Inschriftenkatalog: Stadt Göttingen
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 19: Stadt Göttingen (1980)
Nr. 33 Hannover, Nds. Landesgalerie um 1410
Beschreibung
Mittelbild eines Triptychons, die beiden Außentafeln sind verloren. Eichenholz mit Leinwandüberzug.1) Der ursprüngliche Standort in Göttingen ist unbekannt; zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam der Altar in die Gemäldesammlung der Universität und wurde 1863 an das Welfenmuseum in Hannover abgegeben.2)
In der oberen Reihe sind das zweite, dritte und vierte, in der unteren das siebente, achte und neunte Gebot durch Szenen des Alten Testaments bildlich dargestellt.
Maße: H. 159, B. 173,5, Bu. 1,2 cm (n).
Schriftart(en): Gotische Minuskel.
2. Gebot: · non assummes nome(n) dei tui i(n) v(anum)3)saul rex ionatas· viuita) d(omi)n(u)s morieris ·4)
3. Gebot:· meme(n)to vt die(m) sabatu(m)b) sa(ncti)fices5)david iosiasc) ezechiasc) yosedech· d(omi)ned) saluu(m)e) me fac quonia[m]f)6)
4. Gebot: honora p(at)r(e)m tuu(m) (et) m(at)r(e)m tuu(m) (!)g)7)thobiac) filius thobieh)· omni tempore benedic deum (et) c(etera) ·8)
7. Gebot: non · furtu(m) · facies ·9)yosuei) achiorc)10)recipe fili pretiu(m) tuum · · · · hiij) sunt qui furtu(m) rapiunt
8. Gebot: non falsu(m) testimoniu(m) dicesk)11)seniores susanna Daniel· falsum testimonium dixistis ·12)
9. Gebot: no(n) (con)cupisces re(m) aliena(m)13)yesabel achas nab[ot]da michi vinea(m) tua(m) nabo[t]· non dabo tibi vineam meam14)
Übersetzung:
Du sollst den Namen deines Gottes nicht grundlos gebrauchen. So wahr der Herr lebt, wirst du sterben.
Denke daran, daß du den Sabbat heiligen sollst. Herr, gib mir Heil, da (. . .)
Ehre deinen Vater und deine Mutter. Zu aller Zeit lobe Gott.
Du sollst keinen Diebstahl begehen. Empfange, Sohn, deinen Lohn. Diese sind es, die die Beute rauben.
Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen. Ihr habt ein falsches Zeugnis abgelegt.
Du sollst nicht fremdes Eigentum begehren. Gib mir deinen Weinberg, Naboth. Ich werde dir meinen Weinberg nicht geben.
Textkritischer Apparat
- viuit] vincit Katalog 1954; Stange, Kritisches Verzeichnis; Lechner.
- sabatum fehlt Habicht.
- Nur schwach zu erkennen.
- domine] dominus Wollens.
- saluum] salum Habicht.
- quoniam fehlt Habicht; Wollens.
- matrem tuum] matrem tuam Engelhard; Habicht; Wollens; Stange, Kritisches Verzeichnis.
- tobie Engelhard.
- yosue] solus Engelhard.
- hii] hic Engelhard; Habicht; Wollens.
- dices] dues Engelhard; Habicht.
- seniores] censores Engelhard.
Anmerkungen
- Katalog 1954, Nr. 196, S. 94.
- Ebd.
- Ex. 20,7.
- 1. Sam. 14,39.
- Ex. 20,8.
- Ps. 11,1.
- Ex. 20,12.
- Tob. 4,20.
- Ex. 20,15. – Sinnentsprechender wäre ‚facias‘.
- Gemeint ist Achan, der wegen seines Diebstahls gesteinigt wurde. Achior war ein Ammoniterfürst (vgl. Jud. 5,5).
- Matth. 19,18; Luk. 18,20; Röm. 13,9. – Dem Sinn entspräche ‚dicas‘.
- Die entsprechende Stelle lautet Daniel-Apokryphen (Theodotion) 49: ‚Quia falsum testimonium locuti sunt‘.
- Ex. 20,17. – Dem Sinn entspräche ‚concupiscas‘.
- 1. Kön. 21,6: ‚(. . .) da mihi vineam tuam accepta pecunia (. . .) et ille ait non do tibi vineam meam.‘
- Vor allem war dies der Zweck der entsprechenden Einblattdrucke des 15. und 16. Jahrhunderts, vgl. F. Falk, Der Unterricht des Volkes in den katechetischen Hauptstücken 84.
