Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 35: Stadt Braunschweig I (1993)

Nr. 65 Herzog Anton Ulrich-Museum 2. H. 14. Jh.

Beschreibung

Wandteppich; Wollstickerei auf Leinwand. Der nur in seiner linken Hälfte erhaltene und stark beschädigte Teppich ist heute aus drei Teilen zusammengefügt. Der linke, größere Teil mit seitlicher Randborte gibt in drei untereinandergesetzten Reihen Szenen aus dem ‚Parzival‘ des Wolfram von Eschenbach, Buch X–XIII, wieder1). Unter den Bildreihen befinden sich, mit abwechselnd roten und blauen Buchstaben auf weißen Schriftbändern, die Inschriften A–C. Die dritte Reihe wird bis zum bruchstückhaften rechten Rand ergänzt durch eine Folge von sechs Szenen, das untere Schriftband fehlt, dafür ist das Schriftband der oberen, zweiten Bildfolge erhalten (D), darin jedoch nur die Fußleiste der Bilder, so daß der Zusammenhang nicht erkennbar ist. Als drittes Teil ist ein fast quadratisches Stück mit einer einzelnen Szene und dem rechten Randabschluß erhalten. Die untere Inschrift ist abgeschnitten2). Der Zusammenhang zwischen den Bildreihen und dem zugrundeliegenden Text stellt sich folgendermaßen dar: 1. Reihe: 1. Gawan und Orgeluse zu Pferd im Walde (‚Parzival‘ X, 534,11ff.; Wappen: Gawan mit senkrecht weiß-rot gestreiftem Schild, ebenso auch im ersten bis dritten Bild der zweiten Reihe). 2. Orgeluse läßt sich vom Fährmann übersetzen. Gawan steht am Ufer und bittet vergeblich, sie begleiten zu dürfen (X, 535,1–536,9). 3. Gawans Kampf mit Lischoys Gwelljus zu Pferde (X, 536,10–537,10; Lischoys Wappenschild: grüner Stern auf violettem Grund). 4. Gawans Kampf mit Lischoys Gwelljus zu Fuß (X, 537,11ff.). Hier schließt das Bruchstück des dritten Teils mit dem rechten Randabschluß an: 5. Gawan verabschiedet sich von der Tochter seines Gastgebers, um zum Schastel Marveile zu reiten (XI, 562,7ff.; Gawan mit Lischoys Schild). – 2. Reihe: 1. Gawan kommt zum Krämer auf der Burg, kauft einen Gürtel und übergibt dem Krämer sein Pferd zur Aufbewahrung (XI, 562,21–564,22). 2. Gawan im Schastel Marveile vor dem Bett Lit Marveile (XI, 566,11ff.). 3. Er liegt im Bett und wird von einem Armbrustschützen mit einem Pfeilhagel, von einem Steinschleuderer mit dicken Steinen beschossen (XI, 568,25ff.)3). 4. Ein Mann mit Keule steht in der Tür, Pfeile und Steine fliegen noch durch den Raum. Gawan ersticht den Löwen, der vor ihm den Rachen aufsperrt (XI, 569,27ff.; 571,12ff.; 573,16ff.; Gawan mit violettem Schild mit unkenntlicher gelber Figur). 5. Fragment einer Szene mit zwei von links in den Raum spähenden Frauen. Darüber, durch ein Fenster blickend, der Kopf eines Mädchens (XI, 574,1ff.)4). – 3. Reihe: 1. Gawans Kampf mit Florant, der halb vom Pferd sinkend dargestellt ist (XII, 597,1ff.; in den ersten drei Szenen Gawan mit grünem Wappenschild mit nicht erkennbarer Schräglinks-Figur). 2. Gawan reitet im Wald mit Orgeluse, die auf einen Zweig deutet, den ihr Gawan verschaffen soll (XII, 601,25ff.). 3. Gawan zu Pferde im Wald, danach zu Fuß, einen blühenden Zweig brechend (XII, 602,28–603,29). 4. Gawan auf springendem Pferd begegnet dem ebenfalls berittenen König Gramoflanz (XII, 604,7ff.). Die Stickerei bricht am rechten Rand des Bildes stark beschädigt ab. 5. Gawan überreicht Orgeluse einen Kranz aus Blättern und Blüten (XII, 612,1–20). 6. Beide setzen mit dem Fährmann in einem Boot über (XII, 621,29f.). 7. Sie reiten auf die Burg, Reiter mit Fanfaren kommen ihnen entgegen (XII, 624,14ff.). 8. Vier Personen, darunter Orgeluse, eine weibliche Figur mit Krone (Arnive?) und zwei männliche Figuren sitzen in einem spitzbogig gewölbten Gemach oder vor einem Bogenfenster5). 9. Mit fünf Personen besetzte Festtafel. Erkennbar sind Orgeluse, Königin Arnive, Gawan und Florant; von rechts kommt ein Diener mit Speisen (XIII, 636,15–637,14).

