Inschriftenkatalog: Stadt Xanten
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 92: Stadt Xanten (2017)
Nr. 107 St. Viktor, nördliches Seitenschiff 1531, 1544
Beschreibung
Retabel des Matthiasaltars an Pfeiler 28 zwischen den beiden nördlichen Seitenschiffen. Schnitzarbeit (Altarschrein) und Malerei auf Holz (Flügel). Im Altarschrein stehen unter Baldachinarchitektur vollplastische Figuren des Apostels Matthias (Mitte), des Papstes Cornelius (links) und des Bischofs Servatius (rechts). Unterhalb des erhöht stehenden Apostels eine Verkündigungsgruppe; um den Stab des Engels windet sich ein Spruchband, auf das der englische Gruß gemalt ist (Bildinschrift A). In der hohlkehligen Rahmung Heiligen- und Apostelfiguren,1) im Gesprenge Christus Salvator. Alle Figuren sind original gefasst. Auf der Innenseite der Flügel zwei Szenen aus der Matthiaslegende: links der lehrende hl. Matthias; in den Büchern seiner Zuhörer sind einzelne Worte (darunter ein gekürztes Nomen sacrum, B) bzw. Wortverbindungen (C) erkennbar, ansonsten nur buchstabenähnliche Zeichen (Quasi-Schrift). Auf dem rechten Innenflügel das Martyrium des hl. Matthias durch Steinigung. In den Auszügen der Tod des Judas und der Tempel, in den er die Silberlinge warf.2) Auf den Außenseiten der Flügel vor einer weiten, von Gebäuderesten durchzogenen Landschaft links der Apostel Matthias mit Beil, rechts Petrus, der einen unbekannten Xantener Kanoniker als Stifter der Flügel empfiehlt. Die Apostel sind einander zugewandt, vor ihnen liegt auf einer Mauerbrüstung jeweils ein aufgeschlagenes Buch mit teilweise lesbarem (Bibel?)Text (D vor Matthias, E vor Petrus), unterbrochen durch Quasi-Schrift. In den Auszügen die hll. Cornelius und Servatius. Alle Inschriften gemalt. Die Kriegsschäden wurden bei der Restaurierung 1961 beseitigt.3)
Siehe Lageplan.
Maße: H. 335 cm; B. 241 cm (Schrein ohne Tabernakel); H. 270 cm; B. 107 cm (Flügel); Bu. 1 cm (A), 0,5–1,3 cm (B–E).
Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A), Kapitalis (B–E).
- A
· AVE · // GR//ACIA · / PLENA · DOMINVS // · · TECVM ·4)
- B
[– – –] IH(ESV)S [– – –]a)
- C
OMNES IN [– – –] RE[– – –]b)5)
- D
DIXIT D(OMI)N(V)S Oc) / MEO SEDE A D[EX]/TRIS MEIS D[– – –]6) / ANN DOM[…]d) / MCCCCCe) [– – –] // I E SVf) [– – –]g)
- E
IH(ESV)S [– – –] IOHANE[S – – – // – – –] HOMO [– – –]h)7)
Übersetzung:
(A) Sei gegrüßt, du bist voll der Gnade, der Herr ist mit dir.
(D) Es sprach der Herr zu meinem (Herrn): Setze dich zu meiner Rechten … im Jahre des Herrn 15[..] …
Textkritischer Apparat
- Siebenzeiliger Quasitext, der fast gänzlich aus hebraisierenden Zeichen besteht. Das mit einem ausgebuchteten Querstrich gekürzte Nomen sacrum steht in der ersten Zeile auf der rechten Seite.
- Zwei Buchseiten mit sechs bzw. sieben Zeilen Quasitext. Die ersten beiden Wörter füllen die erste Zeile, in der fünften Zeile ist RE zu erkennen.
- Richtig: DOMINO.
- Gemeint ANNO DOMINI?
- Danach L?
- Am Ende der Zeile ist vielleicht HI zu lesen, am Ende der vierten Zeile möglicherweise OES.
- Zwei Buchseiten mit neunzeiliger Schrift.
- Drei Wörter lateinischer Schrift in den Zeilen 1, 10 und 12 eines 14zeiligen Quasitextes in hebraisierender Schrift.
Anmerkungen
- Ursprünglich befanden sich in der Rahmung und an den Mittelsäulen insgesamt zehn Statuetten, von denen nur noch vier erhalten sind: ein hl. Bischof, Maria Magdalena, Jacobus und der hl. Rochus. Vgl. Beissel, Bauführung III (1889), S. 86.
- Mt 27, 3–10.
