Die Inschriften des Landkreises Göppingen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 41: Göppingen (1996)

Nr. 44† Geislingen an der Steige, ev. Stadtkirche (U. L. Frau) um 1425 (?)

Beschreibung

Reste von Farbverglasung, früher im nordöstlichen Chorfenster, 1880 bei der Einsetzung neuer Fenster beseitigt und dabei teilweise zerstört; ein erhaltenes Stück wurde ins „Altertumskabinet“ im Wächterstübchen auf dem Ödenturm verbracht1, wo es vermutlich dem Brand von 1921 zum Opfer fiel. Im Maßwerk oben in der Mitte ein von einem Engel gehaltener Wappenschild, darunter nebeneinander zwei Wappen mit fragmentarischen Beischriften in Spruchbändern, wiederum darunter drei Kronen. Genaue Ausführung und Maße unbekannt.

Wortlaut nach Klemm.

  1. von bolant[fra](n)crich

Wappen:
Ungarn2, Polen3, Frankreich4.

Kommentar

Nach den Untersuchungen Klemms könnte es sich um die Fragmente einer Dankstiftung des Ulmer Rates für Kaiser Sigmund gehandelt haben, „der den Ulmern den 1396 erfolgten, aber nachher schwer bestrittenen Kauf der Stadt und Umgebung Geislingens von der Herrschaft Helfenstein im Jahr 1417 und 1418 mit den andern Kurfürsten bestätigte“5. Die drei Wappen wies Klemm Sigmunds Frau Maria, der Tochter König Ludwigs von Ungarn und Polen aus dem Hause Anjou zu. Demnach müßten weitere Wappen für den Kaiser selbst mit Beischriften in den benachbarten Fenstern angenommen werden, jedenfalls der Reichsadler und das böhmische Wappen.

Klemms Deutung überzeugt jedoch nicht, vor allem stört die Beischrift unter dem Lilienwappen, die dieses eindeutig als Wappen Frankreichs und nicht als das des Hauses Anjou ausweist. Eher möchte ich an den Teil einer sog. Quaternionenreihe denken, einer Wappenserie, die in ständisch gegliederten Vierergruppen den Aufbau des Hl. Römischen Reichs veranschaulichen sollte. Das Quaternionenschema scheint im Zusammenhang mit der Goldenen Bulle Karls IV. entwickelt worden zu sein6. Die früheste überlieferte, wenn auch nicht mehr erhaltene Serie ist die um 1415 entstandene in der oberen Ratsstube des Frankfurter Römers7. Während die meisten Quaternionenreihen des 15. Jahrhunderts nach dem Kaiser die drei geistlichen und die vier weltlichen Kurfürsten und dann in absteigender Folge die vier Herzöge, Markgrafen, Burggrafen, Landgrafen, Grafen, Freiherren usw. bis zu den vier Städten, Bauern und Dörfern des Reichs aufführten, folgten in der Fankfurter Serie unmittelbar auf den Kaiser und die drei geistlichen Kurfürsten zunächst die vier Könige von Frankreich, Ungarn, Böhmen und Polen. Und ein weiteres Schema, das zwar erst in einem Frühdruck der Goldenen Bulle von 1485 überliefert ist, aber wegen seiner Gliederung wohl ebenfalls noch in den Anfang des 15. Jahrhunderts zurückgehen dürfte, eröffnet die Reihe mit den „fier hohen kunigrych“: „Rome, Franckrych, Polony, Hungern“, danach kommen die vier Herzogtümer, die sieben Kurfürsten, die Markgrafen usw.8. Gerade in den Reichsstädten war die Darstellung des Reichs mittels der Quaternionenmetapher und damit gleichzeitig die Selbstdarstellung als Glied des Reichs beliebt. Im Überlinger Rathaussaal ist die Quaternionenserie von 1492/94 noch erhalten, und vielleicht wird man auch die Figuren vom Ulmer Rathaus in diesen Zusammenhang rücken dürfen9, was die Interpretation der Geislinger Wappenfenster stützen würde. Ich vermute, daß im östlichen Chorfenster oben der Doppeladler des Kaisers abgebildet war, vielleicht zusammen mit dem Reichsadlerwappen und dem böhmischen Löwenschild (als Ergänzung der Dreiergruppe der Königswappen), im südöstlichen Fenster könnten sich die drei Wappen der geistlichen Kurfürsten angeschlossen haben. Stimmt die Annahme, wird man die Fenster nicht zu spät datieren dürfen, da die Gruppe der Königswappen nur in den frühen Quaternionenserien vorzukommen scheint. Für eine Datierung noch in die Zeit des Kirchenbaus spricht auch die altertümliche Form des französischen mit Lilien besäten Wappens, das in der offiziellen französischen Heraldik zu Beginn des 15. Jahrhunderts durch den Schild mit den drei Lilien ersetzt wurde10.

