Inschriftenkatalog: Landkreis Northeim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 96: Lkr. Northeim (2016)

Nr. 15 Dassel, Stadtpark 1325

Beschreibung

Scheibenkreuzstein, fälschlich als „Irmingardstein“ bezeichnet. Roter Sandstein. Heute im Stadtpark östlich des Rathauses zwischen Südstraße und Stadtmauer. 1966 noch zwischen Dassel und Hilwartshausen südlich der Eisenhütte an einem Feldweg, der Mirus zufolge der ursprüngliche Standort war.1) Die Vorderseite zeigt in Ritzzeichnung einen Baum mit angedeutetem Wurzelwerk und vier Ästen mit Blättern; der Stamm geht nach oben in ein reliefiertes, nasenbesetztes Scheibenkreuz über. Rechts vom Stamm eine fallende, den ausgestreckten rechten Arm an einen abgebrochenen Ast klammernde, gebeugte Frauengestalt in einem langen Gewand. Unter ihrem rechten Fuß ein Aststumpf. Die von den Wurzeln ausgehenden Linien gehen in einem Bogen über zu den Längsseiten und bilden die die Inschrift rahmenden, vertieften Linien. Die schmale, 2 bis 3 cm breite Kante zwischen der rechten Schriftleiste und der Außenkante ist stark abgearbeitet. Inschrift A, an drei Seiten umlaufend, beginnt an der linken Längsseite unten; an der rechten Längsseite durch den Kopf und die linke Hand der Frau unterbrochen. Oben links ist eine kleine, oben rechts eine größere Stelle ausgebrochen. Inschrift A wird unten links auf der Gegenseite fortgesetzt. Dort eine im Verhältnis zum Kreuz übergroße Darstellung des Gekreuzigten mit gestrichelter Dornenkrone, ebenfalls in Ritzzeichnung, das Kreuz auf einem angedeuteten Bogensockel; bemerkenswert sind die übergroßen Nägel. Über dem oberen Kreuzende eine dachartige Form mit reliefiertem Maßwerk. Die Inschrift zwischen zwei Leisten auf den Längsseiten sowie über dem dachartigen Maßwerk, links ansteigend, rechts absteigend. Die obere Schmalseite war ohne Text; ein Verlust ist, da die Inschrift an dieser Stelle auf der Gegenseite oben nicht verkürzt ist, nicht anzunehmen. Die Inschrift wird an beiden Längsseiten durch die Unterarme und Hände des Gekreuzigten unterbrochen. Der obere Abschnitt der linken Längsseite ist ausgebrochen. Die Gestaltung dieser Seite ähnelt der einer zeitgenössischen Grabplatte. Auf dem Kreuzesbalken Inschrift B. Beide Inschriften sind eingehauen.

Neben dem Stein findet sich heute das Fragment eines weiteren Kreuzsteins, des sogenannten „Schäfersteins“, auf dem unten rechts die Reste einiger Buchstaben zu erkennen, aber nicht mehr zu entziffern sind.2)

Maße: H.: 240 cm (gesamt), 163–165 cm (über der Erde); B.: 69 cm; Bu.: 5,5–6 cm (A), 4,5 cm (B).

Schriftart(en): Gotische Majuskel mit Minuskeln (A), gotische Majuskel (B).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Julia Zech) [1/7]

  1. A

    AnnO · D(omi)ni · M · CCC · XXV · F(e)R(ia) · Vi P(ost) · PenteCOst[en]a)3) / [GerTr]VDIS · VX[OR]b) / [– – –] DeO eLeu(atio) · Q(uae) ceciDit · Dec) · // Quadam · ArbORe · eT ·d)/ SIC / OBIIT / CuiuS · A(n)I(m)A · Requiescat · in Pace · Am(en) ·

  2. B

    I(ESUS) · N(AZARENUS) · R(EX) · I(UDAEORUM)4)

Übersetzung:

Im Jahr des Herrn 1325, am Freitag nach Pfingsten, stürzte Gertrud, Ehefrau des …, nach der Erhebung Gottes (der Hostie in der Eucharistie) von einem Baum und starb so. Ihre Seele ruhe in Frieden. Amen. (A)

