Inschriftenkatalog: Stadt Jena

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 33: Stadt Jena (1992)

Nr. 78 Aula der Friedrich-Schiller-Universität 1564

Beschreibung

Epitaph des Johann Stigel; im 17. Jh. an einem der nördlichen Pfeiler der Stadtkirche;1) um 1785 im unteren Turmgeschoß abgestellt;2) im 19. Jh. wieder im Kirchenschiff;3) 1975 von der Universität angekauft, seit 1985 in der Aula des Universitätshauptgebäudes. Öl auf Holz; vor einer Darstellung des schlafenden Christus im Sturm4) knien, durch eine Brücke abgesetzt, der Verstorbene mit vier Söhnen, gegenüber seine zwei Frauen mit drei Töchtern. – Is. (A) in zwei Kolumnen im unteren Drittel auf einem abgesetzten, weiß grundierten Schriftfeld, H. 34 cm, B. 108 cm, und Signatur im Scheitel des Mittelbogens der Brücke (B). 1976/78 umfassend restauriert, dabei die Is. an zwei Stellen falsch ergänzt.

Maße: H.: 174,5 cm; B.: 108 cm; Bu.: 1,5 cm, in (B) 1 cm.

Schriftart(en): Kapitalis, schwarz auf weißem Grund gemalt.

Kustodie, Friedrich-Schiller-Universität (Hannah Bayer) [1/3]

  1. Aa)

    QVISQVIS AD HVNC TVMVLVM VENIENS, SVBSISTE VIATOR,HIC MVSAE VATEM COMPOSVERE SVVMSTIGELIVM VATEM, QVO DVLCIA PLECTRA MOVENTEOBSTVPVIT POSITA DELIVS IPSE LYRA.NATVRAE NAM DONA SVAE PROVEXIT AB ARTEVT PAR VERGILIO SIC TIBI NASO FVITDICERE SI LICEAT FORSA⟨N⟩b) QVOQVE MAIOR VTROQVEPRO PHOEBO IN CVIVS CARMINE CHRISTVS ERAT.CARMINIS HINC SPIRANS CVM MAIESTATE NITOREM,FVNDEBAT GRANDI VERBA LIGATA SONO.INGENIO, SIMILIS QVAESITA EST GLORIA PAVCIS.ILLIVS IN PLAVSVS DOCTA THEATRA SONANT.ILLI CEV PRIMO, FLORENS DATA LAVREA VATVMEST MANIBVS, CAESAR CAROLE QVINTE, TVISLAVDIBVS EXIMIIS & (PRAETER CARMINIS VSVM)PRAEDITVS INGENII, CONSILIIQVE FVIT.ET GRAVIS & IVSTVS, NEC CASTIS MORIBVS ORBVSIN CHRISTI LAVDES AMBITIOSVS ERATERGO LICET PARVA CORPVS CLAVDATVR IN VRNA.ALTA TAMEN VIVAX FAMA PER ASTRA VOLAT.c)SALVE CARE DEO VATES, CVI GRATA CANEBAS,CVI PLENVM AONIO FLVMINE PECTVS ERAT.TV NVNC LOTICHIO IVNCTVS DOCTOQVE SABINOQVOS RA(P)VITd) SPACIO PARCA SEVERA BREVI.QVOSQVE PATER VATVM PRAECESSIT MORTE PHILIPPVSCVI GAVDES COELO PROXIMVS ESSE COMESERGO OMNI CVRA EXPERTES VITAEQVE LABOREFINGIT⟨I⟩Se) AETERNO CARMINA GRATA DEOILLIC LIVOR ABEST OMNIS RABI⟨ES⟩QVEf) MALORVMNON SVPEREST IVSTIS POST SVA FATA LABOR.g)

  2. B

    15 P(ETER) G(OTTLAND) 64

Übersetzung:

