Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)

Nr. 21 Dom St. Blasii E. 12. Jh.

Beschreibung

Kruzifix; sog. Imervardkreuz. Sein Standort ist heute an der Ostwand des nördlichen Seitenschiffes. Im 18. Jahrhundert, möglicherweise auch früher, war es in der Krypta, danach im Turmgewölbe abgestellt, hing jedoch seit 1861 wieder in der Apsis des nördlichen Querschiffes. Das aus drei Eichenholzteilen geschnitzte Kreuz trägt den mit offenen Augen blickenden, lebenden Christus, bekleidet mit einer bis zur halben Wade reichenden Tunika, gegürtet mit einem Bindegürtel. Auf den herabhängenden, leicht verbreiterten Enden ist links der Name des Künstlers oder Stifters, rechts das me fecit als Fertigungsvermerk eingeschnitten. Die ursprüngliche Farbfassung des heute in Brauntönen gehaltenen Gewandes war purpur, das Untergewand grün, Fleischtöne grau-grünlich, die Haare rötlich umbra1). Eine jüngere, blau-schwarze Farbfassung mit goldenen Punkten oder Sternen war darübergelegt. Nageleindrücke lassen einen Kronreif oder eine Dornenkrone auf dem Kopf vermuten, Schnitzteile an den Fußenden ein einst vorhandenes Suppedaneum. Der Gürtel war mit Goldblech beschlagen, wahrscheinlich war darunter die Inschrift in der jüngeren, blau-schwarzen Farbfassung verdeckt2). Das Hinterhaupt der Christus-Figur diente als Reliquienbehälter. Die darin befindlichen Reliquien wurden 1881 entfernt und in die Mittelsäule des Marienaltars gelegt3).

Maße: H. (des Kreuzstammes): 271 cm; Br.: 266 cm; Bu.: ca. 1,5 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [1/1]

  1. IMERVARDa) ME FECITb)

Übersetzung:

Imervard machte mich.

Kommentar

Das Kruzifix ist im späten Mittelalter als weibliche Märtyrerin St. Era, auch ‚hl. Kümmernis‘ genannt, verehrt worden. Ihr war in der Krypta des Domes, wo das Kruzifix stand, ein Altar geweiht4). Auf Grund der schwarz-blauen Farbfassung, mit der das späte Mittelalter die Jungfrau Era in Verkennung der älteren Aussage des Kruzifixes bekleidet hatte, hat man in ihm die von Heinrich dem Löwen mit Reliquien ausgestattete, verschollene crux nigra erkennen wollen5). Da aber die 1881 im Hinterhaupt gefundenen Reliquien mit dem Reliquienverzeichnis der crux nigra von 1311/12 nicht übereinstimmen, läßt sich das Imervardkreuz auf diese Weise nicht identifizieren. Seine Herkunft und Entstehungszeit sind unbekannt. Haussherr sah es als eine Replik des seit dem 11. Jahrhundert im Dom zu Lucca verehrten Volto Santo an, dessen Urbild nicht dokumentiert ist, dessen Nachbildung als Vorlage für den Bildschnitzer des Imervardkreuzes aber nicht in Frage kommt6). Der ikonographische Typus weist auf die mit dem Volto Santo zusammenhängende Gruppe der katalanischen Majestades hin, die Verkörperungen der Maiestas Christi in der Parusie7). Für sie trifft auch die Deutung zu, die Haussherr als Interpretation des Imervardkreuzes nach dem Volto Santo-Typus gab: die Vision des Menschensohnes in Apc. 1,13 vestitum podere et praecinctum ad mamillas zonam auream. Sauerländer erwägt die Möglichkeit, daß das Kruzifix eine Auftragsarbeit Ottos IV. war, der 1209 in Lucca weilte und urkundete. Die für ihn von Gervasius von Tilbury verfaßten ‚Otia imperialia‘ befassen sich ausführlich mit dem Erlebnis des Volto Santo, wobei auch die geöffneten Augen der Christusfigur erwähnt werden8). Eine ähnliche Stifter- oder Künstlerinschrift auf herabhängenden Gürtelenden trägt der sog. Wolfram, ein aus Bronze gegossener Figurenleuchter des 12. Jahrhunderts im Erfurter Dom9).

Textkritischer Apparat

  1. Unziales M; die mittlere Haste ist nur durch die nach innen gerundete erste Haste angedeutet. Schaller, S. 68, liest das unziale M als liegendes G.
  2. Das C im unteren Teil durch einen Schrägstrich durchstrichen wie eine Cedille.

Anmerkungen

  1. Vgl. Dorn, S. 218.
  2. Oder mit Farbe übermalt; dafür spricht auch, daß Rehtmeyer, der sonst bemüht ist, alle Inschriften wiederzugeben, die Inschrift auf den Gürtelenden nicht gesehen hat.
  3. Vgl. Möller, S. 113.
  4. „In dieser Capell stehet ein Crucifix in Mannes Groess und Weiblichen Habit ... von welchem man im Pabstthum vorgegeben, es sey das Bildnis der so genandten Jungfrau Erae ... so aber mehr den Fabeln als der Warheit ähnlich ist. Vielmehr wird gemuthmaßet, daß diese Statua etwa von eines Bildschnitzers Lehr-Jungen gemacht und Christi oder des Apostels Andreae Bildniß seyn sollen ...“; Rehtmeyer, Kirchen-Historie 1, S. 99f.
  5. Vgl. Willibald Sauerländer, Imervardkreuz, in: Kat. Die Zeit der Staufer 1, Nr. 462, S. 343f.; ebenso Dorn, S. 218.
  6. Vgl. Reiner Haussherr, Das Imervardkreuz und der Volto-Santo-Typ. In: Zs. für Kunstwissenschaft 16, 1962, S. 129–170. Dagegen Anton Legner, in: Kat. Stadt im Wandel 2, Nr. 1014, S. 1152f. (mit ausführlichem Literaturverzeichnis).
  7. Vgl. Legner (wie Anm. 6).
  8. Vgl. Sauerländer (wie Anm. 5).
  9. Vgl. Hans Gerhard Meyer, Der Erfurter Wolfram und die Magdeburger Wettinwerkstatt, in: Martin Gosebruch (Hg.), Der Braunschweiger Burglöwe. Bericht über ein wissenschaftliches Symposion in Braunschweig vom 12. 10. bis 15. 10. 1983, Göttingen 1985 (Schriftenreihe der Kommission für Niedersächsische Bau- und Kunstgeschichte bei der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Bd. 2), S. 135–153, hier S. 151.

Nachweise

  1. Abb.: Kat. Die Zeit der Staufer 2, Abb. 264; Gosebruch, 1980, S. 73, 76f., 80; Kat. Stadt im Wandel 2, Nr. 1014, S. 1153.
  2. Lit.: wie Anm. 1, 5, 6.

Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 21 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0002104.