Die Inschriften des Landkreises Göppingen

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 41: Göppingen (1996)

Nr. 153 Göppingen, ev. Oberhofenkirche E. 15. Jh.

Beschreibung

Chorgestühl. An der Epistelseite (Südwand) des Chors. Aus Tannenholz gefertigtes zweireihiges Gestühl mit zugehörigem Einsitz.

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/5]

I. Die hintere Reihe des Gestühls hat neun Sitze, die vier linken und die vier rechten Sitze sind jeweils nach außen und gegen das mittlere Stallum durch offene hohe Abschlußwangen abgegrenzt und von einem zinnenbekrönten Baldachin überwölbt. Das Dorsale des mittleren Stallums ist nicht durch einen Baldachin bekrönt, sondern durch eine oben halbrund abschließende Tafel mit dem Brustbild eines auf ein Spruchband (A) deutenden Propheten (?) in Ritzzeichnung; die Inschrift ist in Kerbschnitt eingeschnitzt. Unmittelbar unter dem Baldachin bzw. der erwähnten Tafel verläuft ein durch alle neun Dorsalfelder durchgehendes Schriftband mit einzeiliger eingeschnitzter Mahninschrift (B), die die Fortsetzung von Inschrift (A) darstellt1; unter dem Schriftband ein schmaler Ornamentstreifen mit bandartigem Rankenwerk in Flachschnitzerei. Die vordere Sitzreihe besteht nur aus acht Sitzen und läßt in der Mitte einen Zugang zur hinteren Reihe frei. Die beiden niedrigen Abschlußwangen der rechten Vier-Sitz-Gruppe sind mit Ranken-Flachschnitzerei verziert und tragen als Bekrönung zwei fast vollrunde Propheten(?)büsten mit unbeschrifteten Schriftbändern. Von einer etwaigen aufgemalten Beschriftung sind keine Spuren mehr erhalten. Die vier Sitze der linken Seite stammen aus späterer Zeit.

Maße: H. (Gesamt) ca. 290, B. 619, H. (Bogenfeld des mittleren Stallums) 55, B. (Dorsalfelder) 56–65, H. (Schriftband A) 13,5, Bu. 3,2–3,6 (A), 7,3 cm. (B).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

  1. A

    Considera seque(n)cia caute serue dei carissime .·.

  1. B

    Eÿa carissi(m)e · stude nu(n)c t//aliter viuere · vt in hora // mortis valeas pocius // gaudere qua(m) timere · // Disce nu(n)c mori mu(n)do · // vt tu(n)c incipias viuere // cu(m) chr(ist)oa)2) Disce nu(n)c o(mn)ia // (con)tempn(er)eb) · vt possis lib//ere ad chr(istu)mc) perg(er)eb):d)

Übersetzung:

Bedenke die folgenden Worte sorgfältig, teuerster Knecht Gottes: Wohlan, Teuerster, bemühe dich, jetzt so zu leben, daß du dich in der Stunde des Todes eher freuen kannst als dich fürchten mußt. Lerne jetzt in der Welt zu sterben, damit du danach mit Christus zu leben beginnst. Lerne jetzt alles zu verachten, damit du unbeschwert zu Christus aufbrechen kannst.

Versmaß: Prosa in Reimzeilen.

II. Der Einzelsitz (Ehrensitz des Propstes?), jetzt neben der Tür zur Sakristei aufgestellt, zeigt einen ähnlichen Aufbau wie die Sitze der hinteren Reihe des Gestühls. Die Baldachinbekrönung weicht in ihrer Gestaltung etwas ab. Unter dem Baldachinansatz ist in das ansonsten ungegliederte Dorsalfeld ein zweizeiliger Bibelspruch (C) eingeschnitzt3.

Maße: H. (Gesamt) 275, B. 89, H. (Dorsalfeld) 87, B. 77, Bu. 7,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien.

  1. C

    · Isaÿas · Ecce · virgo · / · concipiet · et · pariet · filiv(m) ·4)

Übersetzung:

Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären.

Im Schriftband der Inschrift (A) scheint der Text bewußt so angeordnet zu sein, daß das Wort dei genau oben in der Mitte zu stehen kommt. Vermutlich wurde dieses Wort sogar zuerst eingeschnitzt. Darauf deutet zum einen der Befund hin, daß die Zeile des Wortes etwas tiefer steht als bei der restlichen Inschrift; zum andern ist auffällig, daß die ersten beiden Wörter kaum Wortabstand aufweisen, während die Spatien zwischen den folgenden Wörtern größer werden: Offenbar wollte der Schnitzer die Inschrift hier etwas „dehnen“, um einen passenden Anschluß an das bereits vorhandene Wort dei zu schaffen5.