- Honl, Wiederherstellung (1964), S. 264. Das Altarretabel war stark beschädigt, die Leimverbindungen durch Feuchtigkeitseinwirkung gelöst. Im Zuge der Restaurierungsarbeiten wurden wesentliche Teile der Ornamentik sowie Altarfiguren erneuert bzw. ergänzt.
- Lc 1,28.
- Aufgrund der wenigen Buchstaben ist die Bestimmung der (biblischen?) Vorlage problematisch. Unter erheblichem Vorbehalt sei die Paraphrase von I Cor 15,25 vorgeschlagen, eine Stelle, die auf den Psalm 109 (110),1 auf dem linken Außenflügel referiert: „Oportet autem illum regnare donec ponat omnes inimicos sub pedibus eius.“ (‘Er muss aber herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße legt.‘)
- Ps 109 (110),1: „Dixit Dominus Domino meo: sede a dextris meis donec ...”.
- Vielleicht nach Io 3,27: „Respondit Iohannes et dixit: non potest homo accipere quidquam, nisi fuerit ei datum de coelo.“ (‘Da antwortete Johannes und sprach: Ein Mensch kann nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist.‘) Es ist die einzige Bibelstelle, in der die Wörter Iohannes und homo zusammen vorkommen. Ob es sich hier überhaupt um eine Bibelstelle handelt, ist allerdings nicht gesichert.
- Kastner, Urkunden III (2007), Nr. 2624 von 1520 Nov. 15.
- Ebd., Nr. 2624,1 von 1523 Juni 28 und Nr. 2624,2 von 1525 Feb. 15.
- Ebd., Nr. 2687 von 1525 Dez. 20.
- Beissel, Bauführung III (1889), S. 87.
- Ebd., S. 87f. In der entsprechenden Baurechnung wird lediglich ein Schlüssel für die „capsa des Mathiasaltares“ erwähnt, für Beissel offenbar ein ausreichendes Indiz für das Vorhandensein von Altarflügeln, da die Flügel der zeitgleichen Altäre im Xantener Dom im zugeklappten Zustand verschließbar sind. So haben auch die Flügel des Matthiasaltars ein Schloss.
Nachweise
- Hilger u. a., Dom zu Xanten (2007), S. 98f. (Abb.).
Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 107 (Paul Ley u. Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0010701.
Kommentar
Die Inschrift A ist in einer frühhumanistischen Kapitalis ausgeführt, die zeittypische Buchstabenformen aufweist: A mit gebrochenem Mittel- und kräftigem Deckbalken, offenes D, epsilonförmiges E, M mit schrägen Außenschäften sowie Halbnodi an den Schäften des I und des N. Hinzu kommen keilförmige Schaftverbreiterungen und der Wechsel zwischen kräftigen Schatten- und feinen Haarstrichen. Als Worttrenner fungieren Quadrangeln mit oben und unten angesetzten Zierhäkchen. Alle übrigen Inschriften sind in Kapitalis ausgeführt. In D wird mehrfach seitenverkehrtes S verwendet, das Nomen sacrum (B) trägt einen ausgebuchteten Kürzungsstrich. Die Quasi-Schrift (B, C und E) empfindet hebräische Buchstaben nach. Aus ihr heben sich die vereinzelten in lateinischer Schrift ausgeführten Wörter ähnlich hervor wie Auszeichnungsschrift in Handschriften und Büchern aus dem Fließtext.
Die beiden Schwestern und Witwen Beilken van Schuyrkollick und Mechteld Ingelait aus der Marsstraße in Xanten stellten 1520 in ihrem gemeinsamen Testament die Mittel für einen neuen Altar „zu Ehren Gottes, der Gottesmutter und aller Heiligen“ bzw. eine Vikarie in der Stiftskirche bereit.8) Für das Jahr 1523 wird eine weitere testamentarische Verfügung von Beilken genannt, gemäß der neben diversen Ausstattungsstücken auch ein Schrein und ein Bild (hier ist eine Skulptur gemeint) für den Altar angefertigt werden sollte.9) 1525 war der Altar zu Ehren der hll. Matthias, Cornelius und Servatius errichtet, aber noch nicht geweiht.10) Mit der Farbfassung der fertigen Skulpturen wurde 1531 Maler Dietrich Scherre von Duisburg beauftragt. Im selben Jahr wurde der Bildhauer Heinrich van Holt für die Verfertigung der Holzfiguren der Verkündigung, des Salvators und zwei kleinerer Heiligenfiguren bezahlt.11) Die gemalten Flügel dürften von dem auf dem rechten Außenflügel abgebildeten Kanoniker geschenkt worden sein, dessen Identität sich nicht klären lässt. Beissel nennt mit Verweis auf die Baurechnungen 1544 als Jahr ihrer Anfertigung.12)