Inschriftenkatalog: Stadt Xanten
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 92: Stadt Xanten (2017)
Nr. 82 St. Viktor, nördliches Seitenschiff 1499–1506
Beschreibung
Ehemaliges Retabel des Agathaaltars, an der Westwand des nördlichen Seitenschiffs aufgehängt.1) Öl auf Eichenholz, niederrheinisch. Mittelteil aus drei zusammengehörigen Tafeln, die durch festes (modernes) Rahmenwerk miteinander verbunden sind. Zwei seitliche Tafeln (Flügel?) sind ebenfalls in moderne Rahmen gefasst und heute nicht mehr mit dem Mittelteil verbunden. Angesichts ihrer Breite waren sie offenbar nicht zum Klappen gedacht und sind dementsprechend auf der Rückseite nicht bemalt. Der Mittelteil zeigt auf der breiteren Mitteltafel Christus am Kreuz (mit dreisprachigem Titulus A) zwischen Maria und Johannes dem Evangelisten, zu Füßen des Gekreuzigten Totenschädel und Gebeinknochen. Im Hintergrund der Xantener Dom in unfertigem Zustand, dazu das Klever Tor und die Bischofsburg in seitenvertauschter Anordnung. Die Hintergrundszenerie setzt sich auf den beiden Nebentafeln fort und ist dort durch kleine Alltagsszenen belebt. Im Vordergrund der Nebentafeln stehen links die hl. Agatha mit Folterzange in der Linken und einem Buch in der Rechten, rechts die hl. Elisabeth mit Buch und einem Geldstück, das sie einem Bettler reicht. Auf den Seitenflügeln auf einem Fliesenboden stehende Heilige vor roten im Wechsel mit grünen Vorhängen: links der hl. Joseph mit Jesuskind an der Hand, der Knabe auf einem Steckenpferd reitend, sowie der hl. Joachim mit Kerze und Beutel, rechts der hl. Hieronymus mit Kreuzstab und Buch, neben ihm sein Attribut, der Löwe, sowie der hl. Bartholomäus mit Fleischmesser. Stark restauriert mit neuem Rahmen. Die Namensbeischriften zu allen dargestellten Personen auf der unteren Rahmenleiste sind modern, dürften aber den älteren Zustand aufgreifen und werden deshalb in der Edition berücksichtigt (hier von links nach rechts aufgezeichnet, B-L). Inschriften gemalt.
Siehe Lageplan.
Maße: Mittelteil: H. 78 cm; B. 183 cm (Gesamtbreite), 70,5 cm (Mitteltafel), 48,5 cm (Außentafeln); Flügel: H. 78 cm; B. ca. 87 cm; Bu. 0,5 cm (A), 2,3 cm (B).
Schriftart(en): Kapitalis mit Elementen der frühhumanistischen Kapitalis (A, hebräischer und griechischer Text), gotische Minuskel (A, lateinischer Text, B–L).
- A
ANASARE · IHESV · MALKI J(EH)V(DIM) /SOTHER · BASILEOSa) · EXOMO · SO(N) /Jh(esu)s · nazare(nus)b) rex iudeorumc)2)
- B
s(anctus) . ioseph .
- C
ih(esu)s .
- D
s(anctus) . ioachim .
- E
s(ancta) . agatha .
- F
s(ancta) . maria .
- G
ih(esu)s .
- H
s(anctus) . ioannes .
- I
s(ancta) . elisabetha .
- K
s(anctus) bartholomaeus .
- L
s(anctus) . hijronimus .
Übersetzung:
(A) Heiland, König, ... (?) – Jesus von Nazareth, König der Juden.
Textkritischer Apparat
- basileos (Genitiv) statt basileus (Nominativ).
- Kürzung durch us-Haken, Kürzungszeichen für n fehlt.
- Haken als diakritische Zeichen über dem u.
Anmerkungen
- Inv.-Nr. nach Hölker (1925): C-1. Vgl. Schiffler, Inventar (1981), Bd. 1, Abt. IV: Ehemalige Altarretabel, Nr. 6.
- Nach Io 19,19.
- Bader, Vermischtes (1964), S. 362–365.
- „erat autem scriptum Iesus Nazarenus rex Iudaeorum … erat scriptum hebraice graece et latine“.
- Die Namensbeischriften B bis L sind im Zuge der Erneuerung des Rahmens (neu) ausgeführt worden und für die paläographische Auswertung irrelevant.
- Die folgenden Ausführungen zur sprachlichen Fassung des Kreuzestitulus wurden in enger Zusammenarbeit mit PD Dr. Michael Oberweis, Mainz, erarbeitet, dem für seine Unterstützung herzlich zu danken ist.
- Um 1490; Abb. im Kat. Genie ohne Namen (2001), S. 403.
- Adolf Jacoby, Heilige Längenmaße. Eine Untersuchung zur Geschichte der Amulette, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 29, (1929), S. 1–17 und 181–216 (hier S. 183).
