Inschriftenkatalog: Stadt Xanten

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 92: Stadt Xanten (2017)

Nr. 98 St. Viktor, nördliches Seitenschiff um 1524

Beschreibung

Altarflügel, sog. Annenflügel. Öl auf Eichenholz. Sie gehörten zum 1524 gestifteten Retabel des Annenaltars, der 1753 abgebaut und durch einen neuen Altar ersetzt wurde.1) Das Mittelstück des ursprünglichen Retabels ist verloren. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Flügel an den ersten beiden frei stehenden Bündelpfeilern im Chor befestigt;2) 1905 wurden sie bei der Neugestaltung des Martinsaltars durch Ferdinand Langenberg aus Goch an den geschnitzten Altarschrein angesetzt und sind heute mit diesem an Pfeiler 32 angebracht.3) Außen- und Innenseiten der Annenflügel ergeben jeweils eine Darstellung eines Teils der Heiligen Sippe.4) Auf den Außenseiten der Flügel sitzen einander zugewandt Maria mit Kind und ihre Mutter Anna in einem durch Rundbögen und Fenster strukturierten Innenraum auf einer Prunkbank (Namensbeischriften A und B in den Nimben). Das auf Marias Schoß stehende Jesuskind streckt die Arme nach Anna aus, die ihm eine Birne reicht. Hinter Maria steht ihr Bräutigam Joseph, hinter Anna deren Mann Joachim. Beide stützen sich auf die Armlehne der Bank und weisen auf das nackte Kind hin.5) Auf der Rückwand der Bank ist rechts eine kleine Tafel mit einem biblischen Gebetstext in Niederländisch (C) angeschlagen. Verstreut liegen rote und weiße Rosen auf dem Podest der Bank sowie dem Boden, zwei Engel halten eine Fruchtgirlande über der Gruppe. Im Vordergrund links kniet der Stifter Heinrich Graet van Holt mit seinem Wappen.

Auf den Innenseiten der Flügel ist die Szene in einen offenen Erker situiert, dessen Arkaden den Blick auf eine befestigte Hafenstadt am Fluss (links) und einen Bauernhof in sommerlicher Landschaft (rechts) freigeben. Auf einem Podest erhöht sitzen die Stiefschwestern der Gottesmutter Maria. Links die jüngste der Schwestern, Maria Salome (mit Beischrift D), auf ihrem Schoß Johannes der Evangelist als nacktes Knäblein (E). Zu ihren Füßen steht Jakobus der Ältere als Knabe (F), hinter ihr ihr Mann Zebedaeus, der auf die Mutter-Kind-Gruppe hinweist (G). Auf der Holzbank des Erkers links liegt auf einem roten Brokatkissen ein aufgeschlagenes Buch mit einem niederländischen Gebetstext, dem Anfang der sieben Bußpsalmen (H). Der Text ist in schwarzer Tinte ausgeführt, die beiden ersten Zeilen und einzelne Buchstaben sind rot hervorgehoben. Darüber hängt ein Konvexspiegel, in dessen Ornamentrahmen eine Buchstabenreihe eingearbeitet ist (I). Die Lesereihenfolge ist nicht gesichert, vorgeschlagen wird hier, die drei Buchstaben der oberen Hälfte vor der unteren Hälfte zu lesen. Rechts sitzt die mittlere der Schwestern, Maria Kleophas (J), mit ihren vier Kindern: auf ihrem Schoß sitzt Jakobus der Jüngere (K), Judas Thaddäus (L) schmiegt sich an die Mutter an, die ihren Arm auf das Haupt des Knaben legt, zu ihren Füßen reicht Joseph Justus (M) dem sitzenden Simon Zelotes (N) eine Birne. Hinter ihr steht ihr Mann Alphäus (O), der in seiner Linken einen Rosenkranz hält. Mit Ausnahme der Nimbeninschriften der Muttergottes und der hl. Anna sind die Namensbeischriften über oder unter der dargestellten Person ins Bild eingefügt. Auf den Außen- und Innenseiten der Annentafeln befinden sich unterhalb der Darstellungen jeweils zweizeilige lateinische Inschriften auf separaten Schrifttafeln, die in das Rahmenwerk integriert sind. Sie wurden erst bei der Umarbeitung der Tafeln Anfang des 20. Jahrhunderts durch Ferdinand Langenberg angebracht.6) Restaurierungen erfolgten vor 1904 durch Fridt (Köln) und 1958/59 durch R. Perret, Moers.7)

Siehe Lageplan.