Die Teile des Wandteppichs kamen mit anderen textilen Überresten 1877 aus dem Kreuzkloster vor Braunschweig an das Herzogliche Museum. Nach Tracht, Rüstung und der Reithaltung der Ritter wird das Stück in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert6).

Maße: H.: 155 cm; Br.: 437 cm; Bu.: 3,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen [1/1]

  1. A

    VROWEN · VP · DAT · PERT · DE · V[ER]·WNDEDEa) · RITTER · SPRA[.]b) [...]

  2. B

    DAT · SCEPc) · GAWAN · MIT · LISOYS · STREIT · VN · ER · EEd) [...]

  3. C

    [S]IN · PERT · WEDER · DE · SCEPMAN · WOLDE · DEN · TOLEN7) · HANe) · GAW[AN]

  4. D

    DAR·[NA]f) QVAM · HE · VP · CASTELg)·MARVEILE · DAR · EM · VELh) [...]

Kommentar

Auffällig ist das breite A mit weitem linken Anstrich, hoch angesetztem Querstrich und breitem Deckbalken. I und T haben breite Sporen und am Schaft einen querovalen Nodus. In Inschrift D sind die vorderen Hasten des unzialen M in MARVEILE o-förmig geschlossen. – Die Inschriften beziehen sich nicht unmittelbar auf die dargestellten Szenen; sie sind nicht als Bildbeischriften, sondern inhaltlich eher als Kommentare, formal als Schmuckelemente zu sehen8). Inschrift A bezieht sich auf die Begegnung Gawans mit Urians, den verwundeten Ritter, den er pflegt, der aber mit seinem Pferd davonreitet, während Gawan seiner Dame auf Urians Pferd hilft9). Die Inschriften B und C beziehen sich auf die im rechten, nicht erhaltenen Teil der zweiten Bildreihe dargestellten vier Szenen: Gawan besiegt Lischoys und erhält sein Pferd Gringuljet zurück, das Lischoys Urians abgewonnen hatte. Lischoys selber ist der ‚Zoll‘, den Gawan dem Fährmann gibt. Inschrift D bezieht sich auf die zweite und dritte Bildreihe. Die erhaltenen elf Szenen lassen sich mit Hilfe der Inschriften und im Zusammenhang mit den Fragmenten des Teppichs zu einer in sich geschlossenen Folge der Gawan-Aventiure zusammenfügen10). Der Teppich zeigt mit der Begegnung Gawans und Orgeluses „eine vorbildhafte Minne-Aventiure“11) und paßt sich somit in die Tradition vieler Bildzeugnisse höfischer Stoffe ein: „Minne und Aventiure als die zentralen Handlungs- und Wertungsmuster“12). Die Ähnlichkeit der Vorzeichnungen und der Bildanlage bei den architektonischen Formen, der Darstellung der Pferde, der ritterlichen Ausrüstung und der weiblichen Tracht zwischen dem vorliegenden Teppich aus dem Kreuzkloster und dem jüngsten der drei Wienhäuser Tristan-Teppiche (Wienhausen III) wurde von Schuette mit einer Gebets- und Stickgemeinschaft der beiden Klöster erklärt13). Eine Entstehung beider Teppiche in der gleichen Werkstatt, dem Braunschweiger Kreuzkloster, wie Ott annimmt14), kann aufgrund der Bezüge von Wienhausen III zu den beiden anderen Stücken der Tristan-Reihe nicht angenommen werden. Zudem weichen die Buchstabenformen voneinander ab: Der Tristan-Teppich zeigt nicht die Eigenart, C und E in der gleichen Form wiederzugeben.