- Um 1100–1178; s. Petrus Comestor, Historia scholastica (Migne PL 198 [1855], Sp. 1630 B): „Scripsit autem Pilatus titulum causae ejus, id est in titulo causam mortis ejus: ‚Iesus Nazarenus rex Iudaeorum‘, quasi dicat: Ideo crucifixus est, quia rex erat Iudaeorum. Et scripsit illum Hebraice, Graece et Latine, ut diversarum linguarum homines, qui convenerant ad diem festum, illum legere possent et intellegere. Utrum autem principium tituli scriptum fuerit tribus linguis incertum est, sed finis, hoc est ‚rex Iudaeorum‘, sic est scriptus, Hebraice: ‚Malcus Iudaeorum‘, Graece ‚Basileos exomosoleon‘ (sic!), Latine ‚Rex confidentium‘.“ Für die Frage, ob sich bei Petrus Comestor basileos exomosoleon bzw. rex confidentium auf die Juden oder/und die Christen bezieht, muss man darauf hinweisen, dass der Autor die griechische und die lateinische Version als Übersetzungen von malcus Iudaeorum versteht. Seine Unsicherheit über die dreifache Wiedergabe des „Iesus Nazarenus“ könnte darauf hinweisen, dass er das sother in der griechischen Version bereits vorgefunden hat. Das sother, das anders als Io 19,19 ein christliches Bekenntnis enthält, stützt wiederum die Annahme, dass die offene Formulierung ‚Gläubige‘ statt ‚Juden‘ von ihrem Verfasser auf die christlichen Gläubigen bezogen wurde.
Nachweise
- Hilger u.a., Dom zu Xanten (2007), Abb. S. 85.
Zitierhinweis:
DI 92, Stadt Xanten, Nr. 82 (Paul Ley u. Helga Giersiepen), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di092d009k0008203.
Kommentar
Die Datierung des Retabels wird durch die Weihe des Altars 1499 und den Bauzustand des im Hintergrund der Kreuzigung abgebildeten Domes bestimmt. Entscheidende Hinweise geben die Darstellung des 1474 errichteten Türmchens der Michaelskapelle und vor allem des 1506 entfernten spätgotischen Notdachs über dem Mittelschiff. Eine genauere Untersuchung zu diesen Bildelementen und zur Geschichte des Altars hat Bader durchgeführt.3)
Die dreifache Ausführung des Kreuztitulus in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache geht auf Johannes 19,19f.4) zurück. Beim Titulus des Xantener Agathaaltars wurden der hebräische und der griechische Text nicht in hebräischer bzw. griechischer Schrift ausgeführt, sondern in lateinischen Kapitalisbuchstaben, die einige Merkmale der frühhumanistischen Kapitalis aufweisen: das A mit gebrochenem Mittelbalken, M mit schrägen Außenschäften und kurzem Mittelteil, Minuskel-b und das schmale, unziale E. Der lateinische Text des Kreuztitulus ist in gotischer Minuskel aufgemalt.5)
Sowohl der hebräische als auch der griechische Text bereiten Verständnisprobleme.6) Danach müsste die korrekte hebräische Version etwa heißen: „jeschu‘a hanozri mælækh jehudim“. Der Text des Agathaaltars entspricht dem annähernd, auch wenn ANASARE nur entfernt an „hanozri“ erinnert und MALKI streng genommen ‚mein König‘ bedeutet. Aber die Worte des Kreuzestitels nach Johannes 19,19 sind, wenn auch grammatisch ungenau, vorhanden. Völlig anders steht es mit der griechischen Version: SOTHER (orthographisch richtig: SOTER) bedeutet so viel wie ‚Retter, Heiland‘ und ist ein christologischer Titel, der von den hellenistischen Königen auf Christus übertragen wurde. In Johannes 19,19 wird er nicht verwendet. ‚König‘ gehört zwar zur griechischen Wendung des johanneischen Kreuzestitels, müsste aber korrekt mit „basileus“ wiedergegeben werden; der Maler des Xantener Retabels dagegen verwendet den Genitiv BASILEOS. Die bei ihm folgende Wortkombination EXOMO . SO(N) ist dem Griechischen fremd.
Hilfreich ist der Verweis auf Parallelen. So verwendet der Meister des Bartholomäusaltars (1470 bis um 1510) auf einer Kreuzabnahme7) ebenfalls einen dreisprachigen Kreuztitulus, allerdings in der jeweils originalen Schrift. Das Griechische zeigt in der Transkription (sother // [basi]leos exomosoleon) weitgehende Übereinstimmung mit dem Xantener Maler, nur das letzte Wort fügt die kombinierten Wörter des Agathaaltares zusammen und erweitert sie um das Suffix ‚-leon‘. Exakt dieselbe Wortfolge findet sich in einem Trierer Kodex des 15. Jahrhunderts8), und ohne ‚sother‘ in der Historia Scholastica des Petrus Comestor.9) Bei Petrus Comestor entspricht das lateinische „confidentium“ = ‚der Gläubigen‘ dem falschen „exomosoleon“ (statt richtig „exomologeonton“); auch das Medium wäre möglich, das sich aber mit dem Befund „exomosoleon“ noch weniger verträgt als das Aktiv. Petrus Comestor kommt also durchaus als (wohl indirekte) Fehlerquelle für die griechische Version des Titulus in Frage, sofern dieser nicht einer unbekannten Quelle folgt. Jedenfalls war der Verfasser des Titulus des Griechischen kaum mächtig, sonst hätte er nicht den Genitiv ‚basileos‘ statt des Nominativs ‚basileus‘ verwendet, und er hätte statt des Nom. Sing. Part. eines falschen Wortes den Gen. Plur. Part. von ‚exomologein‘ gewählt. Korrekt müsste also die griechische Version auf dem Agathaaltar lauten: soter basileus exomologeonton = ‚Retter, König der Gläubigen‘, und diese Wendung hat mit dem Johannesevangelium nur noch das Wort ‚König‘ gemeinsam.