Inschriftenkatalog: Stadt Xanten
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 92: Stadt Xanten (2017)
Nr. 3† St. Viktor, Hochchor 965–969, 1128–1134
Beschreibung
Sog. Goldene Tafel. Goldblech über einem Holzkern. Stiftung des Kölner Erzbischofs Brun I. († 965), vollendet durch seinen Nachfolger, Erzbischof Folkmar (965–969). Zuerst als Altarantependium verwendet, später als Retabel auf den Hochaltar gestellt. 1795 von den letzten Kanonikern im Rahmen von Kontributionszahlungen an französische Revolutionstruppen verkauft und wahrscheinlich von diesen eingeschmolzen, jedenfalls seitdem verschollen.1) Durch eine Zeichnung bei Pels2) ist die Goldene Tafel in ihrer Struktur und Gliederung bekannt. Die querrechteckige Tafel war mit erhaben getriebenem Relief und Inschriften verziert. Innerhalb eines Schmuckrahmens mit Akanthusranken eine umlaufende Schriftleiste, an deren oberer Langseite, vermutlich in Email gearbeitet, die Stifterinschrift A in weißen Lettern auf blauem Grund.3) Auf derselben Rahmenleiste wurde, an der linken Schmalseite beginnend, die untere Langseite entlang laufend und an der rechten Schmalseite endend, zwischen 1128 und 1134 in schwarzen Lettern auf Goldgrund eine Widmung mit Restaurierungsvermerk angebracht (B).4) Die Fläche innerhalb des Rahmens war vertikal in drei Abschnitte unterteilt. Im Zentrum des mittleren Abschnitts die Majestas Domini in der Mandorla. Im Buch, das der thronende Christus in der Hand hielt, die Bibelparaphrase C,5) am Rand der edelsteinbesetzten Mandorla umlaufend eine exegetische Bildbeischrift (D). In den Eckzwickeln vermutlich die vier Evangelisten oder die Evangelistensymbole mit Namensbeischriften und zugeordneten Zitaten, von links oben gegen den Uhrzeigersinn gelesen: Matthäus (E–F), Markus (G–H), Lukas (I–J), Johannes (K–L). Der Bereich links und rechts dieser zentralen Darstellung war durch einen horizontal verlaufenden Ornamentstreifen und schmale, vertikale Stege in insgesamt zwölf Felder eingeteilt, die wohl Standfiguren von alttestamentlichen Propheten zeigten. Diese waren durch Namensbeischriften identifiziert, zehn von ihnen waren zudem Bibelzitate (in Schriftbändern?) zugeordnet, bei zwei Propheten (David und Aaron) verzeichnet Pels kein Zitat.6) Offensichtlich waren die Felder der oberen Reihe den Feldern darunter jeweils durch einen verbindenden theologischen Gedanken zugeordnet,7) was bei der folgenden Aufzählung berücksichtigt wird. Von links nach rechts sind dargestellt Mose (oben, M–N), darunter König David (O); oben Aaron (P), in der unteren Reihe Jona (Q–R); oben Johannes der Täufer (S–T), unten Daniel (U–V). Auf der rechten Seite oben Ezechiel (W–X), unten Samuel (Y–Z); oben Micha (AA–BB), darunter Jesaja (CC–DD); oben Jeremia (EE–FF), unten Amos (GG–HH). Pels hat den Zitaten Bibelstellenangaben hinzugefügt, die aber sicher nicht als Inschrift ausgeführt waren, da die Kapitel- und Verseinteilung der Bibel erst aus späterer Zeit stammt.8) Die Inschriften A, B und D sind nicht nur bei Pels, sondern bereits im ältesten Xantener Totenbuch in einem Nachtrag von einer Hand des 15. Jahrhunderts überliefert.9)
Inschriften nach der Schemazeichnung bei Pels.