Kommentar

Am auffallendsten an der Schrift ist die Mischung von Minuskel- und Majuskelformen in (A). Die gotische Majuskel zeichnet sich durch eine formbewusste Gestaltung aus. Das A ist flachgedeckt, D ist unzial, außerdem finden sich ein links geschlossenes, unziales M sowie ein rundes T in OBIIT. Der Bogen des P ist offen, in P(ost) ist nach links ein fast gleichförmiger Zierbogen angesetzt. Die Buchstaben enthalten oftmals ein oder zwei eingestellte Zierstriche, die Schäfte von I, B, kapitalem T und P in P(ost) sind verdoppelt; C und der rechte Bogen des M weisen eine spitze Bogenschwellung auf; bei A, B, D, F, P, R zeigt der linke Schaft Halbnodi. Die Zierstriche an Schaft- und Bogenenden haben eine Tendenz zur Bogenform (I, S); am I in SIC sind sie nach links halbkreisförmig ausgezogen, ähnlich auch an N und R in (B). Noch deutlicher ist dies bei F und C, wo der Abschlussstrich selbst einen Halbnodus aufweist und durch weitere Zierhäkchen X-förmig wird. Beim X findet sich ein Nodus am Schnittpunkt der Schäfte. Die Schäfte des V sind, außer in VX[OR], nach links durchgebogen. Keilförmige Verbreiterungen der Schaft- und Balkenenden zeigen sich seltener: am L, dem V in VX[OR] sowie an der nach links gerichteten Cauda des Q. B und R sind innen offen. Der rechte, offene Bogen des M zeigt oben eine Brechung.

Die Formen der Minuskel-Buchstaben sind dagegen von keinem festen Kanon geprägt. Brechungen kommen vor, sind aber noch nicht systematisch wie bei der gotischen Minuskel ausgeführt und erscheinen zumeist eher wie ein enger Bogen. Bemerkenswert sind das doppelstöckige, unten offene a, das aus einem oben und unten gebogenen Schaft und einem etwas oberhalb der Mittellinie geknickten Bogen besteht. Der Bogen des c ist weit offen und entspricht dem des e; der Balken des e erscheint als ein in Gegenrichtung an das Bogenende angesetzter Zierstrich. Der oben gebrochene Schaft des b beginnt oberhalb der Grundlinie und verläuft leicht rechtsschräg; der sehr weite, unten offene und gebrochene Bogen reicht bis zur Grundlinie zurück. Bogenschwellungen finden sich am ersten e in Requiescat und am q.

Wenn das Bild auf der Vorderseite auch primär an ein reales Geschehen erinnert, wie die Inschrift bezeugt, so lässt die Darstellung zugleich auch an den Baum des Lebens denken, was durch die Ersetzung der Baumkrone durch das nasenbesetzte Radkreuz bekräftigt wird. Der abbrechende Ast illustriert den plötzlichen und daher schlechten Tod, was durch den in der Inschrift hervorgehobenen Moment – nach der Erhebung der Hostie im Abendmahl – noch einmal betont wird. Andererseits kann der Baum des Lebens ikonographisch auch auf den – auf der Gegenseite dargestellten – Tod Christi am Kreuz und die Auferstehung vorausdeuten.5) Dagegen ist die von Mirus – dem das Verdienst der erstmaligen Entzifferung von Teilen der Inschrift zukommt – forciert in die Inschrift hineingelesene Identifikation des Unfallopfers mit Irmingard, der Witwe Ludolfs V. von Dassel,6) aufgrund des Befundes nicht zu halten. Da der Name des Mannes fehlt, kann über die Identität des Unfallopfers „Gertrud“ keine Aussage gemacht werden.

Textkritischer Apparat

  1. F(e)R(ia) Vi P(ost) · PenteCOst[en]] Pr(e) vig(ilia) P(entecostes) Irmingard Mirus.
  2. [GerTr]VDIS · VX[OR]] Liudolfs . Uxo(r) Mirus. Der untere Bogenabschnitt des G lässt sich erkennen, ebenso der eines runden T. Vom O in VX[OR] ist nur ein kleiner Rest des linken Bogenabschnitts erhalten.
  3. [– – –] DeO eLeu(atio) · Q(uae) ceciDit · De] … occidit sic Mirus. Vor DeO muss der Name des Mannes gestanden haben. Die Stelle ist ausgebrochen.
  4. Die Symmetrie würde – wie auf der Gegenseite – eine Fortsetzung der Zeile nach oben erfordern; der in sich sinnvolle Text lässt aber keine Lücke annehmen.

Anmerkungen

  1. Mirus, Denksteine, S. 117.
  2. Mirus, Denksteine, S. 117. Ders., Chronik, S. 24f. Müller/Baumann, Kreuzsteine und Steinkreuze, Nr. 4124.6, S. 209.
  3. 31. Mai.
  4. Io. 19,19.
  5. Vgl. LCI, Bd. 1, Sp. 260f.
  6. Mirus, Denksteine, S. 119. Ders., Chronik, S. 26–28.

Nachweise

  1. Mirus, Denksteine, S. 119 (mit Zeichnungen S. 118).
  2. Mirus, Chronik, S. 26.
  3. Kreuzsteine und Steinkreuze Nr. 4124.5, S. 208f. (mit Abb.en).
  4. Lindemann, Irmingardstein, S. 19 (nach Mirus, mit Abb.).

Zitierhinweis:
DI 96, Lkr. Northeim, Nr. 15 (Jörg H. Lampe, Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di096g017k0001505.