Die Schrift zeigt – bei nicht ganz gleichmäßiger Ausrichtung der Hasten und bei leicht schwankender Zeilenhöhe – die typische Gitterstruktur der ausgeprägten Textura. d ist durch Verkürzung der linken Bogenhälfte ganz in den Mittellängenbereich eingefügt. Der schräg an die Haste zurückgeführte Bogenabschlußstrich des e und die quadrangelförmige Fahne des r laufen unten in ein nach rechts gebogenes Häkchen aus. „Bogen-r“ hat die steile z-Form, die aus zwei gleich langen Schräglinksbalken mit schrägrechtem Verbindungsstrich gebildet ist; der i-Punkt ist fast durchgängig gesetzt, er ist rund und winzig klein und sitzt weit über dem mittleren Schriftband. Alle Kürzungsstriche sind bogenförmig6 und berühren mit dem rechten, in eine Haarlinie auslaufenden Ende die obere Quadrangelspitze der darunterstehenden Haste. Die Versalien sind zum größten Teil den in der Buch-Textura entwickelten Großbuchstaben entlehnt, die mit Bogenbrechungen und Schaftverdoppelung dem Charakter der Minuskelbuchstaben angepaßt sind. Das I der Inschrift (C) hat in der Schaftmitte beiderseits je einen Zierpunkt. Inschrift (B) ist Ausdruck der im Spätmittelalter zunehmend in den Vordergrund tretenden und breitere Volksschichten erfassenden Reflexion über den Tod und des Strebens, durch Verachtung der weltlichen Güter (contemptus mundi) sich beizeiten auf ein gutes Sterben vorzubereiten. Die sog. ars moriendi, eine Anleitung zum heilsamen Sterben, war die in zahllosen Handschriften in lateinischer und deutscher Sprache weitest verbreitete Literaturgattung7. Eine konkrete Vorlage für den Inschriftentext war nicht zu ermitteln; für die im Spätmittelalter beliebte Form der „Prosa in Reimzeilen“8 ist auf das in über 350 Handschriften und zahlreichen Drucken verbreitete Speculum humanae salvationis aus dem frühen 14. Jahrhundert zu verweisen.

Textkritischer Apparat

  1. Befund: xpo mit gewölbtem Kürzungsstrich.
  2. r-Kürzel in Form eines hochgestellten und oben fadenförmig ausgezogenen Quadrangels.
  3. Befund: xpm mit gewölbtem Kürzungsstrich.
  4. Zwischen den beiden Quadrangeln ein gewellter Zierstrich.

Anmerkungen

  1. Die Wiederaufnahme der Leseranrede carissime in Inschrift (B) macht die Zugehörigkeit zur Inschrift (A) deutlich.
  2. Vgl. den Hexameter Disce mori vivens, moriens ut vivere possis: Walther, Proverbia 1, 721 Nr. 5863.
  3. Außerdem ist in der Kirche ein zweisitziger Herrschaftsstuhl erhalten, der aus derselben Zeit stammen dürfte, aber reicher verziert ist. Ohne Inschrift, zeigt er die geschnitzten Vollwappen des Jörg von Zillenhart und seiner Frau Amalia von Eckmannshofen († 1506).
  4. Is 7, 14.
  5. Eine ähnliche Beobachtung ließ sich am Trierer Stadtsiegel aus der Mitte des 12. Jahrhunderts machen, vgl. Harald Drös, Siegelepigraphik im Umkreis des ältesten Kölner Stadtsiegels, in: AfD 39 (1993) 149–199, hier: 171f.
  6. Der Kürzungsstrich auf dem Einsitz (Inschrift C) allerdings gerade.
  7. Vgl. ausführlich Rainer Rudolf, Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens (Forschungen zur Volkskunde 39), Köln Graz 1957 sowie zuletzt Arthur E. Imhof, Ars Moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute (Kulturstudien 22), Wien Köln 1991.
  8. Zum Begriff vgl. K. Polheim, Die lateinische Reimprosa, Berlin 1925, 437ff.

Nachweise

  1. Kdm Göppingen 34–36, Abb. 22–24.
  2. Gotik an Fils und Lauter 37 Abb. 16, 253 Abb. 141.
  3. Reyle, Oberhofenkirche 11 (dt. Übersetzung).
  4. Plieninger, Oberhofenkirche, Abb. 7.

Zitierhinweis:
DI 41, Göppingen, Nr. 153 (Harald Drös), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di041h012k0015301.