Maße: H. 147 cm; B. 76 cm; Bu. 1,7 cm (A, B), 0,7 cm (C–H, J–O).

Schriftart(en): Gotische Minuskel bzw. Textura mit Versalien (A–H, J–O), frühhumanistische Kapitalis (I).

Kath. Propsteigemeinde St. Viktor Xanten (Foto Michael Saint-Mont) [1/8]

  1. A

    · Sanctaa) · maria · mater · dei

  2. B

    · Sancta · anna · mater · ma(riae)b)

  3. C

    Dit is die miserer / die dauid makten / Got ontferemt o / mi(n)rec) na owerd) gr/oter barmhertic/heṇte) end na men/nichfuldicheit dij(n)/re ontfermenis / doet af min boe/sheit Wassche my / voert mer van t / mij(n)re boesheitf)8)

  4. D

    maria Salome

  5. E

    ioha(n)nes eua(n)ge(lista)g)

  6. F

    iacobus maior

  7. G

    zebedeus

  8. H

    Dit sint de seuen / salmen van d(avid) / here in dinre ver/bolgenheit en st/rafe mi nit in d/inen torn en be/rispe mi niet etc.h) / Ontfermti) di m[i]/nder here wanj) / ik kranck bink) //l) maect mi geso(n)t / want alle mi(n) / ghebeetenm) si(n) / mede gestotn) / Ende mi(n) sil/e is alte ser / ghestorto)9)

  9. I

    A // Vp) // A // Ạ // V // IEHq)

  10. J

    maria cleophe

  11. K

    Jacobus minor

  12. L

    iudas thadeus

  13. M

    Joseph iustus

  14. N

    Symon

  15. O

    Alpheus

Übersetzung:

(C) Dies ist der Bußpsalm, den David schuf. Gott, erbarme dich meiner gemäß deiner großen Barmherzigkeit und der Mannigfaltigkeit deines Erbarmens, nimm hinweg meine Bosheit. Reinige mich (weiter) von meiner Bosheit.

(H) Dies sind die sieben Psalmen Davids.10) Herr, in deiner Wut strafe mich nicht, in deinem Zorn rüge mich nicht. Nimm dich meiner an, Herr, denn ich bin krank. Lass’ mich genesen, denn all meine Glieder sind verkrampft (wörtlich: gestört), und auch meine Seele ist tief verstört.11)

Wappen:
Graet van Holt12)

Kommentar

Mit besonderer Sorgfalt sind die Namensbeischriften Mariens und der hl. Anna ausgeführt. Die Verwendung von Worttrennern in Form von Quadrangeln und der ornamental gestaltete S-Versal unterstreichen die graphische Wirkung der vor dem dunklen Grund leuchtend hervortretenden Buchstaben. Die übrigen Namensbeischriften hingegen sind als kurze Zeilen in dunkler Farbe unauffällig ins Bild gesetzt. Dort trägt die gotische Minuskel ausgeprägte Ober- und Unterlängen sowie die für die späte Ausprägung der Schrift typischen Zierformen (gespaltene Oberlängen, zum Zierstrich reduzierter Balken beim e, Zierlinien und -bögen bei e, r, s und am Bogen des h). Die Versalien der Namensbeischriften verwenden Formen der Fraktur. Für die Gebetstexte auf der Tafel und im Buch hingegen wurde mit der Textura eine (der gotischen Minuskel eng verwandte) zeittypische Buchschrift gewählt, die rubrizierten Versalien stammen aus der gotischen Majuskel. Der Maler stellt auch seine Kenntnis der frühhumanistischen Kapitalis unter Beweis, die er für Zierbuchstaben auf dem Spiegelrahmen verwendet (I). E ist dort unzial, das H hat einen beidseitig über die Schäfte hinaus verlängerten, geschwungenen und ausgebuchteten Balken. A hat einen kräftigen Deck- und einen gebrochenen, beide Schäfte kreuzenden, geschwungenen Mittelbalken. Die Form des V ist der des A angenähert, indem ein entsprechend gestalteter Mittelbalken als Zierelement in die Schäfte eingefügt wurde. Eine Deutung der Einzelbuchstaben steht noch aus, die Buchstabenfolge IEH mag als Beginn des Namen Jesu zu verstehen sein.

