Die Inschriften des Landkreises Göppingen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 41: Göppingen (1996)

Nr. 196 Geislingen an der Steige, ev. Stadtkirche (U. L. Frau) 1512

Beschreibung

Chorgestühl mit eingeschnitzten Inschriften, aus der Werkstatt Jörg Syrlins d. J. An der Nord- und an der Südwand des Chores. Eichenholz. Zweireihiges Gestühl mit je zwei Aufgängen zur oberen Reihe; die Rückwände der oberen Reihe in Felder gegliedert, deren oberen Abschluß aufgelegte laubwerkverzierte geschnitzte Baldachine bilden. Im linken Stallum der Nordseite oben die Meisterinschrift (A), gegenüber im rechten Stallum der Südseite im oberen Drittel 9zeiliger Schriftblock (B); die Pultwangen jeweils an der Ost- und an der Westseite sowie beiderseits der je zwei Aufgänge mit geschnitzten Prophetenbüsten geschmückt, unter diesen jeweils – außer an der östlichen Pultwange der Südseite – eine stabwerkgerahmte 3zeilige Inschrift (C, Reihenfolge: Nordwand von Ost nach West; Südwand von Ost nach West). Erhaltung insgesamt gut; alle Inschriften mit spitzer Kerbe eingeschnitzt, Inschriften (A) und (B) mit dunkler Farbe nachgezogen.

Maße: H. (Rückwandfeld) 155, B. 68,5, H. (Pultwangen) 104, B. 58, H. (Pultwangen-Schriftfeld) 25, B. 48, Bu. 3,3 (A), 2,5 (B), 2,0 cm (C).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien (A), Gotico-Humanistica mit Versalien (B, C).

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/15]

  1. A

    Joerga) sürlin Zuob) Vlm 1512

  2. B

    Quindecies centum Et bis sex descripserat an(n)os /Phoebus · Vt p(ro)diderat virgo tenella deum · /Tunc Bifidi Juris doctor Georgius oszwaldt· /Sedulus in Gisling Pauit ouile dei1) · /Et fuit ex Hirnau · Gualter(us) Praetor ho(n)estus · /Tunc Q(u)oc) Burckardus Senft ibi Quaestor erat · / Ecce opus hoc Seurlin mira Georgi(us) arte · /Tunc struit Et Numeros Myllius hos cecinit. / ·: Quae nimis obsunt :·d)

  3. C

    Ezechiel · xxxiiij /Errantes ceu Pastor oues co(n)quirere gestit. /Sic ego quero a(n)i(m)as · visito · Pasco. Beo.

    Baruthe) · S(e)c(un)dof). /Hic deus est et no(n) alius qui ca(r)ne retectus /Humana atq(ue) inter viuit et est homines,

    Hieremias · xxiij · /Germine Dauidis (· deus inq(ui)tg) ·)h) suscito Regem /qui reget · Et sapie(n)s · Et bene iustus erit,

    · Micheas · vij · ca(pitul)oi) · /Tu deus et tibi nil simile est qui crimina tollis. /Non vltra irascens. Es miserator enim.

    · Oseas sexto · /Optat(us) velut Jmber adest subnoctek) silentj2). /Atq(ue) aurora velut mane, deus veniet.

    · Zacharias xij · /Vt deflet mat(er) p(r)imil) du(m) funera gnati /Tractat. deflebor sic Crucifixus ego.

    Malachias Tercio · /Ecce deus sabaoth ve(n)iet quis nouerit horam. /Jpsius aduentus · quis vel adibit eum?

    · Jonas· S(e)c(un)do · /Qui scelus insequitur. qui crimine voluitur atro. /Nequicq(uam) domini graciam abirem) cupit.

    Salomon · Ecc(les)j(astes)n) · xx · /Si magno seruire Joui cupis · o(mn)ia prude(n)s. /Suffer. eum metuas. dilige semper ama ·

    Terra velut guttas. Ceu vell(us) suscipit Jmbrem· /Virginis in ventremk) · Sic deus ipse cadet. /Dauid Psalmo. lxxj:

    · Esaias viiij · ca(pitul)oi) · /Filius aeo) celo nobis delabitur alto. /qui feret Jmperij Pondera grata sui ·

Übersetzung:

Fünfzehnhundert und zweimal sechs Jahre hatte die Sonne beschrieben, seit die zarte Jungfrau Gott geboren hatte. Georg Oßwaldt, Doktor beider Rechte, hat damals in Geislingen eifrig die Herde Gottes gehütet. Vogt ist gewesen der ehrenfeste Herr Walter von Hirnheim, seinerzeit als Burkhard Senft dort Pfleger war. Sieh, dieses Werk von erstaunlicher Kunst hat Jörg Syrlin errichtet, Miller hat dann dazu diese Verse verfaßt. Was zuviel ist, schadet.

