Die Inschriften des Landkreises Göppingen
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 41: Göppingen (1996)
Nr. 39 Zell unter Aichelberg, ev. Pfarrkirche (St. Martin) 1421 (?)
Beschreibung
Wandmalereien. Innen an der Nordwand und an den drei Wänden des Dreiachtelchorschlusses. 1907 und 1963 freigelegt1. Teils al fresco, teils al secco. Geschlossene Bildfolge, die Einzelbilder durch mit Wellenbändern belegte schmale Rahmenleisten voneinander abgegrenzt; als oberer Abschluß (zur früher niedriger liegenden Decke) ein bunter Diamantfries. I. Fragmente eines großflächigen, in zwei Register gegliederten Weltgerichts an der Nordwand. II. Links darunter Einzelbild der hl. Veronika mit Schweißtuch2. Rechts an das Weltgerichtsbild schließen sich drei Bilderzyklen in drei übereinander angeordneten Bildstreifen an, jeweils mit einem Bild links vom Fenster beginnend und sich rechts davon an den Chorschlußwänden und an der Südwand fortsetzend3: III. In der oberen Reihe Kindheit Jesu; erstes Bild: Verkündigung Mariae, der Engel und Maria mit Spruchbändern (A, B); übrige Bilder (bis zur Flucht nach Ägypten) ohne Inschriften. IV. In der mittleren Reihe Leidensgeschichte von der Ölbergszene bis zur Grablegung, ohne Inschriften. Auf dem Rahmenstreifen unter den beiden Bildern der Nordostwand (Dornenkrönung, Verspottung) Fertigungsinschrift (C). V. In der unteren Reihe Apostelmartyrien (stark ergänzt), jeweils – bis auf das zweite und dritte Bild an der Nordostwand4 – mit Beischriften in der oberen Rahmenleiste: 1. Johannes Evang. im Kessel (D); 2. unkenntlich; 3. Thomas wird von einem Spieß durchbohrt; 4. Jakobus d. J. wird mit einer Keule erschlagen (E); 5. Jakobus d. Ä. wird geköpft (F); Philippus am Kreuz (G); 7. Andreas am Schrägkreuz (H). Die Beischriften (E) und (F) sowie (G) und (H) sind jeweils vertauscht. Inschriften (A, B) bei der Restaurierung nicht immer richtig ergänzt, Inschrift (C) stellenweise stark verblaßt.
Maße: B. (drei Bilderzyklen, erhaltener Teil) 1175, H. 350, Bu. 3,2 (A, B), 4,0 cm (C–H).
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versal.
- A
·a) ave · graciab) · plena · dominvs · tecum ·····c)5)
- B
·a) ecce · ancilla · d(omi)ni · fy[at]d) · michi · secundum · verbum · twme) ·a)6)
- C
ḍịs · ẉarḍ · gemạḷṭf) · da · man · Zaltg) · von · cristush) · geburrti) [·] M · c°·c°·c°·c° · iaụṛ · [v]ṇd · [. . . . . .]k) · xxi · i ị[. . . . .]ịe · sancti · ioh[annis]l) p̣ap̣ṭistem) ·a)
- D
· s(anctus) · iohannes ·
- E
· s(anctus) · iacobus · mai[or]n) ·
- F
· s(anctus) · iacobus · min[oro) ·]
- G
· s(anctus) · andreas ·
- H
· s(anctus) · pfilipus ·
Übersetzung:
Sei gegrüßt, Gnadenreiche, der Herr ist mit dir. – Sieh, ich bin die Magd des Herrn. Es geschehe mir nach deinem Wort.
Textkritischer Apparat
- Vier rautenweise angeordnete Quadrangeln.
- Befund bei ra gestört, da bei der Restaurierung die dünnen Abstriche von g und r in Hastenstärke nachgezogen wurden.
- Im Wechsel vier rautenweise angeordnete Quadrangeln und ein Quadrangel in halber Zeilenhöhe.
- Derzeitiger Befund nach falscher Restaurierung: fyui.