- Vitzthum, Der Hochaltar der Jakobikirche in Göttingen 66f., Katalog 1954, Nr. 196, S. 93f., Datierung: „Um 1400–1410“. Engelhard, Beiträge zur Kunstgeschichte Niedersachsens, 26, gibt als Zeitpunkt „um 1400“ an und betont die Verwandtschaft mit der kölnischen Schule.
- Vereinzelte entsprechende Beispiele aus späterer Zeit finden sich in der Literatur, so z. B. bei Johann Schott, Spiegel Christlicher walfart, Straßburg 1504, f. 73a, wo der Diebstahl Achans zur Erläuterung des 7. Gebots dient. Schotts Schrift ist veröffentlicht bei J. Geffcken, Der Bildcatechismus des funfzehnten Jahrhunderts, die erwähnte Stelle dort Sp. 184.
- Vgl. dazu Kirschbaum, Lexikon der christlichen Ikonographie IV, 564–569 und die dort genannte Literatur. Besonders hingewiesen sei auf Martin Lechner, Zur Ikonographie der Zehn Gebote. Fresken in Nonnenberg, LK Altötting, in: Ostbairische Grenzmarken 11 (1969) 313–339, wo ein guter Überblick über die Dekalogdarstellungen in Malerei, Plastik und Graphik gegeben wird.
- Nach Gn. 14,18.
- Ps. 110,4, wo Gott zu dem Priesterkönig sagt: ‚tu es sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedech.‘
- Quellen für David: 1. Sam. 16ff.; 2. Sam. passim; 1. Kön. 1–2; für Ezechias: 2. Kön. 18–20; für Josias: 2. Kön. 22,1–23, 30.
- LThK II, 780.
- Es ist bezeichnend, daß Manasse, der Sohn Ezechias’ und König von Juda 693–639, in dieser Reihe fehlt. Chronologisch steht er zwischen Ezechias und Josias. Manasse führte heidnische Kulte ein und brach mit der israelitischen Religion, vgl. LThK VI, 1342.
- UB Göttingen I, Nr. 90, S. 72f. – A. Fink, Zur Deutung der Göttinger Zehngebotetafel, in: Jb. für Kunstwissenschaft 1924/25, 103–109. Über den Bau einer Kirche oder Kapelle am Ort des Hostienfrevels vgl. P. Browe S. J.: Die eucharistischen Wunder des Mittelalters (Breslauer Studien zur historischen Theologie, N.F. Bd.VI), Breslau 1938, 153f.
- Fink 106, 108.
- Vgl. dazu RDK VI, 163 und 169f.
- Kirschbaum, Lexikon der christlichen Ikonographie IV, Art. ‚Saul‘, 50–54 (J. Paul/W. Busch) und ‚Tobias‘ 320–326 (H. Weskott).
- H. Tietze, Die typologischen Bilderkreise des Mittelalters in Österreich, in. Jb. der k. k. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale, NF, Bd. II, 2 (1904), 21–88, hier 81, Nr. 31 und 86, Nr. 137.
- G. Heider, Beiträge zur christlichen Typologie aus Bilderhandschriften des Mittelalters, in: Jb. der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale V (1861) 3–128, hier 108f.
- Tietze, Die typologischen Bilderkreise des Mittelalters in Österreich 82, Nr. 55.
Nachweise
- Münzenberger I, S. 67.
- Engelhard, Beiträge zur Kunstgeschichte Niedersachsens 25f.
- Wernicke, Die bildliche Darstellung der zehn Gebote 111.
- Habicht, Die mittelalterliche Malerei Niedersachsens 96–98, Abb. T. 16.
- Braun, Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung II, 505.
- A. Fink, Zur Deutung der Göttinger Zehngebotetafel 103f., Abb. 29 neben S. 108.
- Wollens, Alte Altarbilder Göttingens 12–18, Abb. 1.
- Katalog 1930, Nr. 178, S. 118f., Abb.
- Stange, Dt. Malerei der Gotik III, Abb. 224.
- Des maîtres de Cologne à Albrecht Dürer (Ausstellungskatalog), Paris 1950, Nr. 47.
- (Lucy v. Weiher), Alte Göttinger Altäre und ihre Meister, Teilabb. S. 8.
- Katalog 1954, Nr. 196, S. 93f.
- Stange, Kritisches Verzeichnis, Nr. 757, S. 230.
- Lechner, Zur Ikonographie der Zehn Gebote 328f.
- Kirschbaum, Lexikon der christlichen Ikonographie IV, 567 (Abb.).