Nach Ez 34, 12–15: Gleich wie der Hirt die verirrten Schafe zu suchen bemüht ist, so spür’ den Seelen ich nach, nähr’ sie und geb’ ihnen Glück. – Nach Bar 3, 36–38: Dieser ist Gott und kein andrer, der wandelt und lebt unter Menschen, ungeschützt in menschlichem Fleisch. – Nach Ier 23, 5: Aus Davids Stamm, spricht Gott, laß ich einst einen König erstehen, herrschen wird er und weise und sehr gerecht sein. Nach Mich 7, 18: Du bist Gott, und nichts kommt Dir gleich, der Du aufhebst die Sünden, bist nicht länger erzürnt, denn Du hast Mitleid mit uns. – Nach Os 6, 3–4: Wie ein ersehnter Regen in stiller Nacht endlich eintrifft, wie auch Aurora, wenn’s tagt, so wird einst kommen der Herr. – Nach Zach 12, 10: Wie eine Mutter weint, die den Erstgebornen beerdigt, so wird man einst weinen um mich, wenn ich gekreuzigt bin. – Nach Mal 3, 1–2: Sieh, es wird kommen Gott Zebaoth. Wer weiß schon die Stunde seiner Ankunft voraus? Und wer wird zu ihm gelangen? – Nach Ion 2, 9: Wer dem Verbrechen frönt und finsterem Frevel sich hingibt, der will die Gnade des Herrn keinesfalls erreichen. – Nach Eccl 20: Willst du dem großen Gott dienen, mußt klug du alles erdulden. Ihm begegnen mit Furcht, achte und liebe ihn stets. – Nach Ps 71, 6: Gleich wie die Erde die Tropfen, wie das Schaffell den Regen aufnimmt, so wird einst Gott selbst in den Schoß der Jungfrau fallen. – Nach Is 9, 6: Hoch vom Himmel herab wird der Sohn zu uns herabkommen, er wird die Bürde seiner Herrschaft gerne tragen.

Versmaß: Elegische Distichen.

Kommentar

Georg Oßwaldt war zunächst Kaplan, dann von 1508/09 bis 1531 Pfarrer in Geislingen, wo er als letzter katholischer Pfarrer heftig gegen die Durchführung der Reformation eintrat. Er ist wohl 1542 als Leutpriester in Überlingen gestorben3. Walter von Hirnheim-Niederhaus-Haheltingen4 war von 1505 bis 1512 ulmischer Vogt in Geislingen. Die von Hirnheim besaßen im Bearbeitungsgebiet 1528–58 den Ort Rechberghausen5. Burkhard Senft von Sulburg amtierte 1505–14 als Geislinger Pfleger6. Myllius, der Verfasser der Verse, wird erstmals von Klemm7 mit Martin Miller identifiziert, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts in das Ulmer Wengenkloster eintrat, dann 1511 nach Wien reiste und 1521 gestorben ist.

Die Meistersignatur Jörg Syrlins ist in den strengen Formen der gotischen Minuskel eingeschnitten. Das Schriftbild wird freilich durch die breit ausladenden Versalien aufgelockert. Die Versinschriften an Dorsale und Seitenwangen sind dagegen in einer Mischschrift ausgeführt, die noch der gotischen Minuskel in den Proportionen und in einzelnen Buchstabenformen verhaftet ist, die aber deutliche Einflüsse sowohl humanistischer Minuskelschriften als auch gotischer Halbkursiven und Bastarden zeigt. Die Schrift ist der Gotico-Antiqua verwandt, läßt sich dieser aufgrund ihrer Formenvielfalt jedoch nur bedingt zurechnen. Die in ihrem Formenkanon noch wenig gefestigte Schrift ist vielmehr allgemeiner als Gotico-Humanistica zu charakterisieren. Statt der Brechungen sind die Hasten nur mehr rund umgebogen, die Bögen sind im allgemeinen wieder ausgerundet, Bogenbrechungen begegnen lediglich noch in der oberen Hälfte der Bögen von e, h und (nicht konsequent) c. Elemente gotischer Halbkursiven sind das einstöckige a, f und langes s mit spitz unter die Grundlinie verlängerter geschwungener Haste, eigenartige Formen des runden Schluß-s, x mit geschwungenen Schräghasten, r mit schräger geschwungener oder nach rechts durchgebogener Haste, gebrochenes v, sowie m und n mit gelegentlich weit unter die Grundlinie zurückschwingender rechter Haste. Einflüsse der humanistischen Minuskel dokumentieren sich vorwiegend in der Ausrundung der Bögen, in dem 8-förmigen g, dessen unterer Bogen zum Dreieck umgeformt sein kann, in den Luftschleifenverbindungen von ct und st, in der ae-Ligatur sowie in der Verwendung des geraden halbunzialen d (Unzialform nur vereinzelt am Wortanfang). Der i-Punkt ist regelmäßig gesetzt. Die Versalien rekrutieren sich größtenteils aus Kapitalisbuchstaben, wobei vielleicht auch Rustica-Auszeichnungsalphabete humanistischer Handschriften (breiter Grundstrich am unteren Schaftende des P!) und humanistische Kursiven (Formen von B, G, J, S, T) als Vorbilder dienten. Bemerkenswert ist die häufige Verwendung eines kapitalen Q als Minuskel im Gemeinen-Alphabet.

