Inschriftenkatalog: Stadt Essen
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 81: Stadt Essen (2011)
Nr. 38 Chantilly, Musée Condé 12. Jh.
Beschreibung
Prachteinband.1) Kupfer vergoldet, graviert, punziert, Walrosszahn. Der Schmuck des Vorderdeckels besteht aus einer Kupferplatte mit vertieftem Mittelfeld und erhöhter Rahmung, in die, im Uhrzeigersinn umlaufend und in der oberen linken Ecke beginnend, eine exegetische Bildbeischrift (A) graviert ist. Im Zentrum und in den vier Ecken des Mittelfelds hat die Kupferplatte Aussparungen, in die Reliefs aus Walrosszahn (ein Kruzifix und vier Medaillons mit den Evangelistensymbolen) eingelassen sind. Der Kreuztitulus (B) befindet sich über dem Kruzifix und ist in die Kupferplatte graviert. Christus ist an ein Kreuz aus ebenen Holzplanken genagelt, während seine Füße auf einem vor den Kreuzstamm gesetzten langen Baumstamm, um den sich eine Schlange ringelt, stehen. Aus der gravierten Kontur des Kreuzes wachsen an beiden Seiten Spiralranken. An der linken Seite des Kreuzes sind Maria, der Speer und darüber ein Medaillon mit Sol graviert, auf der rechten Johannes, der ein Buch trägt,2) der Essigschwamm und ein Medaillon mit Luna.
Im Mittelfeld unten befanden sich mehrere durch Zerkratzen getilgte Inschriften: Unter dem Kreuz zwischen den beiden Medaillons sind die spärlichen Reste einer durch Linien gerahmten Inschrift zu sehen, die schräg von links unten nach rechts oben, dann waagerecht und schließlich schräg von links oben nach rechts unten verlief. Zu erkennen sind lediglich wenige Schäfte und im gravierten Kreis um das rechte Medaillon ein deutlicher Kürzungsstrich. Unter den beiden Medaillons ist ein in der Mitte zweifach geknicktes Schriftband mit Buchstabenresten (C) und Kürzungsstrichen zu sehen. Die Risse im Metall am Ende des Spruchbands rühren vermutlich von der Zerstörung der Inschrift her. Die Fläche zwischen dem Schriftband und der durch Linien gerahmten zerkratzten Inschrift ist ebenfalls zerstört, es ist nicht mehr zu erkennen, ob sich hier eine Inschrift befunden hat.
Das Evangeliar kann durch die Widmungsverse auf fol. 1r an den Anfang des 12. Jahrhunderts datiert werden.3) Als Stifter wird ein „Abbas Rotholfus“ genannt, bei dem es sich um den Werdener Abt Rudolf I. (nach 1098–um 1110?) oder seinen Nachfolger Rudolf II. (um 1110?–1115) handeln kann.4) Auf fol. 2r findet sich ein Werdener Besitzvermerk. Die Zusammengehörigkeit von Handschrift und Buchdeckel wird unterschiedlich beurteilt, im Handschriftenkatalog der Sammlung d’Aumale wird die gleichzeitige Entstehung vermutet, während Frauke Steenbock den Buchdeckel in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert.5)
Das Evangeliar gelangte nach der Säkularisation erst in die Sammlung des preußischen Regierungsrates Carl Wilhelm August Krüger, von dort 1852 in den Londoner Kunsthandel, wo es 1854 von Henri d’Orléans, Herzog von Aumale, erworben wurde.6) Der Herzog vermachte seine Sammlungen und das Schloss von Chantilly dem Institut de France, seitdem befindet sich das Evangeliar mit dem Buchdeckel in der Sammlung des Musée Condé in Chantilly.
Maße: H. 24 cm; B. 16 cm; Bu 0,5 cm (A), 0,3 cm (B, C).
Schriftart(en): Romanische Majuskel.
- A
+ · PER · POMVM · SVAVE · MO/RTEM · SVSCEPIMVS · ADAE ·PE/R · CRVCIS · EXICIVM · RE/DITVS · DATVR · IN · PARADISVM
- B
(IESVS)a) / NAZ(ARENVS) / REX / IVD(EORVM)
- C
[..]b) M[ – – – ]M[.] //NVS[ – – – ]c)
Übersetzung:
Durch den süßen Apfel erlitten wir den Tod Adams, durch den Kreuzestod wird die Rückkehr ins Paradies gewährt. (A)
Versmaß: Hexameter, leoninisch zweisilbig assonierend gereimt. (A)
Textkritischer Apparat
- Buchstabenbestand in griechischen Buchstaben: IHC.
- Mit Kürzungsstrich.
- Kürzungsstrich am Wortende.
Anmerkungen
- Musée Condé, Chantilly, Département Oise, Frankreich, Signatur Ms 16/1443.
