Inschriftenkatalog: Stadt Essen
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 81: Stadt Essen (2011)
Nr. 2† Dom vor 874
Beschreibung
Grabgedicht für Äbtissin Gerswid auf unbekanntem Träger. Der Wortlaut mit Anrede an den Leser, Grabbezeugung, Bitte um Fürbitte und Totenlob ist in teilweise voneinander abweichenden Fassungen aus dem 17. Jahrhundert überliefert. Die Abhängigkeiten der Fassungen wurden bereits von Paul Derks dargelegt.1) Für die Edition wurde die Überlieferung des Werdener Konventualen Gregor Overham (gest. 1687) zugrunde gelegt, der die Inschrift vermutlich selbst noch gesehen hat. Das Grab befand sich in der Münsterkirche.2)
Nach Overham.
Quisquis in hoc templo Christum reverenter adorata)Sit simul ipse memorb) Gersuuidaec) isthicd) tumulataeHaec aliis dives pauper sibie) rebusf) alumnis Prima monasteriumg) fundans erexerat istudExemplisque regens sanctish) monumenta reliquiti) Clara sui rerum lucris et dogmatej) morumk)
Übersetzung:
Wer auch immer in diesem Tempel Christus ehrerbietig anbetet, der sei zugleich eingedenk der hier begrabenen Gerswid. Diese war den anderen (gegenüber) reich, für sich selbst arm an Besitz. Indem sie als Erste dieses Kloster gründete, errichtete sie es für ihre Zöglinge. Weil sie durch fromme Beispiele regierte, hat sie leuchtende Andenken ihrer selbst hinterlassen, durch den Gewinn der Dinge und die Lehre der Sitten.
Versmaß: Hexameter, reimlos.
Textkritischer Apparat
- adoras Bucelinus, Binterim/Mooren.
- Sit simul ipse memor] Sit ipse simul Stangefol; Sis simul ipse memor Bucelinus; Sit simul iste memor Halfmann, Nünning; Sis memor ipse simul Binterim/Mooren.
- Gersvvinae Stangefol; Gerswinae Leibniz; Gersuidae Bucelinus; Gerswide Halfmann; Gerswidae Nünning.
- istinc Stangefol; istic Halfmann; Nünning notiert am Rand „isthic oder isthinc“.
- sibi pauper Stangefol, Leibniz (bei beiden unvollständig), Nünning.
- Nünning notiert am Rand „vilis oder rebus“.
- monasterii Nünning.
- suis Stangefol, er markiert zudem danach und vor monumenta eine Fehlstelle; propriis Leibniz.
- Bucelinus notiert nach diesem Vers eine Fehlstelle: „Desiderantur aliqua“.
- dogmatae Halfmann.
- Fehlt bei Overham, Ergänzung nach Stangefol, Leibniz, Halfmann, Nünning.
Anmerkungen
- Derks, Gerswid, S. 13–17. Er liefert eine emendierte Version.
- Seemann, Aebtissinnen, S. 1. Seit Mitte des 19. Jh. herrschte die Meinung vor, Gerswid sei vor Vollendung der Münsterkirche gestorben und in der Quintinskapelle, die anscheinend vor der Münsterkirche fertiggestellt worden sein soll, begraben worden, vgl. dazu Derks, Gerswid, S. 19f.
- Ven. Fort., carm. 4,20 (hg. v. F. Leo, MGH AA 4,1, S. 92).
- Goffart, Forgeries, S. 35, Anm. 18. Die beiden ersten Zeilen fehlen in der Edition von Dümmler in MGH Poetae 2, S. 636.
- Zu der Grabinschrift vgl. Scholz, Neuenheerse, passim.
- Huth, Sakramentarhandschrift, S. 246, Anm. 171, und Schilp, Gründung, S. 37f., schließen eine spätere Entstehung nicht aus. Schilp schlägt die Zeit des Wiederaufbaus nach dem Brand von 946 vor. Bodarwé, Sanctimoniales, S. 36, nimmt eine Entstehung im 9. Jh. an und weist auf die vergleichbare Grabinschrift Walburgs von Neuenheerse hin. Zu den ‚Nomina defunctorum’, vgl. Huth, Sakramentarhandschrift, S. 217 (zur Datierung der Liste) und S. 243.
- Zum Beispiel DI 31 (Aachen Dom), Nr. 6; DI 43 (Rheingau-Taunus-Kreis), Nr. 3; DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 32ff.
- DI 70 (Stadt Trier 1), Nr. 38.
- Zur Diskussion um den Gründungsvorgang vgl. v. a. Derks, Gerswid, S. 17ff., 85–95, 157f.; Schilp, Gründung, passim; ders., Gründungsurkunde, S. 153–156.
- ULB Düsseldorf, Ms. D1; Edition der Namenslisten und des Nekrologs bei Huth, Sakramentarhandschrift, S. 241–279.
- Huth, Sakramentarhandschrift, S. 243.
- Schilp, Gründung, S. 43, zeigt, dass in Essen, wie bei fast allen Gründungen religiöser Frauengemeinschaften in Sachsen, nicht von einer gründenden Einzelperson, sondern von einer Gründerfamilie oder -gruppe ausgegangen werden muss. Ähnlich argumentierte bereits Humann, Bautheile, S. 95, Anm. 1, der ein näheres Verwandtschaftsverhältnis zwischen Gerswid und Altfrid vermutete, da sie als „Mitgründerin“ bezeichnet wird.
- Ribbeck, Necrologium, S. 135.