Wer du auch immer zu diesem Grab kommst, verweile, Wanderer! Hier haben die Musen ihren Dichter begraben, den Dichter Stigel, über den selbst der Delier (= Apollo) erstaunte und seine Lyra aus der Hand legte, wenn dieser süße Lieder anschlug. Denn die Gaben seiner natürlichen Anlagen entwickelte er durch die Kunst weiter, daß er Vergil und auch dir, Naso, gleichkam. Er war, wenn dies zu äußern erlaubt sei, vielleicht sogar noch größer als beide, stand doch statt Phoebus Christus in seiner Dichtung. Daher verströmte er, indem er den Glanz seiner Dichtung zusammen mit majestätischer Würde tönen ließ, Worte, die mit erhabenem Klang verbunden waren. Seinem Genie wurde ein Ruhm zuteil, wie er wenigen ähnlich. Vom Beifall für ihn hallt das gelehrte Publikum wider. Ihm wurde gleichsam als erstem unter den Dichtern der blühende Lorbeer aus deinen Händen, Kaiser Karl V., gegeben. Er war ausgezeichnet – abgesehen vom Nutzen seiner Dichtung – durch den außerordentlichen Ruhm für seine Begabung und für sein kluges öffentliches Wirken. Ernst und gerecht und nicht ohne reine Sitten war er voller Bemühen um das Lob Christi. Mag nun auch sein Leib in einer kleinen Urne verschlossen sein, so fliegt doch sein Ruhm lebendig zu den hohen Sternen. Gegrüßt seist du, du Gott teurer Dichter, zu dessen Ehre du sangest, für den deine Brust voll war von aonischem Strom. Jetzt bist du an der Seite des Lotichius und des gelehrten Sabinus, die beide die strenge Parze in kurzer Zeit geraubt hat und denen der Dichtervater Philippus im Tode voranging; ihm im Himmel der nächste Vertraute zu sein, ist jetzt deine Freude. Ihr, die ihr aller Sorge und Mühe des Lebens ledig seid, dichtet nun Gesänge, die dem ewigen Gott angenehm sind. Dort (oben) ist jeglicher Neid und jegliche Wut seitens der Bösen fern; auf die wartet Gerechten nach ihrem Tode keinerlei Mühsal mehr.

Kommentar

Das Epitaph ist wie das ebenfalls von Peter Roddelstedt5) geschaffene Epitaph für Erhard Schnepf (Nr. 77) unter dem Rektorat Johann von Schröters 1564 auf Kosten der Universität angefertigt und angebracht worden.6) Sein Dichter ist der spätere kursächsische Kanzler Georg Cracovius,7) der die Elegie 1563 unter den epicedia anderer Jenaer Kollegen in der Biographie von Job Finckel, dem Schwiegersohn Stigels, veröffentlichte.8) Cracovius selbst war Jurist in Wittenberg und dem dortigen Dichterkreis nahestehend. In stark von antiken Vorstellungen geprägten Bildern wird die Leistung Stigels9) als Dichter gewürdigt. Nach einem Vergleich mit Vergil und Ovid werden Mitglieder des Jüngeren Wittenberger Dichterkreises, zu dem auch Stigel gehört hat und dessen Haupt Philipp Melanchthon (1497–1560) war, genannt: Petrus Lotichius (1528–1560) und Georg Sabinus (1508–1560). Höhepunkt der dichterischen Laufbahn Stigels war die Krönung zum poeta laureatus durch Kaiser Karl V. (1500–1558) in Regensburg.10)

Die Stiftung des Epitaphs als postume Ehrung und die Wittenberg-freundliche Tendenz sind besonders bemerkenswert vor dem Hintergrund der sog. Flacianischen Streitigkeiten. Mit Matthias Flacius (1520–1575) war bis 1561 in Jena ein scharfer gnesiolutheranischer Kurs gegen Melanchthon und Wittenberg gefahren worden, der es dessen Anhängern, den Philippisten, und Stigel selbst in Jena sehr schwer machte.11) Mit der Absetzung des Flacius im Jahre 1561 gelang es vorübergehend den gemäßigten und auf Ausgleich bedachten Theologen um Johann Stössel,12) eine Öffnung auf Wittenberg und den Philippismus hin durchzusetzen; sie fand allerdings 1569 durch Herzog Johann Wilhelm ihr jähes Ende (s. zu Nr. 87). Ausdruck dieser Zwischenphase der theologischen Entspannung ist das Bekenntnis zu Melanchthon auf dem Stigel-Epitaph.

