Die Inschriften des Landkreises Göppingen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 41: Göppingen (1996)

Nr. 230 Boll, ev. Pfarrkirche (ehem. Stiftskirche St. Cyriakus) 1531

Beschreibung

Totenschild eines „Grafen von Ravenstein“, Ehemanns der Berta (von Boll). Innen an der Westwand des südlichen Seitenschiffs. Runde Holztafel, bemalt. Von Kordelleisten eingefaßter Rahmen mit Girlandenfüllung, im oberen Drittel mit Umschrift (A), unten in der Mitte ein geflügelter, von einem Schriftband (B) umschlungener Zierknauf; im Feld ein Vollwappen, dessen Helmzier in die Umschrift ragt und diese unterbricht; in den mit Eicheln und Waldfrüchten umrankten gezaddelten Helmdecken sitzen sechs spielende Putten. Vermutlich restauriert.

Maße: Dm. 76, Bu. 2,2 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Frakturversalien.

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/1]

  1. A

    Der grafen von Rafenstain alt // Wapen · fro · berchten · Der · ain · Man · (et)c(etera)a)

  2. B

    15 31

Wappen:
Kleve-Ravenstein1.

Kommentar

Die sagenhafte Gestalt der „heiligen“ Berta von Boll wird nach jüngeren Forschungen2 – wohl zu Unrecht – für eine bislang unbekannte Tochter des Herzogs Friedrich von Staufen und somit für eine Schwester König Konrads III. gehalten. Nach der Sage habe sie aus den Steinen ihrer nahegelegenen Burg „Lanndseer“ (Landsöhr, Bergnase des Kornbergs südöstlich von Boll, sog. „Bertaburg“) die Boller Stiftskirche erbauen lassen. Dreimal sei sie verheiratet gewesen: mit Graf Hans von Ravenstein, Graf Albrecht von Klingenstein und Graf Heinrich von Irrenberg3. Zwei der Genannten versucht Bühler zu identifizieren. Demnach war Berta in erster Ehe (um 1104) verheiratet mit dem Grafen Adalbert von Elchingen-Stubersheim-Ravenstein (=Ravenstein bei Steinenkirch), mit dem zusammen sie das Kloster Elchingen gründete. Adalbert soll um 1120 gestorben sein4. Danach heiratete Berta vielleicht Graf Heinrich II. von Berg5. Aus Quellen des 16. Jahrhunderts läßt sich vorsichtig erschließen, daß Berta von Boll das Boller Cyriakuskloster in ein Chorherrenstift umgewandelt hat, vielleicht auch für die entsprechende Umwandlung des Faurndauer Benediktinerklosters verantwortlich war und drei weitere Kirchen gestiftet hat6. Sie liegt in der Boller Stiftskirche begraben.

Die vorliegende Erinnerungstafel – ohne Sterbeinschrift und Sterbedaten eigentlich kein Totenschild im strengen Sinne – ist zusammen mit einem weiteren erhaltenen, etwas älteren, aber zu diesem Zweck umfunktionierten Schild (nr. 170) ein Zeugnis dafür, daß Berta noch im 16. Jahrhundert als Stifterin im Gedächtnis war. Anlage, Stil und Inhalt der Wappendarstellung7 und des Ornaments sprechen freilich ebenso wie das ungewöhnlich knappe und unpräzise „Formular“ dagegen, daß ein älterer Totenschild als Vorlage diente oder gar nur überarbeitet und „renoviert“ wurde. Die Angaben der Inschrift schöpfen ihre Informationen vermutlich aus derselben (mündlichen?) Überlieferung, auf der die sagenhaften Berichte des 16. Jahrhunderts beruhen. Es geht auf keinen Fall an, die Tafeln als „renovierte“ Zeugnisse des 12. Jahrhunderts und somit als eigenständige Quellen für die genealogischen Zusammenhänge um Berta von Boll heranzuziehen8. Welche Rolle die beiden „Totenschilde“ eventuell selbst bei der Begründung und Ausschmückung der Bertalegende, besonders bei der Benennung von Bertas Ehemännern nach Ravenstein und Irrenberg, gespielt haben, kann hier nicht untersucht werden, wäre gleichwohl aber weitere Forschungen wert9. Jedenfalls sind sie Dokumente eines offenbar im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts intensivierten Stiftergedenkens in Boll. Dazu paßt, daß aus dieser Zeit erste schriftliche Zeugnisse eines „Bertakults“ vorliegen10.