- Vgl. Fischer, Neuanlage, S. 278f.
- Arens, Liber ordinarius, passim.
- Seemann, Aebtissinnen, S. 1; Hiltrop, Catalogus, S. 455.
Nachweise
- Overham, Annalen, S. 54.
- Stangefol, Annales 2, S. 153.
- Bucelinus, Germania 2, S. 143.
- Leibniz, Werke, S. 19f.
- Abschrift der Chronik Halfmanns (gest. 1708), Foto bei Müller, Geschichtsschreibung, im Abbildungsteil.
- Müller, Geschichtsschreibung, S. 10 (= Nünning).
- Funke, Geschichte, S. 42 (die ersten beiden Verse).
- Binterim/Mooren, Erzdiöcese, S. 453.
- KDM Essen, S. 54.
- Kraus, Inschriften 2, S. 292, Nr. 633.
- MGH Poetae 4, hg. v. B. Krusch, S. 1042.
- Korte, Geschichte, S. 15.
- Zimmermann, Münster, S. 206.
- Huth, Sakramentarhandschrift, S. 246.
- Derks, Gerswid, S. 13–17 (Wiedergabe der verschiedenen Überlieferungen, emendierter Text mit Übersetzung).
- Schilp, Gründung, S. 37f., Anm. 33, mit Übersetzung.
- ders., Gründungsurkunde, S. 154, Anm. 24.
- Bodarwé, Sanctimoniales, S. 36.
Zitierhinweis:
DI 81, Stadt Essen, Nr. 2† (Sonja Hermann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di081d007k0000204.
Kommentar
Der Beginn des ersten Verses erinnert an ein Grabgedicht des Venantius Fortunatus, das ähnlich anfängt: „Quisquis in hoc tumulo cineres vis nosse sepulti“.3) Der Versanfang fand auch in karolingischer Zeit Verwendung, z. B. für eine von Bischof Aldric von Le Mans (gest. 857) verfasste Grabinschrift.4) Das Grabgedicht für Gerswid weist auch Übereinstimmungen mit der Grabinschrift für Walburg, der ersten Äbtissin des Stifts Neuenheerse, auf.5) Beide Äbtissinnen haben die Errichtung ihres Klosters veranlasst und standen diesem dann vor; Gerswid errichtete als Erste (prima … erexerat), Walburg regierte als Erste (prima rexit). Auch die in Grab- und Memorialinschriften übliche Betonung der guten Beispiele, die diese Äbtissinnen ihren Gemeinschaften vorlebten, findet sich in beiden Inschriften.
Der Vergleich des Essener Grabgedichts mit diesen anderen Beispielen aus dem 9. Jahrhundert zeigt, dass nichts gegen die zeitgenössische Entstehung nach dem Tod Gerswids spricht. Die Äbtissin steht an der Spitze der kurz nach 874 angelegten Liste der ‚Nomina defunctorum’ des Essener Stifts, sie starb demnach vor 874.6) Auch das Versmaß, der reimlose Hexameter, ist für Inschriften des 9. Jahrhunderts häufig belegt.7) Für das Fehlen des Todestags, der in der Wiedergabe der Inschrift von Leibniz ergänzt wurde, gibt es ein Vergleichsbeispiel vom Ende des 9. bis Anfang des 10. Jahrhunderts aus Trier.8)
Die Grabinschrift ist die einzige Quelle, die die Beteiligung Gerswids an der Gründung des Stifts Essen thematisiert; seit Mitte des 10. Jahrhunderts wird fast ausschließlich Altfrid, Bischof von Hildesheim, als Gründer verehrt.9) Die Bedeutung der ersten Äbtissin in der Frühzeit des Stifts ist allerdings auch aus anderen Quellen zu erschließen. Dabei ist zunächst das älteste Essener Sakramentar zu nennen, das nach 874 nach Essen gelangte und dort von einem Werdener Schreiber mit Namenslisten und einem Kalendarium ausgestattet wurde.10) Die kurz nach dem Tod Alftrids 874 angelegten Listen mit den Namen der Lebenden und den Namen der Verstorbenen (‚Nomina vivorum’ und ‚Nomina defunctorum’) stellen die ältesten Memorialzeugnisse des Stifts dar. Gerswid wird in der Liste der Verstorbenen an erster Stelle genannt, im Kalendarium ist ihr Name von der anlegenden Hand am 30. Dezember eingetragen.11) Sie bildete also, sicherlich gemeinsam mit ihrer gleichnamigen Nachfolgerin, die an der Spitze der ‚Nomina vivorum’ eingetragen ist, zusammen mit Altfrid den Kern der Personengruppe, die um 850 die Gründung des Stifts veranlasst hat.12)
Diese Memorialzeugnisse sind für lange Zeit der einzige Hinweis auf eine besondere Rolle Gerswids für das Stift. In einem Ende des 13. Jahrhunderts angelegten Nekrolog ist für die Feier ihres Anniversars zwar eine Messe (ohne Vigilien) vermerkt,13) im Vergleich mit Anniversarfeiern anderer Essener Äbtissinnen, für die bis zu vier Messen gelesen wurden, ist dies aber recht wenig.14) Im Liber ordinarius der Essener Kanoniker vom Ende des 14. Jahrhunderts ist ihr Todestag nicht erwähnt.15) Erst die Äbtissinnenkataloge vom Ende des 16. Jahrhunderts weisen Gerswid wieder einen besonderen Status zu, indem dort, ohne weiteren Beleg allerdings, behauptet wird, dass sie die Schwester Bischof Altfrids sei.16)