- A
Ad incepta d(omi)ni Brunonis divae memoriae et illustris Folcmarus archiepiscopus sancto Victori haec donaa) perornavitb)
- B
Sit pater hoc gratum tibi Victor opus renovatumQuod sicc) praepositus consummavitd) GodefridusUte) lapis aurum forma modus locus amplificatusf)Singula commendetg) Deus auctor et ipse repenseth)
- C
Accingite lumbos vestros super ubera vestra10)
- D
+ Res et imago duas fert ista notatque figuras Effigiatus homo Deus est signatus in auroi)
- E
Matheus evangelis(ta)
- F
Luceat lux vestra11)
- G
Marcus evangelista
- H
Cauete a fermento scribarum et phariseorum12)
- I
Lucas
- J
Quae vultisj) ut vobisk) faciant homines et vos facite illis13)
- K
Ioannes evangelista
- L
Qui facit veritatem venit ad lucem14)
- M
Moises
- N
Sanctificamini dominol) 15)
- O
David rex
- P
Aaron
- Q
Ionas
- R
In voce laudis im(m)olabo tibi16)
- S
Joh(annes) baptis(ta)
- T
Parate viam domini17)
- U
Daniel
- V
Dominum deum meu(m) adoro18)
- W
Ezechiel
- X
Convenite ad victimam19)
- Y
Samuel
- Z
Melior obedientia quam victima20)
- AA
Micheas
- BB
Exaudietm) me deus21)
- CC
Isaias
- DD
Ecce deus salvator meus22)
- EE
Ieremias
- FF
Bonas facite vias23)
- GG
Amos
- HH
Quaerite me et vivetis24)
Übersetzung:
(A) Dies Geschenk für den hl. Viktor, das Herr Brun seligen Andenkens begonnen hat, hat zudem der erlauchte Erzbischof Folkmar prächtig ausgestattet.
(B) Dieses erneuerte Werk, das Propst Gottfried so vollendet hat, sei dir, Vater Viktor, willkommen, auf dass Stein(besatz), Gold, Gestalt, Maß (und) die Erweiterung des Platzes, jedes Einzelne (davon es) empfehle und Gott selbst, der Schöpfer, (es [sc. opus]) vergelten möge.25)
(C) Gürtet eure Lenden über euren Brüsten.
(D) Das Material und das Bild, zweierlei Gestalten vermittelt und stellt dies dar: abgebildet ist ein Mensch, Gott ist durch das Gold symbolisiert.
(F) Euer Licht leuchte.
(H) Hütet euch vor dem Sauerteig der Schriftgelehrten und Pharisäer.
(I) Was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen.
(L) Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht.
(N) Heiligt euch für den Herrn.
(R) Mit der Stimme des Lobes will ich dir opfern.
(T) Bereitet den Weg des Herrn.
(V) Den Herrn, meinen Gott, bete ich an.
(X) Versammelt euch zum Opfer.
(Z) Gehorsam ist besser als Opfer.
(BB) Gott wird mich erhören.
(DD) Siehe, Gott ist mein Retter.
(FF) Wandelt auf guten Wegen.
(HH) Sucht mich und ihr werdet leben.
Versmaß: Hexameter mit zweisilbigem leoninischem Reim (B).26) Hexameter mit einsilbigem leoninischem Reim (D).
Textkritischer Apparat
- Sancto Victori haec dona] hec dona sancto Victori Totenbuch, Bader.
- Dahinter in der Skizze bei Pels eine geschwungene Linie zwischen zwei Punkten. Pels bietet den Text mehrfach mit unwesentlichen Varianten (Pels, p. 65, 75 und 395).
- sit Lieven.
- So überliefert im Totenbuch; Pels liest summavit, doch ist aus prosodischen Gründen consummavit vorzuziehen. Vielleicht hat Pels eine con-Kürzung in Form eines nach links offenen Bogens übersehen.
- et Totenbuch.
- amplificandus KDM, Kraus, Beissel, Braun, Lieven.
- Grammatisch richtig wäre commendent (so auch bei KDM, Kraus, Beissel, Braun, Lieven). Beide Quellen haben die Singularform, was dafür spricht, dass diese tatsächlich am Träger ausgeführt war oder ein Kürzungszeichen vergessen wurde.
- rependet Totenbuch, KDM, Kraus, Beissel, Braun; rependent Lieven. Der Text der Inschrift A ist bei Pels zweimal überliefert (p. 75 und 395). Danach in der Skizze bei Pels eine geschwungene Linie zwischen zwei Punkten.
- Es folgt bei Pels eine geschwungene Linie mit Punkt. Doppelt überliefert bei Pels, p. 75 und 395.
- vultus Kraus.
- Fehlt bei Kraus.
- in domini Kraus.
- exaudies Kraus.
Anmerkungen
- Wilkes, Schicksal (1942), S. 137–142.
- Pels II, Deliciae (1734), p. 395, abgedruckt u. a. bei Bader, Dom I (1978), S. 100.
- Pels II, Deliciae (1734), p. 75: „scriptum in albis literis in blavio“.
- Ebd.: „Versus in dextro Blavii nigris literis in auro scripti“.