Textkritischer Apparat

  1. c der gotischen Minuskel mit an den Balken angehängtem Suspensionskürzungszeichen: Schleife mit s-förmigem, zum Schwellzug verstärktem Abschwung.

Anmerkungen

  1. Quadriert von Kleve und Mark mit Mittelschild, dieser quadriert von Neu-Burgund und Alt-Burgund und mit Herzschild Brabant (statt Flandern!) belegt; Helmzier Kleve-Mark: Rinderkopf mit in 3 Reihen geschachtem Stirnreif (statt Krone!). Die Wappenzusammenstellung beruht auf mehreren Mißverständnissen. Zum einen liegt eine Verwechslung der schwäbischen „Grafen“ von Ravenstein mit der niederrheinisch-brabantischen Herrschaft Ravenstein (Provinz Nordbrabant, Niederlande) vor. Das Wappen der schwäbischen Ravensteiner ist wohl nicht bekannt; Berenger von Ravenstein mit Wappensiegel von 1214 (geteilt, oben ein Rabe, unten 3 Zickzackbalken) gehört vermutlich zu einer fränkischen Edelfreienfamilie, vgl. Alberti 617f. Zum anderen handelt es sich bei dem dargestellten Wappen auch nicht um das korrekte Wappen der niederrheinischen Ravensteiner, weder um das Stammwappen der alten, ausgestorbenen Familie noch um das 1531 gültige Wappen des damaligen Besitzers von Ravenstein, Johanns III. Herzogs von Jülich-Kleve-Berg Grafen von Mark und Ravensberg († 1539). Das alte Ravensteiner Wappen ist aus frühen Überlieferungen nicht nachweisbar und wurde von den späteren Erben der Herrschaft m. W. auch nicht geführt. Lediglich der Sohn Johanns III., Herzog Wilhelm V. der Reiche, führte kurzfristig (auf einem Gnadenpfennig 1600) einen 7feldigen Schild mit Adlerwappen im siebten Feld, das für die Herrschaft Ravenstein stehen könnte; vgl. Harald Drös, Heidelberger Wappenbuch. Wappen an Gebäuden und Grabmälern auf dem Heidelberger Schloß, in der Altstadt und in Handschuhsheim (Buchreihe d. Stadt Heidelberg 2), Heidelberg 1991, 390 Anm. 147. Johann III. führte dagegen nur die fünf Wappen von Jülich, Kleve, Berg, Mark und Ravensberg nebeneinander oder in einem Schild kombiniert. Beabsichtigt war in Boll offenbar die Darstellung des Wappens, das eine Nebenlinie des kleveschen Herzogshauses führte, die sich nach der Herrschaft Ravenstein nannte: Adolf von Kleve und von der Mark († 1491), jüngerer Sohn Herzog Adolfs I. von Kleve und der Maria von Burgund, stiftete die Linie zu Ravenstein und Wynnendael, die bereits mit seinem Sohn Philipp 1528 wieder erlosch. Für Adolf und Philipp ist in Handschriften das quadrierte kleve-märkische Wappen mit Mittel- und Herzschild wie auf dem Boller Totenschild belegt, freilich stets mit dem flandrischen Löwen (schwarz in Gold) statt dem Brabanter (golden in Schwarz) im Herzschild; vgl. Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich, Kleve, Berg. Städtisches Museum Haus Koekkoek Kleve 15. Sept.–11. Nov. 1984; Stadtmuseum Düsseldorf 25. Nov. 1984–24. Febr. 1985, Kleve 21984, 240 Abb. 8 (Stundenbuch Philipps von Kleve, vor 1485, Brüssel, Bibl. Royale, Ms. IV. 40, fol. 121v), 241 Abb. 9 (Jean Molinet, Roman de la Rose, um 1500, Den Haag, Koninklijke Bibl., Ms 128 C5), 370f. nr. D37 (Statuts et Armorial de la Toison d’Or, 1468, Den Haag, Koninklijke Bibl., Ms 76 E10, fol. 66). Zur Unterscheidung von der herzoglichen Hauptlinie hatten die Ravensteiner also das gesamte valois-burgundische Wappen ihrer Mutter bzw. Großmutter ihren Stammwappen hinzugefügt. Auf dem Boller Totenschild sind mithin die Tinkturen des Herzschilds versehentlich vertauscht worden.
