Inschriftenkatalog: Landkreis Holzminden

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 83: Landkreis Holzminden (2012)

Nr. 217 Kemnade, Klosterkirche St. Marien 1622 od. später

Beschreibung

Epitaph für das Kind Anna Sophia von Esleben. Grauer Sandstein, farbig gefaßt. Das Epitaph hängt an der Nordwand des Chores. Es besteht aus einer hochrechteckigen Tafel, die durch aufwendiges Ohrmuschelornament gerahmt ist, das seitlich mit zwei großen Engelsköpfen besetzt ist. Oben bildet das Ornament einen gesprengten Giebel, auf dem als bekrönende Figur Moses mit den Gesetzestafeln über einem Engelskopf steht. Vor dem Fries zwischen Giebel und Mittelteil ein weiterer Engelskopf. Um die hochrechteckige Tafel des Mittelteils läuft die erhaben in vertiefter Zeile gehauene Inschrift A. Im Innenfeld oben im Relief die Darstellung des verstorbenen Kindes mit einer Blume in der Hand in einer Nische, umgeben von vier Vollwappen, die durch die eingehauenen Beischriften B auf Schriftbändern bezeichnet sind. Im unteren Teil des Innenfeldes eine von zwei Putten gerahmte Kartusche mit der erhabenen Inschrift C. Den unteren Abschluß des Epitaphs bildet eine seitlich von zwei Engelsfiguren gerahmte Kartusche mit der erhaben gehauenen Inschrift D, in der Mitte darüber ein weiterer Engelskopf. In Inschrift C Trennstriche in Form von Kommata.

Maße: H.: ca. 300 cm; B.: 176 cm; Bu.: 6 cm (A), 4 cm (B), ca. 3,5 cm (C), 4 cm (D).

Schriftart(en): Kapitalis.

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Meike Willing) [1/2]

  1. A

    IM BVCH DER WEISSHEITT AN DRI:/TTEN CAPITTELL: DIE SEHLEN DER GERECHTEN SEIN / IN GOTTES HAND VND KEIN / QWALL RVRETT SIE AN:1)

  2. B
    DIE · V(ON) · ESLEBEN DIE · V(ON) · STOCKHVSE(N) 
    DIE · BOSEN DIE · V(ON) · HAXHVSEN 
  3. C

    AN(N)O 1621 DEN 31 IV-/LII IST DAS WOLEDLE / IVNGFREWLEIN ANNA SOPHIA GEBORNE · V(ON) · ESLEBENa) / NACHMITTAGE ZWISCHEN / 3 VND 4 VHREN GEBOREN VND / DAN ANNO 1622 AM TAGE / IACOBI APOSTOLI2) DES ABENDS / VMB 10 VHR IN GOTT DEM HERNb) / SELIGLICH ENTSCHLAFFEN / IHRES ALTERS EIN IAR MIN(DER) 6 TA/GE DERO SEHLEN GOTT GNE-/DIG SEI

  4. D

    LASET DIE KINDLEINc) ZV MIR KO/MMEN VND WERET IN NICHT DE/N SOLCHER IST DAS REIC/H GOTTES ·3)

Wappen:
Esleben4)Stockhausen6)
Bose5)Haxthausen7)

Kommentar

Die Bogen- und Schaftenden sind keilförmig verbreitert, die Balkenenden überwiegend mit serifenartigen Sporen versehen. Der Deckbalken des T ist beidseitig abgeschrägt, so daß eine dachartige Form entsteht. In (A) weisen V, N und das verschränkte W eine Linksschrägenverstärkung auf. Die unteren Balken von E und L sind verlängert, der mittlere des E ist verkürzt. G ist mit eingestellter Cauda gestaltet, Q mit linksschräger, geschwungener Cauda; die Cauda des R und der untere Schrägschaft des K sind geschwungen und spitz auslaufend. Der Mittelteil des M endet oberhalb der Mittellinie, nur in (D) reicht er bis zur Grundlinie. Die 1 ist gebogen, 6 geschlossen und einmal mit Anschwung versehen (1622); an der spitzen 2 fällt in einem Fall der verkürzte obere und verlängerte untere Balken auf (1621), hinzu kommen eine spitze 3 und eine aufgerichtete 4.

Auffallend an der Gestaltung des Epitaphs ist, daß der biographische Text (C) und der Bibelspruch (A) ihre üblichen Plätze getauscht haben, der erstere also in der Kartusche unterhalb der Figur steht und der letztere umlaufend angeordnet ist. Möglicherweise wurden auch Bestandteile einer Grabplatte später (vor 1646 oder 1656, dem Todesjahr des Vaters bzw. der Mutter) zu dem vorliegenden Epitaph umgeformt.

Die Verstorbene ist die Tochter des Christoph Friedrich von Esleben (1580–1646) und der Anna Margaretha von Stockhausen (gest. 1656). Eine weitere Tochter, Anna Christophora, wurde am 1. März 1631 geboren und starb am 4. Oktober 1640 in Hameln; sie wurde ebenfalls in Kemnade begraben, wie die Leichenpredigt des Pastors Johann Schwanflügel (vgl. Nr. 247) berichtet. Die Eltern des Vaters waren Hermann von Esleben aus Eslohe bei Meschede und Margareta von Bose, deren Familie im Bistum Paderborn und im Gebiet des Stiftes Corvey begütert war. Der Vater der Mutter, Heinrich von Stockhausen, war in Luttmersen bei Neustadt am Rübenberg und in Löwenhagen bei Göttingen ansässig sowie Erbmarschall des Stiftes Corvey; die Mutter Christophora von Haxthausen kam aus einer der vier wichtigsten Adelsfamilien des Bistums Paderborn.8) Eine Schwester, Ursula Sybille, tritt in den 1640er Jahren in Kemnade wiederholt als Patin in Erscheinung.9)