- Pels in der oben erwähnten Skizze mit folgendem Begleittext: „ch(ris)tus [Befund: xtus mit geschwungener Linie über t, Anm. d. Bearb.] /sedens in throno / tenens librum in / quo scriptum est: ...“
- Pels verzeichnet in seiner Skizze weder die Evangelistensymbole noch die Standfiguren der großen Gestalten des Alten Testaments. Siehe jedoch die von Lieven (Goldene Altartafel [2008], S. 17ff.) aufgeführten Parallelen; zur Xantener Altartafel Clemen, KDM Kreis Moers (1892), S. 106f.
- Eine theologische Kommentierung der Goldenen Tafel ist derzeit ein Desiderat.
- A. Sand, Art. Kapiteleinteilung in der Bibel, in: LThK3, Bd. 5 (1996), Sp. 1215f.
- Oediger, Totenbuch (1958), S. 11.
- Nach Is 32,11f. Siehe dazu den Kommentar.
- Mt 5,16.
- Mc 8,15.
- Lc 6,31.
- Io 3,21.
- Nm 11,18.
- Ion 2,10.
- Lc 3,4.
- Dn 14,24.
- Ez 39,17.
- I Sm 15,22.
- Mi 7,7.
- Is 12,3.
- Ier 7,3.
- Am 5,4.
- In der überlieferten Fassung ist der letzte Vers allerdings grammatisch fehlerhaft. Singula commendet (anstelle des zu erwartenden commendent) erfordert ein Akkusativobjekt, das den Stifter meint, also etwa „eum“. Vielleicht aber steht auctor nicht für ‚Schöpfer‘, sondern für „auctorem“ im Sinne von ‚Stifter‘. Diese Lesart wäre prosodisch korrekt, weil die Endsilbe von auctorem und das nachfolgende et durch Verschleifung als eine lange Silbe gezählt würden.
- Im dritten Vers liegt der Binnenreim hier abweichend zu den übrigen Versen auf der Hephthemimeres.
- Das präpositionale Objekt zu plangite (super ubera) wird in eine adverbiale Bestimmung zu accingite umgewandelt.
- Siehe dazu die Einleitung, Kap. 3.
- Isidor von Sevilla, Sententiae II, 39,14 (ed. Cazier, CCSL 111 [1998], S. 173): „Hinc est quod per prophetam dicitur: Accingite lumbos uestros super ubera uestra, hoc est in corde libidines resecate, quae ad lumbos pertinent, nam cor super ubera est, non in lumbis.” Wortgleich bei Theodulf von Orléans, Fragmenta Sermonum aliquot (Migne, PL 105 [1831], Sp. 277).
- Smaragdus verwendet den Text mit der Einleitung „propheta nos admonet dicens“ in seinem Kommentar zur Benediktinerregel (cap. 4: „Quae sunt instrumenta bonorum operum“) im Abschnitt „Non adulterare“ (Smaragdus, Expositio in regulam sancti Benedicti, lib. 2 cap. IIII [ed. Spannagel/Engelbert, Siegburg 1974, S. 90]). Siehe auch ders., Diadema monachorum cap. 78 (Migne, PL 102 [1851], Sp. 673).
- Hrabanus Maurus, De vitiis et virtutibus et peccatorum satisfactione III, cap. 47 (Migne, PL 112 [1852], Sp. 1372).
- Eine biblische Vorlage für die Lesart der Inschrift lässt sich nicht ausmachen, die Vetus latina und die sog. Alkuinbibel bieten hier denselben Text wie die Vulgata.
- Vgl. Schiller, Ikonographie, Bd. 3 (1986), S. 233–249.
- Anknüpfend an 2 Cor 4,4: „Christi, qui est imago dei“; Col 1,15: „qui est imago dei invisibilis.“
- Siehe dazu H. L. Kessler, Image and Object: Christ’s Dual Nature and the Crisis of Early Medieval Art, in: The long Morning of Medieval Europe, hg. von J. R. Davis, Aldershot 2008, S. 290–319 (zur Xantener Goldenen Tafel S. 290–292).
- Favreau, L’inscription du Tympan (1975/1995), S. 13–20; ders., Controverses (2001), S. 129f.
- Oediger, Bistum Köln (1991), S. 100–105.
- Beissel, Bauführung I (1889), S. 41.
- Lieven, Goldene Altartafel (2008), S. 16–27.
- Oediger, Totenbuch (1958), S. 79, 83; dazu auch Lieven, Goldene Altartafel (2008), S. 21–23.
- Runde, Xanten (2003), S. 364.
- REK II (1985), Nr. 287; Classen, Archidiakonat (1928), S. 85; Oediger, Bistum Köln I (1991), S. 140 ff.