- So für tuum.
- Bis hierher ist die Inschrift fast völlig verblaßt, Buchstabenreste sichern jedoch die Lesung weitgehend.
- Z-Versal mit kurzem schräggestelltem Mittelbalken, möglicherweise erst Ergebnis der Restaurierung, der auch die Umwandlung des a in die einstöckige Form anzulasten ist.
- Sic!
- Starker Eingriff des Restaurators mit Verfälschung der Buchstabenformen von bu. Da dem t der sonst übliche charakteristische lange Abstrich fehlt, wäre zu erwägen, ob das zweite r, das eben diesen Abstrich aufweist, ursprünglich ein t war, seine Reste vom Restaurator aber aus Unkenntnis in ein r abgeändert wurden. Das zusätzliche t wäre demnach zu tilgen: geburt.
- Jetziger Befund: […]sui; wegen des „runden“ s in der Wortmitte so mit Sicherheit nicht ursprünglich, sondern Eingriff des Restaurators, ebenso die beiden folgenden „Worttrenner“, die von den übrigen deutlich in der Form abweichen. Dem verfügbaren Platz und den Resten der ursprünglichen Fassung entsprechend ist vielleicht darzue · o. ä. zu lesen.
- Befund: iohanns; die Form des s sicherlich nicht ursprünglich, zumal der Zwischenraum zum folgenden Wort fehlt. Auch die Buchstabenfolge ann dürfte „Ergänzung“ des Restaurators sein. In der ursprünglichen Fassung war der Heiligenname offenbar gekürzt, etwa: ioha(nn)is?
- So der Befund nach der Restaurierung; sicherer ursprünglicher Bestand sind wohl nur das a und das Wortende iste. Bei dem Grad der Textverfälschung durch die Restaurierung ist auch die Lesung [eu]a(n)[gel]iste nicht ganz auszuschließen. In diesem Falle müßte der vorangehende Heiligenname stärker gekürzt gewesen sein: ioh(ann)is. Hummels Urteil (Wandmalereien Kr. Göppingen 58), es sei „ganz sicher, daß die Datumzeile am Fest des hl. Johannes des Täufers, also am 24. Juni, angebracht wurde“, halte ich für voreilig – ganz abgesehen davon, daß das Wort vor sancti nicht unbedingt den Tag selbst, sondern etwa den Vortag o. ä. bezeichnet haben könnte.
- Befund nach „Restaurierung“: maius; der deutlich erkennbare weit unter die Grundlinie gezogene Abstrich am letzten Buchstaben sichert die ursprüngliche Lesung als r.
- Befund: minus; letzter Buchstabe jedoch der Form nach erst Ergebnis der Restaurierung, daher ist vermutlich – in Analogie zu Inschrift (E) – auch eine Abänderung des o in ein u anzunehmen.
Anmerkungen
- Vgl. Binder/Daxer (wie unten) 14f. und Hummel, Wandmalereien Kr. Göppingen 122.
- Rechts unter der Darstellung des Höllenrachens wurde bei der Restaurierung 1963 eine moderne Inschrift in ungeschickt ausgeführter „gotischer Minuskel“ angebracht mit Angaben zur Ersterwähnung des Orts, zur Baugeschichte der Kirche und zur Einführung der Reformation; dazu die falsche Angabe: Die Wandmalereien sind im Jahre 1400 ent=/standen ·.
- Bilder der Südwand nicht erhalten.
- Dort nimmt die erwähnte Fertigungsinschrift den Platz ein.
- Lc 1, 28.
- Lc 1, 38.
- Nach xx ist nach jetzigem Befund i zu lesen. Der Erwägung Hummels, Wandmalereien Kr. Göppingen 58 u. 122, die Haste könne der Rest eines x sein und die beiden dem Worttrenner folgenden Hasten könnten die Einerzahlen bezeichnen (nur so ist die von ihm alternativ vorgeschlagene Jahresangabe 1432 zu erklären), ist nach dem Befund nicht beizupflichten. Das folgende i wird als i(n) mit verlorenem Kürzungsstrich zu lesen und zur folgenden Tagesangabe zu ziehen sein.
