Inschriftenkatalog: Stadt Xanten
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 92: Stadt Xanten (2017)
Nr. 112(†) St. Viktor, südliche Chorkapelle 1535
Beschreibung
Glasgemälde. Zwei zweibahnige Fenster mit Darstellungen aus der Leidensgeschichte Jesu Christi und Propheten (sog. Passionsfenster).1) Bis 1897 waren die Gemälde noch über drei Obergadenfenster im Chorpolygon verteilt, bis sie durch die Werkstatt W. Derix in Goch restauriert, neu sortiert und in der äußeren südlichen Chorkapelle (Joch C1) angebracht wurden.2) Die Restaurierung der stark beschädigten Glasmalereien umfasste weitgehende Ergänzungen, lediglich ein knappes Drittel des linken und etwas mehr als die Hälfte des rechten Fensters sind ursprünglich.3) Auf der gemalten Brüstung der Sockelzone erstreckt sich durchgehend über beide Fenster eine Stifterinschrift (A). In den vier unteren Feldern befinden sich halbfigurig dargestellte Propheten in lebhaftem Dialog,4) jeder Prophet ist von einem Spruchband mit einem Bibelzitat umgeben (B–H). Die Inschrift auf dem Spruchband des linken Propheten im zweiten Feld ist durch Restaurierung entstellt, ein sinnvoller Text kann nicht geboten werden. Die Reihenfolge der vier Felder wurde 18975) und nach 1945 erneut verändert, die heutige Anordnung in situ basiert auf einem Vorschlag des Bearbeiters.6) Die einzelnen Szenen aus dem Passionszyklus sind paarweise in drei Registern übereinander angeordnet. Im linken Fenster folgen von unten nach oben: Fußwaschung und Abendmahl, das Gebet am Ölberg und Gefangennahme, die Abführung Jesu zu Pilatus und die Vernehmung Jesu vor Pilatus. Auf dem rechten Fenster: Geißelung und Dornenkrönung, Ecce Homo und Kreuztragung, Grablegung und Auferstehung. In den (modern ergänzten) Maßwerken stehende Vierpässe mit (alttestamentlichen?) Figuren, die Spruchbänder mit Bibelstellenangaben halten.7) Die beiden Fenster wurden zwischen 2010 und 2015 durch Gerlinde Möhrle und Franziska Koch erneut restauriert.8)
Siehe Lageplan.
Maße: H. 690 cm; B. 150 cm; Bu. 4–4,5 cm (A), 2,5 cm (B–H).
Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A), gotische Minuskel mit Versalien (B–H).
- A
WOLFG(ANGVS)a) · A · DVVEN // [.] CLENb) [.]ANE · PREPOS[I]TESc) // PORTARIVS · ET · CANON(ICVS) // XANTEN(SIS) D(ONO)a) · D(EDIT)a) · 1535
- B
Ecced) · virgoe) // concipiet · et · parie[t] // filium · et // vocabit · nome(n)a) · ei(us) / Emanuell / Esa(ias)a) · 79)
- C
Creauit · d(omi)n(u)s · nouu(m) // sup(er) · terra(m) · / femina / circu(m)dabit / v[.]rumf) · hieremie 3110)
- D
Dabit · [p]ercutientig) / s[e]h) · maxillam · satu/rabitur · / opprobr[i]isi)11) / Tren(i)a) 3e)12)
- E
Letabitur · virgo // in · choro · iuuenes [e]th) · senes / · simul · hier(emie)a) 3113)
- F
Sterilis · pep(er)it · plurimo[s]h) // et que · multos / · habebat · / fi[li]osh) · infirma[t]ah) · est · Reg(um)a) · 214)
- G
Paruul(us) · nat(us) · est · nobis / et · filiuse) // datus · es[t] nobis // · Esa(iae)a) · 9 ·15)
- H
Ex · te · / bethleem · mihi · egredietur · quis · sit // [domina]torj) [in · is]raellh) · Mich(a)a) · 516)
Übersetzung:
(A) Wolfgang van Duven …, Kanoniker und Portar in Xanten, hat (diese Fenster) 1535 gestiftet.17)
(B) Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Emanuel
geben.
(C) Etwas Neues hat der Herr auf der Erde geschaffen: Die Frau wird den Mann umgeben.
(D) Er wird seine Wange dem bieten, der ihn schlägt, und er wird sich sättigen an Beschimpfungen.
(E) Dann freut sich das Mädchen beim Reigen, Junge und Alte (freuen sich) zugleich.
(F) Die Unfruchtbare hat überaus viele (Söhne) geboren, und die, die viele Söhne hatte, welkte dahin.
(G) Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt.
(H) Aus dir, Bethlehem, wird mir hervorgehen, der Israels Herrscher sein wird.
Textkritischer Apparat
- Ohne Kürzungszeichen.
- Über dem N ein nach unten ausgebuchteter Querstrich. Die Auflösung zu CL(IV)EN(SIS) ist nicht gesichert.
- Sic! [.]ANE PREPOSITES Text wohl durch Restaurierung entstellt. Danach fünf Kreise als Zeilenfüller.
- Vor dem Wort fünf Kreise als Zeilenfüller.
- Danach fünf Kreise als Zeilenfüller.
- Auf den Anfangsbuchstaben folgen zwei Schäfte. Zu erwarten ist v[i]rum.
- Der Anfangsbuchstabe und der obere Rand mehrerer Buchstaben sind durch Bleiruten verdeckt.