  2. Von Horst Gaiser (unveröff.) und Heinz Bühler; vgl. Heinz Bühler, Schwäbische Pfalzgrafen, frühe Staufer und ihre Sippengenossen, in: Jb. d. Hist. Vereins Dillingen an der Donau 77 (1975) 118–156, bes. 127–131; ders., Zur Geschichte der frühen Staufer 31–35; zusammenfassend Kettenmann, Sagen 50 u. Walter Ziegler in: Der Kreis Göppingen 21985, 94. Die Stichhaltigkeit der Argumentation zu beurteilen, ist hier nicht der Ort, zumal die Ergebnisse der genealogisch-besitzgeschichtlichen Untersuchungen nicht die Bewertung der Inschrift betreffen. Herrn Dr. Klaus Graf, Winningen, verdanke ich den mündl. Hinweis auf die Ergebnisse seiner jüngsten Forschungen, nach denen die staufische Abstammung Bertas von Boll wohl kaum mehr zu halten sein wird. Vgl. auch seine kritischen Bemerkungen zur genealogischen Literatur der letzten Jahre: Klaus Graf, Staufer-Überlieferungen aus Kloster Lorch, in: Von Schwaben bis Jerusalem. Facetten staufischer Geschichte, hg. v. Sönke Lorenz u. Ulrich Schmidt (Veröff. d. Alemannischen Instituts 61), Sigmaringen 1995, 209–240.
  3. Vgl. Kettenmann, Sagen 48 (m. weiterer Lit.).
  4. Bühler, Pfalzgrafen (wie Anm. 2) 130, 137.
  5. Vgl. Heinz Bühler, Richinza von Spitzenberg und ihr Verwandtenkreis. Ein Beitrag zur Geschichte der Grafen von Helfenstein, in: Württ. Franken 58 (1974) 303–326, hier: 317. Nach Kettenmann, Sagen 50 starb Heinrich 1138 in Zwiefalten. Da Heinrich in der Zwiefalter Chronik Ortliebs, die „spätestens anfangs 1137 abgeschlossen“ war (vgl. ed. König/Müller, 3*), bereits als verstorben erwähnt wird (S. 92), ist sein Todesjahr auf „vor 1137“ zu präzisieren. Immo Eberl, Die Grafen von Berg, ihr Herrschaftsbereich und dessen adelige Familien, in: Ulm und Oberschwaben 44 (1982) 29–171, hier: 35, verlegt den Tod Heinrichs vor den 12. Juli 1127, da zu diesem Zeitpunkt dessen Bruder Diepold als Graf erwähnt wird. Die Argumentation ist jedoch nicht zwingend. Die Zimmerische Chronik, urkundlich berichtet von Graf Froben Christof von Zimmern † 1567 und seinem Schreiber Johannes Müller † 1600, nach der v. Karl Barack besorgten 2. Ausg. neu hg. v. Paul Herrmann, Bd. 3, Meersburg am Bodensee Leipzig 1932, 200–202 bezeichnet Heinrich als „Grave … von Aichelberg“. Nach Bühler, Richinza von Spitzenberg 314–318 sei die Zubenennung nach Aichelberg (erst 1193/94 urk. bezeugt) „wohl antizipiert“, deute aber auf die korrekte Erfassung verwandtschaftlicher Zusammenhänge zwischen Graf Heinrich und den Grafen von (Körsch-)Aichelberg noch im 16. Jahrhundert. Indiz für die Abstammung der Grafen von Aichelberg von den Grafen von Berg ist im übrigen auch die – in dieser Hinsicht m. W. bislang nicht herangezogene – Grabplatte des Grafen Konrad von Aichelberg († 1406) in Pisa (Abb. im Dt. Herold 44 (1913), Beil. zu Nr. 11), auf der das Bergsche Stammwappen (2 Schrägbalken) und das Aichelberger Wappen (Freiviertel) in einem Schild vereinigt sind.
  6. Walter Ziegler in: Der Kreis Göppingen 21985, 94.
  7. Vgl. Anm. 1.