Mit der Person des Christoph Friedrich von Esleben ist die endgültige Säkularisation des Klosters Kemnade verbunden. Nachdem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowohl der Versuch der Äbte von Corvey, einen katholischen Nonnenkonvent wiederzubegründen, wie der des Herzogs Julius, die Umwandlung in einen lutherischen Konvent zu erzwingen, gescheitert war, stand Corvey lediglich noch das Recht zu, unter Wolfenbütteler Landeshoheit einen Propst und Verwalter einzusetzen. 1617 erhielt von Esleben die Propstei. Da ihm die Abtei eine beträchtliche Summe Geld schuldete, das er als Propst von Marsberg ausgelegt oder ausgegeben hatte, betrachtete sich Esleben in Kemnade als Pfandinhaber. Seine Position sicherte er ab, indem er sich 1619 dem Schutz des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel unterstellte; im Jahr darauf erlangte er die Einweisung in alle Corveyschen Güter im Fürstentum Wolfenbüttel. 1620 heiratete er Anna Margaretha von Stockhausen. 1627 durch Tilly aus Kemnade vertrieben, setzte ihn der Herzog 1633 wieder in seinen Besitz ein. Von Esleben, der schon 1605 an einem Kriegszug gegen die Osmanen teilgenommen hatte, wurde 1622 Braunschweigischer Rittmeister und Inhaber einer Kompanie. Von Juni 1632 bis November 1633 ist er als schwedischer Oberst greifbar, der für Herzog Wilhelm von Sachsen-Weimar als Kommandant des Eichsfelds fungierte. Obwohl er dort gegen welfische Interessen gewirkt hatte, söhnte er sich Ende 1633 mit Herzog Friedrich Ulrich aus (möglicherweise von diesem unter Druck gesetzt wegen Kemnade), legte sein Kommando nieder und kehrte nach Wolfenbüttel zurück. Herzog August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel (reg. 1635–1666) lud den Oberst und Pfandinhaber des Klosters seit 1636 wiederholt zu Taufen seiner Söhne ein. 1639 setzte von Esleben, da ohne männliche Nachkommen, den Herzog als Erben des Klosterguts ein, das nach seinem Tod 1646 vertragsgemäß zunächst im Besitz seiner 1656 gestorbenen Ehefrau blieb. Da Kemnade im „Normaljahr“ 1624 nicht in den Händen Corveys gewesen war, konnte die Abtei, trotz eines anderslautenden Urteils des Reichskammergerichts von 1621, ihre Ansprüche auch im Westfälischen Frieden nicht durchsetzen.10) Das aufwendige Epitaph der jung verstorbenen Tochter des Christoph Friedrich von Esleben ist die augenfälligste Erinnerung an diesen für das frühere Benediktinerinnenkloster so wesentlichen Vorgang.

Christoph Friedrich von Esleben wurde ebenfalls in der Kirche von Kemnade begraben; vgl. Nr. 258.

Textkritischer Apparat

  1. ESLEBEN] Der rechte Schaft des N nicht erkennbar, vermutlich durch nachträgliche Stuckierung verdeckt.
  2. HERN] Die Cauda des R und fast das ganze N durch nachträgliche Stuckierung verdeckt.
  3. KINDLEIN] Der obere Teil der Buchstaben NDL teilweise durch nachträgliche Stuckierung verdeckt.

Anmerkungen

  1. Wsh. 3,1.
  2. 25. Juli.
  3. Mk. 10,14.
  4. Wappen Esleben (drei Sparren). Vgl. Spießen, Wappenbuch, Bd. 1, S. 49 u. Tafel 115.
  5. Wappen Bose I (Rose). Vgl. Spießen, Wappenbuch, Bd. 1, S. 19 u. Tafel 43.
  6. Wappen Stockhausen (gestümmelter Eichenstamm mit zwei Blättern). Vgl. Spießen, Wappenbuch, Bd. 1, S. 122; Bd. 2, Tafel 309. Siebmacher/Hefner, Wappenbuch, Bd. 2, Abt. 9, S. 16 u. Tafel 18.
  7. Wappen Haxthausen (Wagenflechte). Vgl. Spießen, Wappenbuch, Bd. 1, S. 66f.; Bd. 2, Tafel 160.
  8. Vgl. Roth, Auswertungen, Bd. 7, Nr. 6107.
  9. Reitemeyer, Kulturgeschichtsbild, S. 188.
  10. Vgl. Römer, Kemnade, S. 308–311. Zur Anstellung als Rittmeister 1622 und zum Türkenzug 1605 vgl. StAW 38 B Alt, Nr. 50. Zur Zeit von 1627 bis 1632/33 vgl. Billig, Pastores, S. 60–62. Zur Zeit als schwedischer Oberst und Kommandant des Eichsfeldes vgl. Huschke, Herzog Wilhem, S. 71–74, 80f., 87f., 101f., 113f., 134 u. bes. 155f. Die Einladungen Herzog Augusts: StAW 11 Alt Kemn., Nr. 4 u. Nr. 16. Zur Leichenpredigt für die 1640 gestorbene Tochter Anna Christophora siehe Roth, Auswertungen, Bd. 7, Nr. 6107; ausführlich zitiert bei Oeler, Kemnade, S. 25–27.

Nachweise

  1. Kdm. Kr. Holzminden, S. 393.
  2. Kdm. Bodenwerder/Pegestorf, S. 60f. u. Tafel 114.

Zitierhinweis:
DI 83, Landkreis Holzminden, Nr. 217 (Jörg H. Lampe und Meike Willing), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di083g015k0021709.