Textkritischer Apparat

  1. WNDE Schuette.
  2. SPRA[K] Riegel, sprang Schuette. Der Rest der Inschrift und der Bildreihe ist zerstört bis auf die letzte Szene mit abgeschnittener Inschrift.
  3. C und E sind auf allen vier Spruchbandteilen identisch als E ausgestickt; scep, scepman = ‚Schiff‘, ‚Fährmann‘.
  4. un · crec· h[e.] Schuette, VN ERECH Riegel.
  5. Fehlt bei Schuette.
  6. Ergänzt nach Schuette, heute nicht mehr lesbar.
  7. Auch hier C und E identisch ausgestickt.
  8. Die untere Schriftreihe weist Abnutzungsspuren durch Anlehnen auf.

Anmerkungen

  1. Karl Lachmann (Hg.), Wolfram von Eschenbach, Bd. 1: Lieder, Parzival und Titurel, Berlin 71952, S. 241–319.
  2. Zu Erhaltungszustand, Farbgebung und Sticktechnik vgl. Schuette 2, S. 8 und Taf. 3.
  3. Schuette sah drei Figuren; vgl. aber Norbert H. Ott, Geglückte Minne-Aventiure. Zur Szenenauswahl literarischer Bildzeugnisse im Mittelalter. Die Beispiele des Rodenecker Iwein, des Runkelsteiner Tristan, des Braunschweiger Gawan- und des Frankfurter Wilhelm-von-Orlens-Teppichs, in: Jb. der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 2, 1982/1983, S. 1–32, hier S. 11.
  4. Der Rest des Bildes ist zerstört. Schuette nahm an, daß sich in dieser Reihe noch vier weitere Szenen anschlossen. Ott (wie Anm. 3), S. 11, ergänzt nach dem Text, daß die Pflege durch Arnive und Gawans Aufbruch zum Kampf mit Florant dargestellt waren.
  5. Schuette 2, S. 10, Anm. 1, interpretierte die Szene als Werbung Gawans bei seiner Schwester Itonje für Gramoflanz; vgl. Ott (wie Anm. 3), S. 12.
  6. Schuette 2, S. 12. Riegel, S. 22, hatte die aus dem Braunschweiger Kreuzkloster stammenden gestickten Teppiche noch generell auf Ende des 15. Jahrhunderts datiert.
  7. ‚Zoll‘, vgl. Schiller/Lübben 4, S. 571b.
  8. Norbert H. Ott, Epische Stoffe in mittelalterlichen Bildzeugnissen, in: Volker Mertens/Ulrich Müller (Hgg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984, S. 449–474, hier S. 460f., hält es für müßig, der Frage gelungener oder verfehlter Textrezeption nachzugehen. Die Anordnung der Bildreihen gebe vielmehr das populäre Gesamtverständnis, ein Gedächtnisbild des gehörten oder gelesenen Epos wieder; vgl. auch Ott (wie Anm. 3), S. 10.
  9. Diese Szenen befanden sich wahrscheinlich in der heute fehlenden, oberen rechten Bildreihe; vgl. Ott (wie Anm. 3), S. 10.
  10. Vgl. Ott (wie Anm. 3), S. 9–13.
  11. Ebd., S. 9.
  12. Ebd.
  13. Identisch sind z. B. auch Helmzier, Sporenrad und Pferdedecke Gawans und Tristans; vgl. Schuette 1, S. 12 und Taf. 7–9, 25, 26.
  14. Ott (wie Anm. 3), S. 9 Anm. 19 und S. 12; dieselbe Zuordnung an das Kreuzkloster bereits in Otts Katalog der Tristan-Bildzeugnisse, in: Hella Frühmorgen-Voss: Text und Illustration im Mittelalter. Aufsätze zu den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst, hg. und eingeleitet von Norbert H. Ott, München 1975 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 50), S. 140–171, hier S. 149f.

Nachweise

  1. Abb. und Lit.: wie Anm. 3; Schuette 2, S. 8f. und Taf. 3; Riegel, S. 24–26.

Zitierhinweis:
DI 35, Stadt Braunschweig I, Nr. 65 (Andrea Boockmann), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di035g005k0006506.