Direkte Parallelen lassen sich weder im epigraphischen Bereich noch im zeitgenössischen Buchdruck namhaft machen. Die Schrift auf dem 1474 fertiggestellten Ulmer Chorgestühl Jörg Syrlins d. Ä., an die man am ehesten denken könnte, ist in gotischer Minuskel und in Gotico-Antiqua mit eng begrenztem Formenkanon ausgeführt8, sie kommt als direktes Vorbild sicherlich nicht in Frage. Sehr ähnlich ist lediglich die in Stein gehauene Schrift auf einem Wappenstein der Münchener Frauenkirche von 15069. Vergleichbar, jedoch mit stärkeren Anklängen an kursive Schriften, sind die geschnitzten Minuskelinschriften, die am Herrenberger (LKr. Böblingen) Chorgestühl von 1517 die aufgeschlagenen Buchseiten in den Kirchenväterreliefs schmücken.

Jörg Syrlin d. J. (1455–1523), der nach seinem Vater Jörg Syrlin d. Ä. bedeutendste Vertreter der spätgotischen Ulmer Schule der Kunstschreinerei, wird hier, wie auch sonst in der Regel, kaum selbst an den Skulpturenschmuck Hand angelegt haben, vielmehr diesen – und vermutlich auch die Ausführung der Inschriften (B) und (C) – Bildschnitzern in seiner Werkstatt überlassen haben. Er siginiert somit als der für die Gesamtplanung verantworliche Kunstschreiner und Unternehmer10. Für Eigenhändigkeit der Signatur (A) könnten die beobachteten Schriftunterschiede gegenüber den übrigen Inschriften sprechen.

Textkritischer Apparat

  1. e klein und hochgestellt.
  2. o über u übergeschrieben.
  3. o hochgestellt.
  4. Zeile nach rechts gerückt, aber nicht exakt zentriert, links und rechts eingerahmt und von je einem Doppelpunkt und einer kurzen wellenförmigen Linie, unter der Zeile in der Mitte der gleiche Zierpunkt senkrecht stehend.
  5. Verschrieben für Baruch.
  6. Statt tertio.
  7. Kürzung durch kleinen Haken über q.
  8. Runde Klammern im Original.
  9. o hochgestellt.
  10. in ventrem ohne Worttrennung.
  11. Erstes i hochgestellt.
  12. Verschrieben für adire.
  13. Kürzung durch Doppelstrich; die Angabe muß ein Versehen sein. Im Buch Ecclesiastes findet sich keine Stelle, auf die sich das Distichon sinngemäß bezieht.
  14. Sic!

Anmerkungen

  1. ovile dei als Pentameterschluß schon bei Venantius Fortunatus, vgl. Lat. Hexameter-Lex. IV 97.
  2. sub nocte silenti Verg. Aen. 4, 527; 7, 87; weiters vgl. Lat. Hexamter-Lex. III 525.
  3. Vgl. Klemm, Stadtkirche. Vortrag 24 Anm.*; ders., Die Stadtkirche von Geislingen 114; Heberle 15; ausführlich: Burkhardt, Geschichte der Stadt Geislingen I 178–185.
  4. Hochaltingen, LKr. Donau-Ries.
  5. Zur Familie vgl. Alberti 359f.
  6. Zur Person vgl. Klemm, Stadtkirche. Vortrag 24f. Anm.**.
  7. Die Stadtkirche von Geislingen 115.
  8. Vgl. dazu die inschriftenpaläographische Dissertation von Klaus-Ulrich Högg. Die Inschriften am Chorgestühl des Ulmer Münsters, in: Ulm und Oberschwaben 45/46 (1990) 103–161. – Zum Geislinger Chorgestühl zuletzt – ohne Berücksichtigung der Inschriften – Barbara Rommé, Das Schaffen von Jörg Sürlin dem Jüngeren, in: Ulm und Oberschwaben 49 (1994) 61–110, hier: 103–107.
  9. DI 5 (München) nr. 118.
  10. Überblick über den neuesten Forschungsstand zu Syrlin und weiterführende Literatur bei Anja Schneckenburger-Broschek, Art. „Syrlin“, in: The Dictionary of Art, ed. by Jane Turner, Bd. 30, London 1996, 200f.

Nachweise

  1. Wollaib, Par. Ulm. 382–384.
  2. StAL, E258 VI, Spezialia, Konvolut 17: OA. Geislingen, „In der Kirche Zu Geißlingen“.
  3. Klemm, Stadtkirche, Vortrag 23–28.
  4. Ders., Die Stadtkirche zu Geislingen 62–64.
  5. Weitbrecht, Wanderungen 15f.
  6. Kdm Geislingen 35–40, 41 (Abb.).
  7. Gotik an Fils und Lauter 36 Abb. 15.
  8. Geislingen a. d. Steige. Die Stadtkirche (Führer) 11 (Abb.).

Zitierhinweis:
DI 41, Göppingen, Nr. 196 (Harald Drös), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di041h012k0019605.