  8. So Kettenmann, Sagen 50; Illig, Geschichte von Göppingen u. Umgebung I 58, 66; auch: Claus Anshof, „De Bolo – de Gamelhusen“ – Pilger aus dem Kreis Göppingen in Trier, in: Hohenstaufen 10 (1977) 127–135, hier: 129.
  9. Auffällig ist immerhin, daß die Schreibweise Irzenberg o. ä. statt Irrenberg für einen der Ehemänner Bertas erst ab der Mitte des 16. Jahrhunderts aufkommt und somit vielleicht von der Fehllesung der Boller Inschrift nr. 170 (vgl. dort Anm. b) herrührt; vgl. Gaspar Bruschius, Monasteriorum Germaniae Praecipuorum ac maxime illustrium: Centuria prima, Ingolstadii 1551, fol. 46r: „Albertus … Comes de Rauenstein et Irczenberg (cuius uxor Bertha Comitissa de Rauenstein, sancta habetur …)“. Träfe diese Vermutung zu, erübrigten sich alle weiteren Versuche, dieses Irzenberg/„Hirschberg“/ „Hirschburg“ näher zu lokalisieren (vgl. Raiser, Die vorige Bendictiner-Reichs-Abtey Elchingen in Schwaben, in: Zs. für Baiern u. die angränzenden Länder 2 (1917) Bd. 1, 129–366, hier: 258, 339; Beschreibung des Oberamts Blaubeuren, hg. v. Menninger, Stuttgart Tübingen 1830, ND Magstadt 1976, 145). Vor diesem Hintergrund darf man vielleicht sogar spekulieren, ob das Eindringen des dritten angeblichen Ehemanns der Berta mit dem Namen Albrecht „von Klingenstein“ in die Bertalegende auf einen weiteren – heute verlorenen – Totenschild oder ein vergleichbares Erinnerungsmal für einen Gleichnamigen in der Boller Stiftskirche zurückzuführen sein könnte. Immerhin ist 1363 ein Albrecht von Klingenstein (Wappen: Balken, belegt mit 6strahligem Stern) urk. nachweisbar, vgl. Alberti 408; konkrete Anhaltspunkte für eine Verbindung zu Boll gibt es freilich nicht. OAB Göppingen 166: „Die in der Kirche noch vorhandenen Wappenschilde der drei Grafen …“ ist wohl ein Versehen, Bauhin und Gabelkover berichten jedenfalls einhellig nur von zwei Schilden.
  10. 1503 der Eintrag eines Jahrtags für Berta und Graf Heinrich mit Brotspeisung im Meßbuch der unteren Kirche St. Maria zu Tomerdingen, vgl. Bühler, Zur Geschichte der frühen Staufer 43 Anm. 145. Im Lagerbuch der Stiftsverwaltung von Oberhofen (OAB Göppingen 166) und in einem Bericht der Gemeinde Boll von 1560 (ebd. u. Kettenmann, Sagen 50) wird eine im Seelbuch des Stifts Boll zum 27. August verzeichnete Almosenstiftung erwähnt, aufgrund derer jährlich „vff Fraw Berchta Mal“ bzw. „an St. Berchta Tag“ Brot an Arme verteilt und ein Essen an Stiftspropst und Kanoniker ausgegeben wurde. Erstmals als Heilige wird Berta in einem Bericht des Göppinger Vogts von 1535 bezeichnet (HStAS, A 510 Bü. 7, vgl. OAB Göppingen 165f.).

Nachweise

  1. Bauhinus 25.
  2. Gabelkover (WLB, Cod. hist. F 22) fol. 83v.
  3. OAB Göppingen 166.
  4. Kdm Göppingen 74.
  5. Illig, Geschichte von Göppingen u. Umgebung I 66.
  6. Mayer, Ortsgeschichte von Boll 58.
  7. Kirschmer/Ziegler, Faurndau 27 (Abb.).
  8. Bühler, Zur Geschichte der frühen Staufer, Abb. 6.
  9. Schäfer, Romanische Kirche 82 (m. Abb.).
  10. Boll. Dorf und Bad 230.
  11. Kettenmann, Sagen 49f., Abb. 11.
  12. Rapp 8.
  13. Bad Boll. Geschichte und Gegenwart 36 (Abb.).

Zitierhinweis:
DI 41, Göppingen, Nr. 230 (Harald Drös), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di041h012k0023003.