- Buchstabe(n) durch Bleirute gestört.
- Erstes i durch Bleirute verdeckt. Hinter dem Wort fünf Kreise als Zeilenfüller.
- In der Lücke vor den letzten drei Buchstaben wurde, vermutlich bei der Restaurierung 1897, das Wort renovatur (?) neu ausgeführt, wobei auf das t drei Schäfte folgen, die als ur oder als m gedeutet werden können. Die letzten beiden Buchstaben des ursprünglichen Textes, der nach der Bibelstelle ergänzt werden kann, sind heute noch sichtbar.
Anmerkungen
- Vgl. zu den Fenstern Brinkmann, Passionsfenster (2013), S. 23–28.
- Oidtmann, Glasmalereien, Bd. 2 (1929), S. 375.
- Ebd. Zu den Restaurierungsarbeiten siehe auch die Auszüge aus den Rechnungsbüchern der Glasmalerei (Derix, Restaurierung [1964], S. 224f.).
- Eine auffallende Ausnahme bildet das zweite Feld, auf dem die beiden Propheten nicht in Dialoghaltung einander zugewandt sind, so dass der eine in den Rücken des anderen spricht.
- Vgl. Oidtmann, Glasmalereien, Bd. 2 (1929), S. 375–377.
- Clemen erwähnt 1892 lediglich die beiden letzten Segmente, deren Ikonographie er aufgrund des fragmentarischen Erhaltungszustandes missversteht. Im ersten Fenster des Chorpolygons von Norden aus erkennt er irrtümlich „Gestalten eines portarius und canonicus mit Spruchbändern“ (KDM Kreis Moers [1892], S. 123).
- Die Texte: Liber / regvm III 28. - Liber // sapien/tiae.
- Das linke Fenster wurde 2010 von Gerlinde Möhrle, das rechte 2014/15 unter Mitarbeit von Franziska Koch erneut restauriert.
- Is 7,14.
- Ier 31,22.
- 5 Punkte als Endzeichen.
- Threni/Lam 3,30.
- Ier 31,13.
- I Sm 2,5.
- Nach Is 9,6.
- Nach Mi 5,1.
- Kastner, Urkunden III (2007), Nr. 2897 von 1538 Okt. 1.
Nachweise
- Clemen, KDM Kreis Moers (1892), S. 123, Nr. 1 und 2 (A, fragmentarisch).
- Oidtmann, Glasmalereien, Bd. 2 (1929), S. 375–377 (mit Abb.).
Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 112(†) (Paul Ley u. Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0011204.
Kommentar
Die späte gotische Minuskel der Spruchbandinschriften ist mit ihren schmalen, gitterartigen Buchstaben, den gespaltenen Oberlängen und dem kastenförmigen, unten offenen a zeittypisch. Die Stifterinschrift weist einige Formen der frühhumanistischen Kapitalis auf: A mit gebrochenem Mittel- und kräftigem Deckbalken; zweibogiges E, dessen mittlere Bogenenden eingerollt sind (neben kapitalem E mit kurzen Balken); I mit Nodus; N mit sehr feinem Schrägbalken, der schräg von zwei feinen, parallelen Linien durchschnitten wird. Die senkrechte Cauda des G ist weit nach oben verlängert und knickt am oberen Ende rechtwinklig nach links ab. Schäfte und Bögen sind von parallelen Haarstrichen begleitet und wirken dadurch fast dreidimensional. Das obere Schaftende des L ist gespalten. Als Ziffern wurden die spitze 2 und 3, linksgewendete 5 und die lambdaförmige 7 verwendet. Die Worttrennung erfolgt durch zwei übereinander gesetzte, zuweilen auch drei im Dreieck oder fünf in Kreuzform angeordnete Kreise.
Die Stifterschrift A ist offenbar teilweise überarbeitet worden. Das gilt besonders für das zweite Feld des linken Fensters, das im oberen Bereich auch eine verderbte Inschrift auf einem Spruchband aufweist. Das kapitale statt des epsilonförmigen E, retrogrades N, R mit gerader statt gebogener Cauda, das spitzovale O und die statische Ausführung der Buchstaben unterscheiden sich von der sonst verwendeten Schriftart in auffälliger Weise. Auf diese Überarbeitung gehen vermutlich auch verderbte Textstellen und mögliche Fehlinterpretationen zurück. Ob statt der falschen Form PREPOSITES tatsächlich das grammatisch korrekte PREPOSITVS stand, ist fraglich, zumal der hier genannte Stifter Wolfgang van Duven niemals Propst war (siehe Nr. 148). Ebenso unklar bleibt die Deutung des gekürzten CLEN, dessen Auflösung zu CL(IV)EN(SIS) sachlich naheliegend, paläographisch allerdings sehr fraglich ist. Dieser den Wortlaut und die Paläographie der Inschrift betreffende Befund wird durch Beobachtungen zur Malerei gestützt: Die Farbigkeit des Fenstersegments weicht von der der anderen Scheiben ab; der Kopf des Propheten links unterscheidet sich stilistisch gänzlich von den übrigen, auch sind die rahmenden Pilaster hier anders ausgeführt als in den übrigen drei Segmenten, die vertieften, gelbfarbigen Felder sind durch vorgestellte Säulchen mit Blattornament ersetzt.
Zur Biografie des Wolfgang van Duven siehe seine Grabplatte im Kreuzgang (Nr. 148).