Anmerkungen

  1. Vgl. Klemm, Stadtkirche zu Geislingen. Nachträge 2f. und Kdm Geislingen 58. Es handelte sich dabei um das Lilienwappen.
  2. Weißes Doppelkreuz in Rot.
  3. In verkehrten Tinkturen: roter Adler in Weiß, nach der Beischrift ist keine andere Zuweisung möglich.
  4. Altes Wappen: mit goldenen Lilien besäter blauer Schild.
  5. Klemm, Heraldische Forschungen 1, 44.
  6. Vgl. grundlegend Eduard Ziehen, Das Heilige Römische Reich in seinen Gliedern. Sinnbilder des körperschaftlichen Reichsgedankens 1400–1800, in: Archiv f. Frankfurts Gesch. u. Kunst 48 (1962) 5–44; zuletzt zusammenfassend Rainer A. Müller, „Quaternionenlehre“ und Reichsstädte, in: Reichsstädte in Franken. Aufsätze 1: Verfassung und Verwaltung (Veröff. zur bayer. Gesch. und Kultur 15,1), München 1987, 78–97.
  7. Vgl. Konrad Bund, Findbuch der Epitaphienbücher (1238)–1928 und der Wappenbücher (1190)–1801. Mit einem Bildanhang u. a. der vollständigen farbigen Nachzeichnungen der ehemaligen Malereien im Römer aus dem sog. Fetterschen Wappenbuch (Stadtarchiv Frankfurt am Main, Repertorien 545=Mitt. aus dem Frankfurter Stadtarchiv 6), Frankfurt am Main 1987, 26 u. 113–147 Abb. 60–93, bes. Abb. 64, 65, 67.
  8. Vgl. Müller, „Quaternionenlehre“ (wie Anm. 6) 79.
  9. An der Südseite die drei weltlichen (ohne Böhmen) und die drei geistlichen Kurfürsten, auf der Ostseite der Kaiser, flankiert von vier Schildhaltern: Eindeutig sind die Wappen von Ungarn und Böhmen, das Adlerwappen steht für den römischen König, könnte aber möglicherweise ursprünglich nicht als Reichsadler (schwarz in Gold), sondern als Wappen von Polen tingiert gewesen sein, der vierte Schild (gespalten, vorn mit Lilien besät, hinten ein halber Adler am Spalt), eigentlich das apokryphe Wappen Karls des Großen, dürfte hier für Frankreich=Frankenreich stehen. Auch diese Wappenserie versucht Klemm, Heraldische Forschungen 1, 42f. auf Kaiser Sigmund und Maria von Anjou zu deuten.
  10. Daß Sigmund erst 1433 zum Kaiser gekrönt wurde, es um 1425 mithin keinen Kaiser gab, spricht nicht gegen den Rekonstruktionsversuch, wie das Frankfurter Beispiel von 1415 beweist.

Nachweise

  1. Klemm, Die Stadtkirche zu Geislingen (1876) 64.
  2. Ders., Die Stadtkirche von Geislingen (1878) 113f.
  3. Ders., Stadtkirche. Vortrag 22f.
  4. Ders., Stadtkirche zu Geislingen. Nachträge 3.
  5. Kdm Geislingen 693f.
  6. Burkhardt, Geschichte der Stadt Geislingen I 142f.
  7. CVMA Schwaben 2, 351.

Zitierhinweis:
DI 41, Göppingen, Nr. 44† (Harald Drös), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di041h012k0004407.