- Die dargestellte Marterszene kommt in der Bezeichnung des Heiligentages S. Johannis in dolio bzw. in oleo (6. Mai) anschaulich zum Ausdruck.
- LdBW III 288.
- Vgl. Binder/Daxer (wie unten) 5.
Nachweise
- Kdm Kirchheim 237 (nur Inschrift C). Abb. 309.
- Akermann, Frühe kirchl. Wandmalereien 53 (nur Inschrift C).
- Gisela Uebele, Symbolik der Fresken in Zell unter Aichelberg. Farben und Formen der Wandmalereien von 1400, in: Alt-Württemberg 11 (1965) Nr. 9/10 (nur Wortlaut von A u. B).
- Dies., Die Fresken der Martinskirche in Zell unter Aichelberg, o. O. o. J. (masch. Exemplar im StadtA Göppingen, Sign. B 236; Kopie im KrAG, Sign. 4820) 40, 46, 54.
- Adolf G. Binder/Heinrich Daxer, Martinskirche Zell u.A. Ein Führer durch die Ev. Martinskirche Zell (Aichelberg) mit Beschreibung der Fresken aus dem 14. Jahrhundert, Zell. o. J. [um 1978] 14–31 (m. Abb.).
- Hummel, Wandmalereien Kr. Göppingen 58, 122f., Abb. 28–31.
Zitierhinweis:
DI 41, Göppingen, Nr. 39 (Harald Drös), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di041h012k0003903.
Kommentar
Der schlechte Zustand der Inschriften, zudem die Unsicherheit darüber, in welchem Maße die „Restaurierungen“ den ursprünglichen Befund verfälscht haben, erschweren eine Beurteilung der Schriftformen. Bemerkenswert sind die langen, unter die Grundlinie reichenden und dort nach rechts umgebogenen Abstriche am rechten Fortsatz des g, an der Fahne des r und am Balken des t. Als Tausender-Zahlzeichen ist ein breites symmetrisches unziales M mit kräftiger Bogenschwellung und durchstrichener Mittelhaste verwendet, dessen Abschlußstrich sich beiderseits zu riesigen auf der Grundlinie liegenden Dreiecken erweitert. Die Datumsangabe in Inschrift (C) ist nicht mehr einwandfrei zu rekonstruieren, doch scheint die Zahl xxi als Minderzahl zur Jahresangabe zu gehören7. Das Tagesdatum bleibt ganz unsicher, es war aber offensichtlich ganz in latainischer Sprache an die deutschsprachige Jahresangabe angefügt. Jedenfalls war ein Johannestag bezeichnet. Ob es sich dabei um Johannes d. Täufer oder den Evangelisten handelt, läßt der Befund nach der Restaurierung nicht mehr eindeutig erkennen. Die Tatsache, daß die Marter Johannis des Evangelisten die Reihe der Apostelbilder eröffnet, hilft bei der Entscheidung hier wohl nicht weiter8.
Die Zeller Pfarrkirche ist 1275 erstmals urkundlich bezeugt, für 1386 ist das Martinspatrozinium belegt9. Der spätgotische Bau aus dieser Zeit steht an der Stelle eines durch ergrabene Fundamentreste nachgewiesenen Wehrkirchleins, das dem Ortsnamen nach vielleicht zu einem (als Filial von Faurndau entstandenen?) Kleinkloster gehörte10. Im Spätmittelalter war die Kirche dem Kloster Adelberg inkorporiert.
Die Wandmalereien im nahen Gruibingen (nr. 37) stehen jenen in Zell in Aufbau und Stil sowie in der Art der Plazierung und im Wortlaut der inschriftlichen Datierung so nah, daß man dieselbe Hand vermuten darf. Die völlig gleichartige Ausführung der gotischen Minuskel, die in Gruibingen weit weniger durch restauratorische Eingriffe beeinträchtigt ist, stützt diese Annahme.