vte dem grave vnde gyft em den hilge(n lif)e)
- C
ga int lant ivdiaf)
- D
Jk wil nicht eten / de hant kome vp de
Übersetzung:
Hier gibt ihm der König den Schatz, daß er ihm einen Palas bauen lasse. Der König reitet hier aus. Hier wird Thomas auf die Burg gefordert. Hier schlägt ihn der Mundschenk. Hier verteilt er das Gut unter den armen Leuten. Hier sitzt er im Kerker. (A)
Hier stirbt der Bruder des Königs. Hier steht er wieder vom Tode auf. Hier ist der Palas, den St. Thomas gebaut hat. Hier töten sie den Apostel und stürzen die Abgötter. Hier begraben sie ihn. Hier nehmen sie ihn aus dem Grab, und (hier) gibt (er) ihnen den heiligen (Leichnam). (B)
Geh in das Land Indien. (C)
Ich will nicht essen. Die Hand komme auf dich. (D)
Textkritischer Apparat
- Offenbar hält Kohwagner-Nikolai, die hier gegen alle anderen Überlieferungen konig liest, das Kürzungszeichen für einen i-Punkt. Sie übersieht dabei zum einen, daß i-Punkte in der frühen gotischen Minuskel kaum vorkommen, zum anderen, daß die anderen i der Inschriften keine i-Punkte tragen.
- Die Verwendung der Aktivform esschet anstelle der Passivform ist sonst so nicht nachzuweisen, eschen kann sich hier aber inhaltlich nur auf die mit einer Strafandrohung verbundene Forderung des Königs beziehen, die Hochzeitsfeier seiner Tochter zu besuchen.
- Irrtümlich statt vorstorte (vorstorten = umstürzen, vgl. Schiller/Lübben, Wörterbuch, Bd. 5, S. 464). Kohwagner-Nikolai liest vorstorse, der Buchstabe nach dem zweiten o besteht aber nur aus einer Haste, vorstorde bei Maier, vorstoitt Schütte und Wilhelm. Die nachlässige Ausführung der Buchstaben erschwert eine sichere Lesung, so daß auch die Version vorstoitt oder vorstoiet in Betracht kommt.
- Die Unterlänge des g fehlt.
- hilgen Kohwagner-Nikolai, hinter dem e eindeutig kein n, sondern ein Kürzungszeichen in Form eines Häkchens zur Bezeichnung des aus Platzgründen gekürzten Textes. Da Thomas in der Szene darunter Hostien an die Gläubigen austeilt, kann hier nur lif zu ergänzen sein. Die Deutung und Übersetzung von Kohwagner-Nikolai ‚man gibt ihm (sic!) den Heiligen‘ im Sinne von ‚man spricht ihn heilig‘ paßt weder zu der dargestellten Szene, noch ist sie grammatisch sinnvoll. Die ‚falsche‘ Schreibung em bzw. eme als Form des Dativ Plural ist im Niederdeutschen belegt (vgl. Lasch, Grammatik, S. 119), eventuell wäre hier auch ene zu lesen.
- Irrtümlich statt india.
Anmerkungen
- Inv. Nr. WIEN Ha 5.
- Zur möglichen Identifizierung der Wappen vgl. Kohwagner-Nikolai, Bildstickereien, S. 218, Anm. 18. Es ist jedoch durchaus möglich, daß die Wappen auch hier nur dekorativen Charakter hatten. Zur Identifizierung solcher Art von Wappen auf den Textilien der Klöster vgl. Nr. 5, Anm. 2.
Nachweise
- Mithoff, Kunstdenkmale Fürstentum Lüneburg, S. 282.
- Schütte, Bildteppiche, Bd. 1, S. 23 u. Tafel 21–24.
- Maier, Kunstdenkmale Wienhausen, S. 156 u. Abb. 203.
- Wilhelm, Bildteppiche, S. 38 u. Abb. S. 37 u. 40f.
- Kohwagner-Nikolai, Bildstickereien, Nr. 5, S. 218.
Zitierhinweis:
DI 76, Lüneburger Klöster, Nr. 28 (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di076g013k0002803.
Kommentar
Die einzelnen Buchstaben der Inschriften sind vor allem in der zweiten Zeile, in der sie aus Platzgründen recht eng angeordnet sind, nicht besonders sorgfältig ausgeführt, so daß e, r und t manchmal identische Form aufweisen. Der Thomas-Teppich unterscheidet sich nicht nur stilistisch in der Darstellungsart von den anderen Wienhäuser Teppichen, wie in der Literatur seit Schütte immer wieder betont wird, er weist auch noch zwei weitere grundlegende Unterschiede zu diesen auf. Zum einen zeigen die Inschriften keinen Farbwechsel wie sonst und treten dadurch weniger in den Vordergrund. Zum anderen sind die erläuternden Bildbeischriften hier bis zum Ende des Bildprogramms durchgehalten, allerdings – was die Inschrift A betrifft – in sehr eigenwilliger Anordnung, da sich der fortlaufende Text abwechselnd auf die Bildreihe darüber und die Bildreihe darunter bezieht. Lediglich die beiden ersten Szenen bleiben unkommentiert, die erste wohl, weil sich die Darstellung auch für den mit der Thomas-Vita weniger vertrauten Betrachter aus sich selbst heraus erklärt, die zweite, weil der Auftrag Christi an Thomas dem beigegebenen Schriftband C zu entnehmen ist.