- „Sed nobilis vir dominus Godefridus de Kuecke, Xantensis ecclesie prepositus, predictum fecit altare prolongari, circa capsam auream hinc sanctorum martirum capita ponens in loculis suis auro depictis. Insuper et fecit supra tabulam auream atque super horum martirum capita suis in loculis composite quoddam receptaculum. Necnon et coaptari fecit ad tabulam capsam quoque partier et ad reliquiarum prefatos loculos duas ianuas interius et exterius depictas, quibus capsa, tabula, cetereque claudebantur sanctorum reliquie et operiebantur. Claves autem de capsa ac tabula solus ecclesie thesaurarius habebit in custodiam…“ (abgedruckt bei Oediger, Bau und Ausstattung [1975], S. 275).
- Braun, Altar, Bd. 2 (1924), S. 277–281.
- Diese Interpretation bringt bereits Runde ins Spiel (Xanten [2003], S. 365).
- Beissel, Bauführung I (1889), S. 65; Braun, Altar, Bd. 2 (1924), S. 95; Clemen, KDM Kreis Moers (1892), S. 107; Bader, Vermischtes (1964), S. 338; Runde, Xanten (2003), S. 365.
- Darauf weist auch Grote hin (Schatz von St. Viktor [1998], S. 26).
- Aimon de Fleury, Vita et passio sancti Abbonis 15 (ed. Bautier/Labory, Paris 2004, S. 106).
- Suger von Saint-Denis, De administratione III, 214ff. (ed. Speer/Binding, Darmstadt 2000, S. 340ff.).
- Braun, Altar, Bd. 2 (1924), S. 92f.
Nachweise
- Pels II, Deliciae (1734), p. 65 (A), 75 (A, B, D) und 395 (Skizze).
- Münster, Universitätsbibliothek, HS 101, Necrologium Xantense (nach 1044), Bl. 7r (Nachtrag 15. Jh.).
- HAStK, Best. 1039 (Farrag. Gelenianae), Bd. 1, fol. 59v.
- Kraus, Christl. Inschriften II (1894), S. 297f., Nr. 650.
- Beissel, Bauführung I (1889), S. 41f., 65 (A, B, D).
- Clemen, KDM Kreis Moers (1892), S. 106f. (A–D).
- Braun, Altar, Bd. 2 (1924), S. 95 (A, B, D).
- MGH Poetae V 1 (1937), S. 357, Nr. 8 (D).
- Wilkes, Schicksal (1942), S. 138 (= Zeichnung Pels).
- Oediger, Totenbuch (1958), S. 11 (A, B, D).
- Bader, Vermischtes (1964), S. 338 (A, B, D).
- Bader, Dom I (1978), S. 99f. (A, C, D) mit Abb. 33.
- Runde, Xanten (2003), S. 328, 365 (A, B, D).
- Lieven, Goldene Altartafel (2008), S. 17 (A, B).
- Kat. Stiftsmuseum Xanten (2010), Nr. I/29, Abb. S. 46.
Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 3† (Paul Ley u. Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0000308.
Kommentar
Der Wortlaut der Inschrift C lehnt sich an eine Mahnpredigt des Jesaja an sorglose reiche Frauen an, ihre Selbstsicherheit aufzugeben und sich angesichts der kommenden schlimmen Zeiten stattdessen mit Trauergewändern zu gürten („accingite lumbos vestros“). Der Prophet fährt fort: „super ubera plangite, super regione desiderabili, super vinea fertili“ – ‚Schlagt an die Brust und klagt um die prächtigen Felder, die fruchtbaren Reben‘ (Is 32,12). In der Pels’schen Überlieferung werden der Wortlaut, die grammatische Struktur27) und somit der Sinn des Satzes entscheidend verändert. Die Erklärung dafür wird man zuerst in einer fehlerhaften Abschrift durch Pels suchen, dessen Überlieferung nicht immer zuverlässig ist.28) Für die Lesart der Inschrift finden sich allerdings mehrere Belege bei den Kirchenvätern29), bei Smaragdus30) und Hrabanus Maurus31). Dort wird der Text jeweils als Jesaja-Zitat angeführt und in einen Zusammenhang mit mahnenden Ausführungen über unzüchtiges Verhalten gestellt.32) Die Verbindung des Textes mit einer Majestas-Domini-Darstellung ist ungewöhnlich, ein direkter inhaltlicher Bezug zur Heilsbotschaft, wie er üblicherweise an dieser Stelle hergestellt wird33), nicht erkennbar.