Der Annenaltar war 1471 gegründet worden und wurde 1524 vom Xantener Kanoniker Heinrich Graet mit einem Retabel ausgestattet.13) Die Flügel wurden nach Einschätzung der neueren kunsthistorischen Forschung aus diesem Anlass von Jan Baegert aus Wesel gemalt.14) Heinrich Graet van Holt ist 1510–1526 als Kanoniker in Xanten15) sowie 1514–1517 und 1519 als Kellner bezeugt.16) Die Successio erwähnt noch sein Amt als Präsenzmeister in den Jahren 1515 und 1521–1523, die Stiftsurkunden sein Rektorat des Petrusaltares in der Stiftskirche St. Kosmas und Damian in Essen17) und sein Amt als Pfarrer der Kirche in Keppeln.18) Er starb am 19. Januar 1526.

Die volkssprachlichen Bibelzitate C und H basieren vermutlich auf der niederländischen Psalterübersetzung der Devotio moderna, der eine Übersetzung des Begründers dieser geistigen Bewegung, Geert Grote aus Deventer (1383–1384), zugrunde gelegen hat.19) Es handelt sich dabei um eine der drei Hauptübersetzungen der Psalmen ins Niederländische,20) die wiederum in zwei Fassungen auf uns gekommen ist. Eine Standardübersetzung ist in einem Psalter in Den Haag überliefert, eine Mischform in einer Handschrift in Leiden. Die Inschriften am Annenaltar stimmen stärker mit dem Standardtext der Devotio moderna überein als mit der Mischform. Da es jedoch kleine Abweichungen gibt, dürfte hier eine andere Übersetzung, die dem Standardtext aber sehr nahe stand, als Vorlage gedient haben.21)

Die Genealogie der Heiligen Sippe geht auf die Vorstellung eines Trinubiums der Mutter Anna in der Legenda aurea des Jakobus de Voragine (†1298) zurück.22) Danach soll die hl. Anna nacheinander Ehefrau des Joachim, des Kleophas und des Salome gewesen und von jedem ihrer Ehemänner Mutter einer Maria geworden sein. Jede Maria sei Mutter von Knaben geworden, die hl. Maria, Tochter des Joachim, von Jesus, Maria, die Tochter des Kleophas, die Mutter des Joseph Justus und dreier Knaben, die später als Apostel Jesus folgten, Maria, die Tochter des Salome, die Mutter des Brüderpaares, das später im Kreis der Apostel zusammen mit Petrus eine bevorzugte Rolle spielen sollte. Die Frage der Abstammung ist in der Kirchengeschichte stets mit der Frage der unbefleckten Empfängnis verknüpft gewesen. Beide Fragen, die des Trinubiums der hl. Anna und die unbefleckte Empfängnis Mariens, waren theologisch heftig umstritten, der Streit führte zur Einführung des Festes der Unbefleckten Empfängnis Mariens. Die Annenfrömmigkeit erreichte Ende des 15. Jahrhunderts ihren Höhepunkt in den Hymnen des Benediktiners Johannes Trithemius. Der Annenkult hielt in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts unvermindert an und wurde besonders in eigenen Annenbruderschaften gepflegt, bis er dann auf dem Tridentinum (1545–1563) verworfen wurde.

Textkritischer Apparat

  1. Textbeginn durch florales Element mit anschließendem Doppelpunkt gekennzeichnet.
  2. Vom a ist nur der obere Teil sichtbar, das Ende des Wortes ist hinter der Kopfbedeckung der hl. Anna zu denken.
  3. Kürzungszeichen fehlt.
  4. Richtig: uwer.
  5. Richtig: barmherticheet.
  6. Dahinter drei im Dreieck angeordnete Quadrangel.
  7. Das Wortende ist durch den Stoff der Haube verdeckt.
  8. Tironisches et, auf einen kurzen Schaft reduziert, danach ein z mit schräg gestellten Balken.
  9. Richtig: Ontferme.
  10. Richtig: want.
  11. Danach ein kurzer Schaft als Zeilenfüller.
  12. Wechsel auf die rechte Buchseite.
  13. Richtig: ghebeenten.
  14. Richtig: gestort.
  15. Danach drei kurze Schäfte als Zeilenfüller.
  16. Zwei V ineinander verschränkt.
  17. Zu lesen als Beginn des Namen Jesu?