- Die Darstellung von Johannes mit dem Buch spiegelt die traditionelle christliche Auffassung von der Identität des Jüngers Johannes mit dem Evangelisten Johannes wider, vgl. J. Beutler, Art. Johannes, Apostel und Evangelist, in: LThK3 5 (1996), Sp. 866ff.
- [Delisle/Macon], Chantilly, S. 18; vgl. Elbern, Bucheinbände, S. 152f., der eine frühere Entstehung des Codex und eine nachträgliche Eintragung des Stifterverses für möglich hält.
- Zu beiden Äbten vgl. Stüwer, GS Werden, S. 312f. Bei [Delisle/Macon], Chantilly, S. 20, werden die Lebensdaten der Äbte nach Duden, Historia, S. 23, wiedergegeben, die Stüwer irrtümlicherweise bei seiner Beschreibung des Evangeliars beibehalten hat, vgl. Stüwer, GS Werden, S. 35.
- Steenbock, Prachteinband, S. 194, Nr. 95; ihr folgend Stüwer, GS Werden, S. 35.
- Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen 3, S. 13; Stüwer, GS Werden, S. 35; Elbern, Bucheinbände, S. 150; Steenbock, Prachteinband, S. 194; [Deslisle/Macon], Chantilly, S. 20.
- Vgl. z. B. die gravierten und getriebenen Inschriften in Nr. 5, 10, 20, 27.
- Koch, Weg, S. 234.
- Z. B. DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 87; Koch, Weg, S. 235 mit Abb. 221 (Borghorster Reliquienkreuz, um 1050).
- Ins 12. Jh. datierte Inschriften mit vorwiegend kapitalem Charakter und nur vereinzelten Nexus litterarum, Enklaven etc. z. B. in Kat. Paderborn 2006, S. 370f., Nr. 469 (M. P[eter]) (Theodericuskreuz, 2. V. 12. Jh.), S. 371f., Nr. 470 (U. M[ende]) (Weihwassereimer, um 1116–1119).
- Vgl. Steenbock, Prachteinband, S. 194, Nr. 95; zu den Elfenbeinen Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen 3, S. 13, Nr. 15.
- Vgl. O. Betz, Art. Adam I, in: TRE 1 (1977), S. 414–424, besonders S. 416ff.
- Rm 5,12–19; I Cor 15,21f., 15,45ff.
- II Cor 12,4.
- P. Hoffmann, Art. Auferstehung I/3, in: TRE 4 (1979), S. 450–467, hier S. 458.
- A. Louth, Art. Paradies IV, in: TRE 7 (1981), S. 714–719, besonders S. 715.
- Augustinus, Enarrationes in psalmos 3, 101,1 (hg. v. E. Dekkers, I. Fraipont, CCL 40).
- Ambrosius Mediolanensis, De bono mortis 11, 48 (hg. v. K. Schenkl, CSEL 32).
- Schiller, Ikonographie 2, S. 142f.
- Vgl. Kahsnitz, Svanhild-Evangeliar, S. 45f.
- Vgl. Schiller, Ikonographie 2, S. 145.
- Schiller, Ikonographie 2, S. 145f.
Nachweise
- [Delisle/Macon], Chantilly, S. 20 (A).
- Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen 3, S. 13, Nr. 15 (A), mit Tf. V.
- Steenbock, Prachteinband, S. 194, Nr. 95, mit Abb. 134 (A, B).
- Elbern, Bucheinbände, S. 149 (A), mit Abb. 1, S. 146.
Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 38 (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0003804.
Kommentar
Die Inschriften A und B zeichnen sich durch die weit überwiegende Verwendung kapitaler Buchstabenformen aus. In Inschrift A sind fünf E (von acht) unzial, in Inschrift B ist ein unziales H zu sehen. Die Buchstaben zeigen unterschiedlich ausgeprägte Flächigkeit. Die Schäfte vor allem der A, M, N, T und V sowie die Balken der kapitalen und der unzialen E sind keilförmig verbreitert, und auch die Bögen bei einigen C und E sind besonders flächig. A ist spitz oder leicht trapezförmig und immer mit Deckstrich gestaltet, der Balken ist dünn. Die Sporen sind im Allgemeinen an die Schäfte und Schrägschäfte waagerecht, an die Balken und freien Bogenenden senkrecht als gerade Striche angesetzt, die teilweise feststellbare serifenartige Ausrundung ist wohl der geringen Buchstabenhöhe und der Technik zuzuschreiben. Allerdings sind bei S, einigen unzialen E und C die Bogenenden zu dreieckigen Sporen verbreitert worden. Dabei ist es aber noch nicht zum Abschluss der Buchstaben gekommen, anders als beim unzialen H in Inschrift B, wo der Abschluss durch die dünnen, geraden Sporen aber eher zufällig als absichtlich wirkt. Bei N reicht die untere Spitze, die keinen Sporn hat, nicht bis auf die Grundlinie. O ist leicht oval. Die Cauda von R geht nahtlos in den Bogen über und ist leicht geschwungen und spitz auslaufend gestaltet. Als Worttrenner wurden durchgehend halbkugelig vertiefte Punkte verwendet.
