Inschriftenkatalog: Landkreis Hildesheim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 88: Landkreis Hildesheim (2014)
Nr. 84(†) Köln, Minoritenkirche 1502 o. früher
Beschreibung
Altarpredella und Retabel. Holz. Das Retabel stammt aus der St. Nicolai-Kirche in Alfeld und wurde – offenbar ohne die Predella – 1888 an die Minoritenkirche in Köln verkauft.1) Als letzte Standorte des Retabels gibt Theele für den mittleren Teil die Südseite und für die beiden Flügel die Nordseite der St. Nicolai-Kirche an.2) Im Altarschrein Schnitzfigur der Gottesmutter mit dem Kind in der Mandorla begleitet von Heiligenfiguren und Szenen aus der Kindheit Jesu. Auf den Innenseiten der Flügel oben Szenen aus der Passion, unten Szenen aus Heiligenlegenden. Auf den Außenseiten der Flügel Darstellungen aus dem Marienleben und aus der Legende des heiligen Nikolaus.3) Die Inschrift A befand sich nach Theele „am Piedestal“4) und richtete sich als Gebet an die darüber im Schrein stehende Gottesmutter. Die im Zuge der Restaurierung 1889 erneuerte Inschrift B nimmt vermutlich den Wortlaut der ursprünglichen Inschrift auf dem Altarkamm wieder auf.5)
Inschrift A nach Theele, B nach Abb. bei Münzenberger (restaurierte Fassung).
- A †
Maria mater gratiaemater misericordiaetu nos ab hoste protege6)
- B †
REGINA COELI LAETARE QVIA · QVEM · MERVISTI · PORTARE · ALLELVIA ·RESVRREXIT · SICVT · DIXIT · ALLELVIA7)
Übersetzung:
Maria, Mutter der Gnade, Mutter der Barmherzigkeit, schütze du uns vor dem Feind. (A)
Himmelskönigin, freue dich, weil der, den du zu tragen würdig warst, – Halleluja – auferstanden ist, so wie er gesagt hat. Halleluja. (B)
Versmaß: Drei Verse einer ambrosianischen Strophe, rhythmisch und endgereimt (A). Hymnenverse (B).
Anmerkungen
- Näheres dazu s. Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei, Kat. Nr. 123, S. 389f.; Kdm. Kreis Alfeld I, S. 34f. – Zur Geschichte des Altars vgl. [Ernst Franz August] Münzenberger, Der neue Hochaltar in der Minoritenkirche zu Köln. In: Zeitschrift für christliche Kunst 2 (1889), S. 178–182 u. Tafel X.
- Vgl. Theele, Nikolai-Kirche, S. 46.
- Zum Bildprogramm im Einzelnen s. Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei, S. 386–389.
- Vgl. Theele, Nikolai-Kirche, S. 46.
- Vgl. Münzenberger (wie Anm. 1), S. 178–182 mit Tafel X, die den restaurierten Altar mit der Kamminschrift REGINA COELI LAETARE zeigt.
- Die beiden ersten Verse sind Teil der Marienstrophe ‚Maria mater gratiae, mater misericordie‘, vgl. Analecta Hymnica, Bd. 39, Nr. 72, S. 68. Tu nos ab hoste protege ist zwar nicht Bestandteil dieser Strophe, lässt sich aber als Einzelvers in Strophenzusammenhängen nachweisen, die zu den „kleinen Tagzeiten“ Terz, Sext und Non des ‚Officium parvum Beatae Mariae Virginis‘ gehören, das als akzessorisches Offizium im Anschluss an das Tagesoffizium auch in den Säkularkirchen gefeiert wurde. Der ebenfalls häufig in Inschriften belegte vierte Vers dieser Strophe lautet: et in hora mortis suscipe ‚und nimm [uns] in der Todesstunde auf‘. Der Text der kompletten Strophe findet sich in: Breviarium iuxta Ritum sacri Ordinis Praedicatorum. Rom 1607, S. 925 Officium Beatae Mariae Quotidianum, Ad Vesperas. – Weitere Belege zur Textgeschichte s. DI 64 (Lkr. Querfurt), Nr. 82 mit dem wichtigen Hinweis, dass sich diese Strophe als Sterbegebet in der ‚Admonitio morienti‘ des Anselm von Canterbury findet.