Textkritischer Apparat

  1. fünfzehn elegische Distichen.
  2. FORSAM falsch restauriert.
  3. Vgl. Ovid met. 15, 875 f.: parte tamen meliore mei super alta perennis / astra ferar.
  4. RABVIT falsch restauriert.
  5. aus FINGITES verbessert.
  6. aus RABIQVE verbessert; rabiesque hat Beier.
  7. Vgl. Sap 3,1: Iustorum autem animae in manu dei sunt, et non tanget illos tormentum mortis.

Anmerkungen

  1. Beier, q. 15, 573 (epitaphia in columnis septentrionalibus).
  2. Wiedeburg 1785, 212 Anm. 2.
  3. Schreiber/Färber 1858, 129 (an der Wand, links am Eingange in den Fürstenstuhl); Ende des 19. Jh. „augenblicklich im Pfarrhaus“ (BuKTh Jena, 101).
  4. Vgl. Mt 8,23–27; Mc 4,35–41; Lc 8,22–25.
  5. Zu Peter Roddelstedt vgl. Nr. 76.
  6. Vgl. Nr. 77, Anm. 6. Aus den Kirchenrechnungen von 1562 geht hervor, daß für Stigel eine Grabtafel (wohl aus Holz) angefertigt worden ist, vgl. Koch 1929a, 259; sie hat sich nicht erhalten.
  7. Georg Cracovius (vgl. NDB 3, 385 f.), Schwiegersohn Bugenhagens; geboren 7. November 1525; 1538 stud. Rostock, Leipzig, Wittenberg; 1547 Prof. math. et ling. graec. Greifswald; 1549 Mag. art. legens Wittenberg; 1554 Dr. iur. et Prof. iur. Wittenberg; 1557 Kurfürstl.-Sächs. Rat; 1565 Kursächs. Kammerrat und Kanzler in Dresden; 1574 als Kryptokalvinist gefangengenommen; gestorben in Leipzig im Gefängnis 17. März 1575.
  8. Oratio de vita et obitu clariss(imi) et prudentiss(imi) Poetae Joannis Stigelii, habita in Academia Jenensi in publica Magistrorum renunciatione a Jobo Fincelio, Med(icinae) d(octore), Jena 1563.
  9. Johann Stigel, geboren 13. Mai 1515 in Friemar/b. Gotha; 1531 stud. Wittenberg; 1542 Mag. phil. Wittenberg; in Regensburg zum poeta laureatus gekrönt; 1546 Prof. ling. graec. et lat. Wittenberg; 1548 Prof. eloqu. Jena; Rektor jeweils FS 1549/56 und FS 1559; gestorben 11. Februar 1562 in Jena.
  10. Zu seinem dichterischen Werk vgl. G. Ellinger, Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im 16. Jh., 2, Berlin 1929, 75–94. Von Stigel stammt das Epigramm unter dem Großen Ernestinischen Staatswappen, Nr. 69.
  11. Geschichte der Universität Jena, 1, 36–45; mit ILLIC LIVOR ABEST OMNIS RABIESQVE MALORVM wird wohl darauf angespielt (vgl. Steiger 1980, 53; Melanchthon sprach von der rabies theologorum).
  12. Zu Johann Stössel, vgl. Nr. 76 Anm. 8.

Nachweise

  1. Beier, q. 15, 572–573.
  2. Hallof 1987, 34–37 und 43 Abb. 1.
  3. Vgl. Beier 1681, 277.
  4. Wiedeburg 1785, 212 Anm. 2.
  5. Schreiber/Färber 1858, 129.
  6. Koch 1951, 52.
  7. Vorbrodt 1959, 98 und Abb. 1–4.
  8. Steiger 1980, 43 und 44 Abb. 33.
  9. Ignasiak 1985, 7–8 und 12 Abb. 4.

Zitierhinweis:
DI 33, Stadt Jena, Nr. 78 (Luise und Klaus Hallof), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di033b005k0007801.