Die qualitätvolle Inschrift A zeichnet sich durch durchdachte Verteilung und Platzierung der Buchstaben auf der zur Verfügung stehenden Fläche aus. Dafür wurde eine doppelte Linierung angebracht, deren obere und untere Linie teilweise auch doppelt ausgeführt wurden, und mindestens am linken Rand ist eine Hilfslinie etwa auf Höhe des unteren Zeilendrittels dünn eingeritzt. Diese Hilfslinie ist allerdings sehr schräg geraten, eine Korrektur ist nicht zu sehen. Beim Wort PARADISVM ist zu erkennen, dass die Balken der A und der Mittelteil des M, der immer unter die gedachte Mittellinie der Zeile reicht, sich an der Hilfslinie orientieren.
Die Art der Schriftgestaltung mit ganz überwiegend kapitalen Buchstabenformen und ohne Buchstabenverschränkungen oder über- oder untergestellte Buchstaben ist in Essener Inschriften des 10. und 11. Jahrhunderts zu beobachten.7) Die Buchstaben sind breit und flächig gestaltet und mit Details, die Walter Koch als „zeichnerische Elemente“ bezeichnet hat, ausgestattet.8) Es handelt sich um den Ansatz von Kopf-, Fuß- und Schlussstrichen an Schäften, Balken und Bögen, die breiter werdende R-Cauda und die Entwicklung der Sporen. Diese Gestaltung von gravierten Inschriften, für die es für das 11. Jahrhundert viele Vergleichsbeispiele gibt,9) findet sich allerdings auch noch im 12. Jahrhundert.10) Deshalb orientiert sich die Datierung der Inschriften an den Lebensdaten der Stifter der Handschrift, auch wenn die gleichzeitige Entstehung von Handschrift und Buchdeckel nicht gesichert ist, sowie an der kunsthistorischen Einschätzung des Buchdeckels, die auf Überlegungen zum Stil der Gravierungen und der Elfenbeinreliefs beruht und als Entstehungszeit die zweite Hälfte, vorsichtig das dritte Viertel, des 12. Jahrhunderts angibt.11)
Inschrift A greift die im gesamten Mittelalter weitverbreitete typologische Gegenüberstellung von Adam als dem ersten sündhaften Menschen und Christus als dem neuen Adam auf.12) Dabei klingen die Aussagen von Paulus im Römerbrief und im 1. Korintherbrief an, nach denen durch die Sünde Adams potentiell jeder Mensch zum Sünder wurde und alle Menschen in Adam sterben.13) Erst durch den Kreuzestod Christi, der als neuer Adam dem alten, sündhaften Adam gegenübersteht, können alle Menschen in Christus wieder lebendig gemacht werden und die Auferstehung erlangen. Die in der Inschrift angesprochene Rückkehr ins Paradies, die durch den Kreuzestod ermöglicht wird, findet sich ebenfalls bereits bei Paulus.14) Die betreffende Bibelstelle kann dahin gehend ausgelegt werden, dass Paulus hier auf Grundlage der allgemein-jüdischen Jenseitsvorstellungen die Auferstehungshoffnung und die Vorstellung, dass die Verstorbenen sich im Paradies aufhalten, verbindet.15) Das Paradies steht somit für das Ziel der christlichen Hoffnung auf Auferstehung.16) Überlegungen zu Christus als neuem Adam finden sich bei den Kirchenvätern, beispielsweise bei Augustinus17) und Ambrosius von Mailand.18)
Auf Kreuzigungsdarstellungen, die die Adamstypologie aufgreifen, ist häufig Adams Schädel unter dem Kreuz abgebildet.19) Auf dem Buchdeckel sind eine Inschrift und vielleicht auch eine Darstellung im Bereich unter dem Kreuz absichtlich ausgekratzt worden. Bei der Inschrift könnte es sich um einen Stiftervermerk gehandelt haben, der für den Verkauf des Evangeliars im Kunsthandel getilgt wurde.20) Die nach oben breiter werdende ovale Form unter dem getilgten Schriftband könnte ursprünglich eine Schädeldarstellung gewesen sein.
Neben Inschrift A weist auch die Gestaltung des Kruzifixes mit der sich um einen Baumstamm ringelnden Schlange auf die Gegenüberstellung von Sündenfall und Erlösertod hin.21) In der Genesis wird neben dem Baum der Erkenntnis auch der Baum des Lebens genannt, in dem später das Material für die Herstellung des Kreuzes gesehen wurde.22) Dies kommt beispielsweise in der Präfation vom heiligen Kreuz zum Ausdruck, in der auch die Adamstypologie angesprochen wird. Auf die Antithese Lebensbaum – Kreuz weisen auch die gravierten Ranken hin, die das beinerne Kruzifix begleiten. Sie scheinen aus dem Stamm zu wachsen, der in eine in das Kupfer gravierte Kontur des eingesetzten Kruzifixes übergeht.