Inschriftenkatalog: Stadt Goslar
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 45: Stadt Goslar (1997)
Nr. 48† Stiftskirche St. Simon und Judas, Vorhalle 15. Jh.
Beschreibung
Schrifttafel. Sie war Ende des 19. Jahrhunderts noch links des Eingangs der Vorhalle aufgehängt und ist heute verschollen1). Über die Gestaltung der Tafel und die Ausführung der Inschrift liegen keine Angaben vor.
Inschrift nach Asche, Kaiserpfalz.
St. BernhardusCantus sit plenus gravitate nec lasciviam resonet sic suavis ut non sit levis sic mulceat aures ut moveat corda tristitiam levet iram mitiget sensum literae non evacuent sed foecundent Non est levis jactura gratiae spiritualis abduci levitate cantus a sensus utilitate et plus sinuandis intendere vocibus quam insinuandis rebus En talia oportet esse quae in audientiam Ecclesiae veniunt2)
St. BernhardusIn devotis meditationibus cum ad orandum seu psallendum ecclesiam intraveris fluctuantium cogitationum tumultusa) exteriusb) relinque curamque exteriorum penitus obliviscere ut soli Deo vacare possis Intende ergo illi qui intendit tibi audi illum loquentem tibi ut ipse exaudiat te loquentem sibi3)
St. AugustinusQua fronte postulas quod promisit Deus si non praestas quod mandavit Deus Prius audi monitiones et sic exige promissiones4)
Übersetzung:
Der hl. Bernhard: Der Gesang sei voller Würde und möge keinen Mutwillen ertönen lassen; (er sei) so süß, daß er nicht flüchtig sei. Er umschmeichle so die Ohren, daß er die Herzen berühre, Traurigkeit lindere und Zorn besänftige. Der Wortlaut soll den Sinn nicht entkräften, sondern befruchten. Es ist kein unbedeutender Verlust der spirituellen Gnade, wenn durch Leichtfertigkeit der Gesang getrennt wird vom Nutzen des Sinnes und man mehr auf die volltönenden Stimmen achtet als auf die eindringenden Wortinhalte. Siehe, so muß sein, was zum Gehör der Kirche gelangt.
Der hl. Bernhard: Wenn du in frommen Gedanken zum Gebet oder zum Singen der Psalmen die Kirche betrittst, laß das Durcheinander der umherwogenden Gedanken draußen und vergiß völlig die Sorge um Äußeres, damit du dich Gott allein widmen kannst. Richte deine Aufmerksamkeit auf jenen, der seine Aufmerksamkeit auf dich richtet. Höre ihn zu dir sprechen, damit er dann auch dich zu ihm sprechen hört.
Der hl. Augustinus: Mit welcher Anmaßung forderst du, was Gott versprochen hat, wenn du nicht tust, was Gott geboten hat? Höre zuerst die Ermahnungen und fordere dann die Verheißungen ein.
Textkritischer Apparat
- tumultus] tumulte Asche.
- exterius] exteris Asche.
Anmerkungen
- So Asche, Kaiserpfalz, S. 20. Als Merkwürdigkeit bleibt festzuhalten, daß die Tafel weder auf alten Photographien zu sehen ist, noch in den älteren Inventaren bei Mithoff oder in den ‘Kunstdenkmälern der Stadt Goslar’ erwähnt wird.
- Bernhard von Clairvaux, Epistulae, hg. von J. Leclercq, H. M. Rochais, Bd. 2 (Opera 8), Rom 1977, Ep. 398 S. 377–379, hier S. 378.
- Ps.-Bernhard von Clairvaux, Meditationes piissimae de cognitione humanae conditionis, in: Patrologia Latina 184, Paris 1879, Sp. 485–508, hier Sp. 495.
- Ps.-Augustinus, Sermones dubii, Sermo 382, in: Patrologia Latina 39, Paris 1865, Sp. 1684–1686, hier Sp. 1685.
- Vgl. etwa Art. ‘Augustinus’ (Kurt Ruh), ²VL 1, Sp. 531–543, hier Sp. 540.
- Vgl. dazu Hartmut Boockmann, Über Schrifttafeln in spätmittelalterlichen deutschen Kirchen, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40, 1984, S. 210–224.
Nachweise
- Asche, Kaiserpfalz, S. 20.
- Asche, Dom-Kapelle, S. 14f.
Zitierhinweis:
DI 45, Stadt Goslar, Nr. 48† (Christine Magin), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di045g008k0004809.
Kommentar
Auf der Tafel war festgehalten, auf welche Art und mit welcher inneren Haltung die Stiftskanoniker ihre Gebete verrichten und die Psalmen singen sollten. Die Zitate stammen von den beiden im Spätmittelalter sowohl von Mönchen als auch von Weltgeistlichen meistgelesenen theologischen Autoritäten; Ps.-Bernhards ‘Meditationes’ sind in einer sehr großen Zahl von Handschriften in Latein und in den Volkssprachen überliefert. Mehr noch als durch die eigentliche Rezeption ihrer echten und unechten Schriften wirkten (Ps.-)Bernhard und Augustinus durch die Aufnahme von kurzen Zitaten in Florilegien und andere kompilatorische Werke5). Die Tafel wird in jedem Fall in vorreformatorischer Zeit, sehr wahrscheinlich im 15. Jahrhundert entstanden sein; die Mehrzahl der erhaltenen lehrhaften Schrift- oder Bildtafeln stammt aus dieser Zeit. Sie waren in Kirchen angebracht und vermittelten katechetische Texte wie etwa die Zehn Gebote oder dienten der Bekanntmachung von Ablässen; dies geschah allerdings meist in der Volkssprache, da bei dem intendierten Laienpublikum Lateinkenntnisse nicht vorausgesetzt werden konnten6).