- Vgl. Corpus Antiphonalium Officii, Bd. 3, Nr. 4597. Die Marien-Antifon eines unbekannten Verfassers ist seit ca. 1200 überliefert und im Officium monasticum für den Abschluss der Tageshoren bestimmt, vgl. Marienlexikon, Bd. 5, S. 435–437.
- Die Zuweisung erfolgte aufgrund detailgetreuer Übereinstimmungen mit dem signierten Retabel aus Hemmerde (heute Braunschweig), vgl. Thieme/Becker, Bd. 4, S. 354; s. a. DI 35 (Stadt Braunschweig I), Nr. 215.
- Zum Gandersheimer Retabel vgl. Richter, Gotik in Gandersheim, S. 46–53, Kat. Nr. 7. – Zu den Inschriften: Christine Wulf, DIO 2 (Kanonissenstift Gandersheim), Nr. 24. Online unter: http://www.inschriften.net/gandersheim/inschrift/nr/dio002-0024.html (letzter Zugriff am 01.11.2013). – Zum Altar aus Hemmerde s. a. Richter, Gotik in Gandersheim, S. 53, Abb. 29.
- Näheres zu Konrad Borgentrik und zum Inschriftenprogramm der Borgentrik-Retabel im Kommentar zu Nr. 41.
- Vgl. z. B. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 747; auf einer Glocke von 1509 in Delmenhorst-Hasbergen. Online unter: http://www.kirche-hasbergen.de/prod01.htm (letzter Zugriff am 13.9.2013); s. a. Wulf, DIO 2 (wie Anm. 9).
- Zu den Kapellen vgl. Antje Grewolls, Die Kapellen der norddeutschen Kirchen im Mittelalter: Architektur und Funktion. Kiel 1999, S. 148f.
Nachweise
- Theele, Nikolai-Kirche, S. 46.
- [Ernst Franz August] Münzenberger, Der neue Hochaltar in der Minoritenkirche zu Köln. In: Zeitschrift für christliche Kunst 2 (1889), S. 178–182 mit Tafel X.
- Die Kunstdenkmale der Stadt Köln, bearb. von Hugo Rahtgens u. Hermann Roth. Düsseldorf 1929, S. 425 mit Abb. der erneuerten Inschrift B.
Zitierhinweis:
DI 88, Landkreis Hildesheim, Nr. 84(†) (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di088g016k0008405.
Kommentar
Das Retabel stammt aus der Werkstatt des in Hildesheim und Braunschweig tätigen Schnitzers Konrad Borgentrik (gest. ca. 1502),8) von dem noch drei weitere Retabel überliefert sind: das Dreikönigsretabel in der Gandersheimer Stiftskirche, ein weiteres aus Hemmerde bei Unna (heute im Städtischen Museum in Braunschweig)9) und drittens das heute verlorene Retabel aus Schlewecke im Landkreis Hildesheim (Nr. 41). Die vier Altäre dieser Werkstatt zeigen ein hinsichtlich ihrer Textauswahl weitgehend homogenes Inschriftenprogramm.10)
Die Marienstrophe Maria mater gratiae ist im niedersächsischen Raum vielfach u. a. als Inschrift auf Altarretabeln und Glocken bezeugt.11) Sie gehört in den liturgischen Zusammenhang des ‚Officium Beatae Virginis Mariae‘, eines speziellen Stundengebets zu Ehren der Gottesmutter, das als Nebenoffizium dem offiziellen Stundengebet folgte. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts spielte es in der Laienfrömmigkeit der nord- und westdeutschen Städte eine bedeutende Rolle und war oft mit großen Stiftungen von speziellen Marienzeiten-Kapellen (ndd. Marientiden-Kapellen) oder Vikarien verbunden.12)