Die Umschrift um die Majestas-Darstellung (D) ist vor dem Hintergrund der Diskussion zu sehen, ob und wie die göttliche Natur Christi angemessen im Bild umgesetzt werden kann.34) Dieser Streit um die Darstellbarkeit des Göttlichen hat seit dem 8. Jahrhundert wiederholt Niederschlag in theoretischen Schriften gefunden35) und spiegelt sich auch in der epigraphischen Überlieferung wider. Robert Favreau weist auf vergleichbare Beischriften zu Majestas-Domini-Darstellungen am Tympanon der Kirche San Miguel d’Estella in Navarra und an einem Altar in St. Denis hin und führt weitere Beispiele an.36)
Der Kölner Erzbischof Brun war ein Bruder des Königs (und nachmaligen Kaisers) Ottos I. und dessen enger Vertrauter.37) Die Goldene Altartafel für St. Viktor ist eine von zahlreichen Stiftungen, die er für die Kirchen seines Bistums tätigte. Mehrere Kirchenbauten, deren Fertigstellung Brun nicht mehr erlebte, wurden von seinem Nachfolger Folkmar (965/66–969) ebenso zu Ende geführt wie die Stiftung der Altartafel für St. Viktor (und einer weiteren für St. Pantaleon in Köln). Während Beissel annimmt, Anlass der Stiftung sei der Sieg König Ottos I. über Herzog Heinrich von Lothringen in der Schlacht bei Birten 939 gewesen, den die Sieger dem hl. Viktor zuschrieben,38) interpretiert Lieven sie als Teil der Bemühungen um die Sicherung der erzbischöflichen Memoria.39) Tatsächlich sind im Xantener Totenbuch für Brun und für weitere Mitglieder der ottonischen Herrscherfamilie Memorien verzeichnet.40) Ob die großzügigen testamentarischen Legate Bruns zugunsten des Viktorstifts für die Goldene Tafel verwendet wurden, kann nur vermutet werden. Die Bedeutung, die großzügigen Stiftungen für das Seelenheil des Stifters zugesprochen wurde, kommt in der Stifter- und Renovierungsinschrift des 12. Jahrhunderts (B) zum Ausdruck. Der Auftraggeber Gottfried von Kuik war Propst in Xanten von Juli 1128 bis 1134.41) Er wurde 1131 zum Erzbischof von Köln gewählt, verzichtete aber auf Veranlassung König Lothars III. zugunsten Bruns II., eines Sohnes des Grafen Adolf von Berg und Altena.42)
Der 1420/21 verfassten Historia Xantensis zufolge ließ Propst Gottfried die Goldene Tafel auf den Altartisch stellen, darüber den Viktorschrein aufbauen, Kopfreliquiare der Märtyrer in Nischen seitlich davon anordnen und das Arrangement durch bemalte Türen verschließen.43) Eine solche oder ähnliche Umarbeitung der Goldenen Tafel ist denkbar, zumal seit dem 11. Jahrhundert Altarretabel verwendet wurden.44) Der Begriff locus in Inschrift B wäre dann in umfassenderem Sinne auf den ganzen Altar(bereich) zu beziehen.45) Tatsächlich folgt die Sekundärliteratur weitgehend einmütig der Schilderung der Historia Xantensis, wobei meistens unter den durch Gottfried veranlassten Änderungen die Erneuerung des seitlichen Rahmens und die Ergänzung um ein Fußstück angeführt werden.46) Der Verfasser der Historia Xantensis gibt aber offenbar den Zustand des 15. Jahrhunderts wieder47), der im Übrigen dem heutigen recht ähnlich ist, wenn auch die Goldene Tafel selbst nicht mehr Teil der Altarausstattung ist. Zeitgenössische Quellen zu den Änderungen und Erweiterungen des 12. Jahrhunderts liegen hingegen nicht vor. Die einzige hinreichend sicher überlieferte Veränderung ist die Anbringung des Renovierungsvermerks auf der unteren und den seitlichen Rahmenleisten. Bereits der Rahmen mit Rankenwerk, der die Tafel nach außen hin abschloss, mag zur ursprünglichen Ausstattung gehört haben. Nimmt man den Renovierungsvermerk wörtlich und bezieht ihn (nur) auf die Goldene Tafel, so liegt nahe, dass Gottfried sowohl den wertvollen Schmuck (lapis, aurum) erneuerte, als auch die Form und Gestalt der Tafel veränderte und sie vergrößerte (locus amplificatus). Denkbar ist, dass er zusätzliche Vorsatztafeln für die Seiten des Altares stiftete. Nachträgliche Stiftungen seitlicher Altarverkleidungen sind u.a. für Fleury (durch den hl. Abbo, † 1004)48) und St. Denis (durch Suger, 1140)49) bezeugt.50)