Anmerkungen

  1. Pels II, Deliciae (1734), S. 82 mit Nachtrag; Beissel, Bauführung III (1889), S. 132f.
  2. Clemen, KDM Kreis Moers (1892), S. 110.
  3. Nach Beissel, Bauführung III (1889), S. 132 ursprünglich an Pfeiler 18.
  4. Vgl. Hilger u. a., Dom zu Xanten (2007), S. 92–94. Die einheitliche Bildkomposition der Außenflügel wird, wie auch die Schriftverteilung am unteren Rand, erst ersichtlich, wenn die Flügel zur Fastenzeit zugeklappt werden.
  5. Joseph und Joachim sind die einzigen biblischen Gestalten auf den Altarflügeln, die nicht durch Beischriften identifiziert sind.
  6. Vgl. Brandt, St. Victors-Dom (1991), Bll. 24 und 25, S. 76f.; zur Komposition des Martinusaltars siehe Hilger u. a., Dom zu Xanten (2007), S. 92–94 und Karrenbrock/Kempkens, St. Viktor (2002), S. 58. Bei den Inschriften handelt es sich um ein weiteres Psalmenzitat (Ps 23, 4–6) sowie um ein Gebet. Bei den Innenseiten schließt der Text der rechten Tafel an den der linken Tafel an. Bei den Außenseiten ist der Text zeilenweise über beide Tafeln geführt; diese Verteilung der Schrift setzt das Schließen der Flügel zur Fastenzeit voraus.
  7. Angabe zu den Restaurierungen nach Tschira van Oyen, Jan Baegert (1972), S. 114.
  8. Ps 51 (50),3–4.
  9. Ps 6,2–4.
  10. Gemeint sind die sieben Bußpsalmen, nach der Vulgata Ps 6, 31, 37, 50, 101, 129, 142.
  11. Für die Übersetzung der beiden Texte aus dem Niederländischen sei Dr. Bert Thissen (Stadtarchiv Kleve) herzlich gedankt.
  12. Drei Fischgräten auf rotem Grund.
  13. Kastner, Urkunden II (2006), Nr. 2011 von 1471 Apr. 27. Vikar des Annenaltars war seit 1522 ein Everhardus Grait (Kastner, Urkunden III [2007], Nr. 2639 von 1522 Jan. 9). Pels spricht deshalb davon, dass „Henricus D’ Holt ... curavit reparare altare S. Annae …“ (Pels II, Deliciae [1734], p. 203); zuvor ebd., p. 82, allerdings: „hic Henricus Graedt dedit etiam altare 1524.“ Vgl. Successio, fol. 57v–58r.
  14. Dazu und zu älteren Zuordnungen Tschira van Oyen, Jan Baegert (1972), S. 113f.
  15. In Kastner, Urkunden III (2007), Nr. 2511a von 1510 [Aug.] 15 ist er als Kanoniker ebenso bezeugt wie zuletzt ebd., Nr. 2689 von 1526 Jan. 19, wo sein Tod vorausgesetzt ist.
  16. Classen, Archidiakonat (1938), S. 132 mit Berufung auf das Kapitelsprotokoll; Pels II, Deliciae (1734), p. 203 hat statt „Jan.“ „Jun.“ gelesen. Die Successio, fol. 57v–58r, folgt ihm im Sterbevermerk der 29. Präbende, korrigiert aber auf der folgenden Seite und fügt hinzu: „hora 8 ante miridiem“. Heinrich van Graet wird auf der Rückseite von Kastner, Urkunden III (2007), Nr. 2368 von 1496 März 1 für die Jahre 1514 und 1515 als Kellner und Bursar bezeugt.
  17. Kastner, Urkunden III (2007), Nr. 2669 von 1524 Juli 13.
  18. Ebd., Nr. 2689.
  19. Psalters der Moderne Devotie (1978). Für die folgenden Informationen zur niederländischen Bibelübersetzung sei Dr. Bert Thissen, Stadtarchiv Kleve, sehr herzlich gedankt. Zu Geert Grote siehe G. Epiney-Burgard, Gerard Grote (1340–1384) et les débuts de la devotion moderne, Wiesbaden 1970.
  20. Bereits im 13. oder 14. Jh. entstand in Flandern oder Brabant eine Übersetzung, die in einer Handschrift in Leningrad überliefert ist (Het Psalter van Leningrad [1973]); eine weitere volkssprachliche Überlieferung ist Bestandteil einer um 1360 angefertigten vollständigen Bibelübersetzung (Het Oude Testament [1977]).
  21. Briefliche Mitteilung von Dr. Bert Thissen, Stadtarchiv Kleve, an Dr. Reiner Woitaschek, Xanten, vom 1.3.2009.
  22. Legenda aurea CXXVII (ed. Maggioni, 1998), S. 901f.

Nachweise

  1. Tschira van Oyen, Jan Baegert (1972), S. 112–114 (A, B, I).
  2. Hilger u. a., Dom zu Xanten (2007), S. 92, 94 (Abb.).

Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 98 (Paul Ley u. Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0009806.