Inschriftenkatalog: Stadt Xanten

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 92: Stadt Xanten (2017)

Nr. 161 St. Viktor, Südturm 1557

Beschreibung

Volle-Stunden-Glocke, sog. Martha. In der unteren Gaube an der östlichen Außenseite des Südturmes unzugänglich aufgehängt. Gießer: Jan Tolhuis, Utrecht. Konstruktion: Oktavglocke. Gewicht: ca. 800 kg. Schlagton: E‘, F‘. 2016 von der Dombauhütte angefertigte Gesamtaufnahmen1) lassen eine gut ausgeprägte, qualitätvolle Zier erkennen. Die Krone ist auf jedem ihrer sechs Henkel mit drei Stegen verziert. Eine Rundstegkombination schmückt die Haube, die durch zwei weitere Rundstege von der Schulter abgesetzt ist. Die Inschrift, die einzeilig zwischen Rundstegen am Hals umläuft, wird von ornamentalen Reliefbändern im Renaissancestil gerahmt: oberhalb der Schrift ein Fries aus Blatt- und Blütenranken, unterbrochen von Medaillons mit Porträtköpfen im Profil, unterhalb ein Fries aus Beschlagwerk und Hängegirlanden. Der Text beginnt hinter einem Ankerkreuz und setzt sich aus einer Bibelparaphrase (A) und einer Meisterinschrift mit Datum in Form einer Glockenrede (B) zusammen. Zwei Reliefs des Christuskindes mit Kreuz und Weltkugel, das auf einem Hocker mit Kissen (?) sitzt und sich mit erhobenem Arm nach hinten wendet, schmücken die Flanke knapp unter dem Hängefries. Auf gleicher Höhe befindet sich unter dem letzten Wort der Meisterinschrift ein Wappenschild mit dem Stiftskreuz. Rundstegkombinationen auf dem Wolm und auf dem Schlagring vervollständigen die Zier.

Maße: H. 90 cm (ohne Krone); Dm. 109 cm; Bu. ca. 3,5 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

Dombauhütte Xanten [1/2]

  1. A

    + CONSV(M)MATIO · ITAQ(VE)a) · LEGIS · E(ST) · DILECTIO · ET · ID · QV(A)N(DO) · SCIAM(VS)b) · TEMPVS · Pc) · TEMPESTINV(M)d) · SIT · NOS · A · SOMNO · EXPERGESCI · RO . 132)

  2. B

    · IAN · TOLHVIS · ME · FECIT · 1557 ·

Übersetzung:

(A) Die Erfüllung des Gesetzes ist also die Liebe. Und dies (gilt umso mehr), als wir wissen, dass es für uns die rechte Zeit ist, vom Schlaf aufzuwachen (Römerbrief 13).

(B) Jan Tolhuis hat mich 1557 gemacht.

Wappen:
Stift St. Viktor

Kommentar

Die qualitätvolle Kapitalis zeigt ausgewogene Proportionen und Serifen an den Balken- und Schaftenden. Die Linksschrägen bei A und M, aber auch die rechten Schrägschäfte bei X und beim retrograden N sind verstärkt. M hat parallele Außenschäfte und einen bis auf die Grundlinie hinunter gezogenen Mittelteil. Die drei Balken des E sind gleich lang, die Cauda des Q ist weit nach links ausgezogen, die Cauda des R gerade. Die Worttrennung erfolgt durch Rosetten.

Die Bibelparaphrase A variiert einen Text aus dem Brief des Paulus an die Römer. Der erste Satz ist bei Paulus Abschluss einer unmittelbar vorausgehenden Mahnrede über das grundlegende Gebot der Liebe. Der zweite Satz leitet den Abschluss der gesamten, in den Kapiteln 12 und 13 erteilten Weisungen über das Leben der Gläubigen ein, indem Paulus den endzeitlichen Charakter des christlichen Lebens betont. Der Text lehnt sich an die Vorlage an und verbindet die beiden paulinischen Gedanken zu einem die Funktion der Stundenglocke andeutenden paränetischen Weckruf.

Jan Tolhuis war ein Verwandter des Wilhelm Tolhuis, der 1527 die Barbara-Glocke für St. Viktor goss (Nr. 102). Er ist auch als Gießer einer Glocke in Büderich 1556 belegt.3) Nach Pels goss Jan Tolhuis im Jahr 1557 zwei Glocken für St. Viktor, eine „Campana mediae horae nunc, olim integrae horae“ (die „Martha“) und eine „Campana horarum“.4) Für beide Güsse liegen Rechnungen des Fabrikmeisters bzw. Quittungen des Gießers vor.5) Man muss davon ausgehen, dass die „Campana horarum“ verloren ist.

Textkritischer Apparat

  1. Kürzungszeichen in Form einer arabischen 3.
  2. Kürzung durch us-Haken.
  3. Bedeutung des P hinter TEMPVS unklar.
  4. Sic! Richtig: TEMPESTIVVM.

Anmerkungen

  1. Dem Leiter der Dombauhütte Johannes Schubert sei herzlich für die Überlassung seiner Aufnahmen gedankt.
  2. Nach Rm 13,10f.: „Plenitudo ergo legis est dilectio. Et hoc scientes tempus: quia hora est iam nos de somno surgere“. TEMPVS TEMPESTINVM tritt an die Stelle des paulinischen „hora“.
  3. Renard, Von alten rheinischen Glocken (1918), S. 78.
  4. Pels II, Deliciae (1734), p. 60a. Dem bei Pels genannten und auch auf der Martha angegebenen Gussjahr widerspricht eine Angabe bei Bader, derzufolge die Glocke „am Sonntag nach Pantaleon 1556“ (3. August) geweiht wurde (Bader, Dom I [1978], S. 287).
  5. Kastner, Urkunden IV (2013), Nr. 3174 von 1557 Sept. 6. Baders Vermutung, dass es sich bei der zweiten Tolhuis-Glocke um die Katharina-Glocke handelt, die bis heute erhalten ist und als Viertelstunden-Glocke dient (Nr. 23), trifft nicht zu.

Nachweise

  1. Cuno (1868), in: Heckes, Restaurations-Bau (1989), Glocken, S. 5f.
  2. Pels II, Deliciae (1734), p. 60a.
  3. Bader, Dom I (1978), S. 286f.
  4. Ley/Kernder, „Mit heiterer Stimme“ (2005), S. 43–45.

Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 161 (Paul Ley u. Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0016105.