Zitierhinweis:
DI 19, Stadt Göttingen, Nr. 33 (Werner Arnold), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di019g001k0003308.
Kommentar
Die Darstellung des Dekalogs und der Strafen für die Übertretung der Gebote diente der Unterrichtung und Belehrung der Laien.15) – Die hier angesetzte Datierung folgt den Ergebnissen der kunsthistorischen Forschung, die auch auf die Abhängigkeit vom Maler des Altars in der Göttinger Jakobikirche (Nr. 28) hingewiesen hat.16)
Für die ausschließlich dem AT entnommenen Motive der Malereien lassen sich keine graphischen Vorlagen nachweisen.17) In dieser Thematik liegt auch der besondere ikonographische Wert des Göttinger Altars, denn in den Dekalogdarstellungen des 15. und 16. Jahrhunderts werden zur Erläuterung in erster Linie Szenen aus dem säkularen Bereich gewählt.18)
Die einzelnen Darstellungen des Altars zeigen für das zweite Gebot das Urteil Sauls über Jonathan, der Sauls Schwur gebrochen hat, vor dem Kampf gegen die Philister keine Nahrung zu sich zu nehmen (1. Sam. 14,24ff.), für das dritte Gebot die Könige David, Ezechias und Josias, die vor der Bundeslade knieen, und den Priester Melchisedek, der das Weihrauchopfer darbringt.
Die Bedeutung dieser Szene sei kurz erläutert. Melchisedek gilt als Priesterkönig19), der König von Jerusalem als sein Nachfolger.20) David, Ezechias und Josias haben gegen heidnische Bräuche gekämpft, die israelitische Religion wiederhergestellt und geschützt.21) In der Bundeslade wurden die Gesetzestafeln aufbewahrt.22) Die Darstellung Melchisedeks und der drei Könige vor der Bundeslade soll zeigen, daß sie sich Gottes Gesetzen gefügt und sie gewahrt haben.23)
Das vierte Gebot wird mit der Belehrung des jungen Tobias durch seinen Vater erläutert (Tob. 4,20); in der Darstellung zum siebenten Gebot läßt Josua Achan steinigen, da dieser gegen das Gebot Gottes vom Beutegut genommen hat (Jos. 7,19–26). Die Szene des achten Gebots zeigt die Verleumdung der Susanna und ihre Rettung durch Daniel (Daniel-Apokryphen [Theodotion] 1–63), die des neunten Gebots Achabs vergebliche Bitte um Naboths Weinberg und die Anstiftung zur Ermordung Naboths durch König Jezabel (1. Kön. 21,5–10).
August Fink hat in einem 1924/25 erschienenen Aufsatz diese Altartafel der ehem. Göttinger Fronleichnamskapelle (sie stand am Schnittpunkt der Roten Straße mit der heutigen Mauerstraße) zugewiesen, die nach ihrer Stiftungsurkunde aus dem Jahr 1319 an einem Ort erbaut werden sollte, an dem eine gestohlene Hostie wiedergefunden worden war.24) An diesen Hostienfrevel knüpfte Fink in seinem Beitrag an. Er vermutete, daß die verlorenen Szenen in der oberen Reihe der Tafel das Opfer Abrahams (1. Gebot) und die Ermordung Abels (5. Gebot) zeigten. Zusammen mit den erhaltenen Darstellungen deutete er diese Bilder als Typen zur Eucharistie, symbolisiert durch die in der Gründungsgeschichte der Kapelle erwähnte Hostie; das Urteil Sauls über Jonathan (2. Gebot) und der Gehorsam Tobias’ gegenüber seinem Vater (4. Gebot) seien Hinweise auf Christi Opfertod und dessen Gehorsam gegenüber Gott; die untere Bildreihe solle dagegen die Entdeckung des Hostiendiebstahls und die Bestrafung der Diebe andeuten.25)
Die Interpretation läßt Zweifel offen. Als Typus zur Eucharistie kann unter den hier vorhandenen Bildern lediglich Melchisedeks Opfer (3. Gebot) mit Beispielen aus mittelalterlichen Quellen belegt werden26), nicht aber die Tobias-Szene und die Verurteilung Jonathans.27) Die Belehrung des Tobias und die durch seinen Vater an ihn gerichtete Ermahnung zur Mildtätigkeit wurde dagegen als Typus zur Forderung ‚Liebe deinen Nächsten‘ und zur Parabel vom Mammon verstanden.28) Daniel als Richter über die Verleumder der Susanna (8. Gebot) galt als Hinweis auf ‚Christus als Weltenrichter29) sowie ‚Christus und die Ehebrecherin‘.30)